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Nimmt Deutschland ärmeren Ländern das Gas weg? So einfach ist es nicht


Moralisches Dilemma
Das bedeuten Deutschlands Gas-Käufe für ärmere Länder

  • Sonja Eichert
Von Lisa Becke und Sonja Eichert

06.05.2022Lesedauer: 5 Min.
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Ein LNG-Tanker trifft in Rotterdam ein (Archiv): "Es ist in mehrfacher Hinsicht ein furchtbares Dilemma."Vergrößern des Bildes
Ein LNG-Tanker trifft in Rotterdam ein (Archiv): "Es ist in mehrfacher Hinsicht ein furchtbares Dilemma." (Quelle: Imago Source/imago-images-bilder)

Die Bundesregierung müht sich, rasch unabhängiger von russischen Energien zu werden. Eine Strategie: der Kauf großer Mengen Flüssiggas. Dieses fehlt nun an anderer Stelle.

Markus Lanz konnte es am Mittwochabend kaum glauben: Vor ihm saß der Präsident der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, und erklärte: Wenn es der Bundesregierung gelinge, noch vor dem Winter große Mengen LNG, also Flüssiggas, nach Deutschland zu bringen, würde das der Versorgungssicherheit im nächsten Winter sehr helfen. Aber: "Die (Mengen) nehmen wir natürlich auf dem Weltmarkt jemand anderem weg, auch das ist ein Teil der Wahrheit." "'Germany first' also", fasste der erschütterte Moderator zusammen. Und auch Müller gestand ein: "Es ist in mehrfacher Hinsicht ein furchtbares Dilemma."

Lanz ließ das Thema nicht los. Am Donnerstag konfrontierte er in Gestalt von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil die Bundesregierung. Dem war das sichtlich unangenehm, zumal ihm nach eigener Aussage die Auswirkungen der deutschen LNG-Käufe nicht bewusst waren. Stattdessen betonte er die Wichtigkeit der Versorgungssicherheit in Deutschland. Doch wie brisant sind die Äußerungen von Klaus Müller und die Praktiken Deutschlands wirklich?

"Deutschland zahlt mehr als andere Länder"

ZDF-Talkmaster Lanz fragte noch am Mittwoch beim Bundesnetzagentur-Chef nach – wem nimmt Deutschland das Gas weg? Die Antwort Müllers: "Anderen Ländern, die eigentlich diese Tanker gebucht hatten, in Asien. Nicht nur den reichen Ländern dort, sondern wahrscheinlich auch denen, die einfach weniger zahlen können. Deutschland zahlt mehr als andere Länder." Konkretere Angaben wollte Müller nicht machen – Geschäftsgeheimnis, sagte er. Nur so viel: Ähnliche Verfahren gebe es auch auf anderen Rohstoffmärkten. Und: "Auch andere Länder machen das."

Das deckt sich mit den Zahlen vom Weltmarkt: Nach Zahlen der Denkfabrik Bruegel importierten die EU-Länder in der vergangenen Woche 3,8 Milliarden Kubikmeter Flüssiggas – so viel wie noch nie. "Wir sehen, dass die EU massiv LNG vom Weltmarkt abzieht", sagt Bruegel-Experte Georg Zachmann zu t-online. Davor, dass bei steigenden LNG-Preisen in Europa weniger Gaslieferungen in Entwicklungs- und Schwellenländern ankommen könnte, hatte die Denkfabrik bereits im Januar gewarnt.

Georg Zachmann ist seit 2009 bei der Brüsseler Denkfabrik Bruegel zum Thema Energie- und Klimapolitik tätig. Seine Schwerpunkte umfassen die Analyse von Energiemärkten und die Energiepolitik der EU. Er beriet bereits mehrfach die Bundesregierung in energiepolitischen Fragen.

"Das Gas geht dahin, wo der Preis am höchsten ist"

Das Bundeswirtschaftsministerium bestätigt auf Anfrage von t-online, eine zusätzliche Belieferung mit LNG sei eine mögliche Lösung, um die Versorgungssicherheit in Deutschland zu gewährleisten – trotz des geplanten Ausstiegs aus russischen Gasimporten und den Vorbereitungen auf einen möglichen Lieferstopp durch Putin. Ob Deutschland dadurch anderen Ländern Gas "wegnehme", darauf geht das Ministerium in seiner Antwort nicht explizit ein. "Die Ausgestaltung einzelner Lieferverträge liegt in der Verantwortung der Marktakteure", heißt es in der Antwort. Der deutsche Energiekonzern RWE möchte sich auf t-online-Anfrage nicht zu der Thematik äußern.

Welcher Abnehmer bekommt den Zuschlag? "Der Markt ist grundsätzlich so, dass das Gas dahin geht, wo der Preis am höchsten ist", sagt Experte Zachmann. Das sei üblich und durchaus mit bestehenden Verträgen vereinbar, erklärte Müller bei "Markus Lanz": Die Länder, die nun leer ausgehen, hätten mit ihren Gaslieferanten "Verträge abgeschlossen, die volatil sind, also wo kurzfristig entschieden werden kann, dass der Tanker umdreht".

