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Pfleger kritisiert Karl Lauterbach: "Ich schüttle mit dem Kopf, bis mir schlecht wird"


Pfleger kritisiert Lauterbach
"Da schüttle ich mit dem Kopf, bis mir schlecht wird"


Aktualisiert am 23.10.2022Lesedauer: 6 Min.
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Gesundheitsminister Lauterbach (Archiv): "Wir haben ja nicht zu wenig Pflegekräfte gemessen an der Bevölkerung, wir setzen sie sehr wenig effizient ein." (Quelle: IMAGO/Emmanuele Contini)

Eine neue Klinikreform soll Pflegekräfte entlasten, so Gesundheitsminister Lauterbach. Doch seine Aussagen sorgen in der Branche für Empörung.

Seit Jahren klagen Menschen in der Pflege über eine zu hohe Arbeitsbelastung: Darüber, dass sie sich nicht ordentlich um ihre Patienten kümmern könnten, weil sie für zu viele Menschen gleichzeitig verantwortlich seien. Dass sie teilweise nicht einmal auf Klo gehen könnten, weil die Schichten so stressig seien. Dass freie Tage fürs Ausschlafen draufgehen würden, weil auf die Nachtschicht am Tag zuvor eine Frühschicht folge.

Hört man nun dem Bundesgesundheitsminister zu, könnte man auf den Gedanken kommen, es sei eigentlich einfach, die Pflegekräfte zu entlasten. Im ZDF-"Morgenmagazin" sagte Karl Lauterbach (SPD) diese Woche: "Wir haben ja nicht zu wenig Pflegekräfte gemessen an der Bevölkerung, wir setzen sie sehr wenig effizient ein."

Die Äußerungen fielen im Zusammenhang mit einer Klinikreform, die Lauterbach in Angriff nehmen will: Die Krankenhäuser sollen dazu angeregt werden, Patienten tagsüber zu behandeln, anstatt sie nachts dortzubehalten. Weil dann Nachtdienste wegfallen, würden Pflegekräfte entlastet, so Lauterbachs Logik. Schon zuvor hatte der SPD-Minister seine Reform eine "Riesenentlastung" für Pflegepersonal genannt.

Problem gelöst?

Doch lässt sich das Problem wirklich so leicht lösen? Bei Pflegekräften und ihren Verbänden sorgen Lauterbachs Aussagen eher für Unverständnis und Kritik.

"Mich nervt, dass die Politik auch nach drei Jahren Pandemie immer noch versucht, sich das so einfach wie möglich zu machen", sagt Ricardo Lange zu t-online. Der Intensivpfleger hat in der Vergangenheit immer wieder Missstände im Gesundheitswesen öffentlich angeprangert. Die Maßnahme könne eventuell einzelne Kapazitäten schaffen, sei aber für die Pflege mitnichten der große Wurf. Letzterer sei längst überfällig.

Dass durch Lauterbachs Reform im großen Stil Nachtschichten in den Krankenhäusern wegfallen können, hält er für unrealistisch. "Es liegen schließlich kranke Menschen im Krankenhaus, die da liegen müssen und nicht nach Hause können – die müssen ja betreut werden."

In Deutschland gibt es viele stationäre Behandlungen

Der Gesundheitsminister weist hingegen darauf hin, dass beispielsweise viele Krebspatienten oft für vier oder fünf Tage zu speziellen Untersuchungen und Behandlungen in die Klinik kämen. "Aber eigentlich muss man in dieser Zeit gar nicht nachts im Krankenhaus bleiben", so der SPD-Politiker.

Diese Tagesbehandlungen seien in vielen anderen Ländern üblich, in Deutschland aber bislang so nicht möglich, weil die Kliniken sie nicht abrechnen könnten, argumentiert der Minister. In der Tat ist das so: Im europäischen Vergleich werden in Deutschland überdurchschnittlich viele vollstationäre Behandlungen durchgeführt.

Eine vom Gesundheitsministerium eingesetzte Expertenkommission geht deshalb davon aus, dass bis zu 25 Prozent aller Behandlungen, die heute stationär erbracht werden, ambulantisiert werden könnten. Einen Zwang zu diesen Tagesbehandlungen soll es allerdings nicht geben. Damit die Kliniken dies tatsächlich umsetzen, müssten die Anreize entsprechend ausgestaltet werden, so die Experten der Kommission in ihrer neuesten Empfehlung.

Pflegerat: Lauterbach schiebt das nur vor

Diese Veränderung der Strukturen bei den Krankenhäusern – hin zu mehr ambulanter Versorgung – sei absolut notwendig, sagt Irene Maier vom Deutschen Pflegerat. Das habe aber wenig mit einer Entlastung in der Pflege zu tun. Das gesamte Krankenhaus betrachtend werde das