Doch selbst wenn Verträge solche kurzfristigen Entscheidungen nicht erlauben, sei das für die Lieferanten nicht immer ein Grund gegen diese Praxis, so Zachmann: "Wenn die Vertragsstrafe geringer ist als der Gewinn, den das Unternehmen machen kann, nimmt es die Strafe in Kauf." Gegenüber den meisten Ländern gehe es um den Profit.

Ausbleibende Lieferungen sorgten für Energiekrise in Pakistan

Das schien am Donnerstag auch Markus Lanz realisiert zu haben. Als Beispiele für betroffene Länder zählte er Indien, Bangladesch oder Südkorea auf. Anfragen von t-online an die jeweiligen Ministerien in Indien und Bangladesch blieben bislang unbeantwortet. Bruegel-Experte Zachmann verweist auf vier LNG-Lieferungen, die von April bis Juni in Pakistan hätten eintreffen sollen. Doch Gunvor, ein in den Niederlanden und der Schweiz registrierter Konzern, der auch mit russischem Gas und Öl handelt, sagte die Lieferungen ab – und das nicht zum ersten Mal. Auch vom italienischen Energiekonzern Eni blieben Lieferungen aus.

Pakistan stürzten die ausbleibenden Lieferungen in eine Energiekrise – Ausgleichskäufe auf dem Weltmarkt waren für das Land kaum zu bezahlen, es fehlt Gas auch zur Stromerzeugung. Das Land zieht nun gegen beide Konzerne wegen Vertragsverletzungen vor Gericht. Doch Experte Zachmann befürchtet, dass dies kein Einzelfall bleiben könnte: "In Ländern, die mit den steigenden Preisen nicht mithalten können, gibt es dann möglicherweise häufiger Stromausfälle", sagt er.

Viele Länder werden daher wohl wieder vermehrt auf die Kohleverstromung setzen, prognostiziert der Energieexperte und nennt Südkorea, Japan oder China als Beispiele, die auch zu den weltweit größten LNG-Importeuren gehören. Andererseits laufe ein Land wie China aber weniger Gefahr, dass Lieferungen ausbleiben, merkt er an. "Da geht es den Unternehmen weniger um kurzfristige Gewinne als um langfristige strategische Beziehungen", so Zachmann.

Gründe für Lieferausfälle kaum nachzuvollziehen

Warum es im Fall von Pakistan oder in anderen Fällen zu Lieferausfällen kam oder kommt, lässt sich ohne Stellungnahmen der betreffenden Konzerne kaum feststellen – und erst recht nicht, warum welcher Tanker umgedreht hat, so der Experte. "Welches Schiff eigentlich wohin fahren sollte und wo es letztendlich hingeliefert hat, ist schwierig nachzuvollziehen", sagt Zachmann.

Eigentlich ergeben sich so optimale Bedingungen für Russland, das in Europa nicht abgenommene Gas anderweitig zu verkaufen. Doch dazu fehlt die Infrastruktur, so Zachmann: "Russland bekommt das Gas nicht raus aus dem Land." Die Exporte seien jahrelang Richtung Westen ausgerichtet gewesen, das Pipelinesystem erstreckt sich in Richtung der EU – andere Länder gehen somit leer aus.

Zudem weist er darauf hin, dass der steigende Bedarf für Flüssiggas nicht nur aus dem Antrieb der westlichen Regierungen, sich von russischen Lieferungen loszusagen, entstamme – die Gründe lägen auch in Russland selbst. "Mit dem Rückgang der Gaslieferungen aus Russland seit letztem Jahr hat die Bundesregierung gar nichts zu tun."

"Der Wasserstand im Pool sinkt"

Dass die Preise steigen, habe somit sowohl mit der verstärkten Nachfrage, aber auch mit dem insgesamt geringeren Angebot auf dem weltweiten Gasmarkt zu tun: "Europa kauft Gas vom Markt weg. Bildlich gesprochen sinkt damit der Wasserstand im Pool. Russland kann das aber nicht auffüllen, es fehlt also etwas", so der Experte.

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Das Aufkaufen von LNG sei dennoch richtig, sagt Zachmann. "Da gibt es keine sinnvolle Alternative zu." Bundesnetzagentur-Chef Müller sieht das genauso. "Aus einem moralischen Dilemma komme ich in dieser Situation nicht heraus." Dieses sei niemandem egal, dennoch: "Wichtig ist, erst mal alles dafür zu tun, dass dieses Gas nach Deutschland kommt", betonte er. Die Lösung sei vor allem eines: Gas einzusparen. "Aber dafür brauchen wir Zeit. Und diese Zeit erkaufen wir uns gerade", erklärte er.

Dass darunter andere Länder leiden, liege weniger an Deutschland als an den Mechanismen des Weltmarkts, meint Experte Zachmann. "Da ist der Bundesregierung und der EU gar kein Vorwurf zu machen."

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Georg Zachmann am 6.5.2022
  • Anfrage an das Wirtschaftsministerium am 6.5.2022
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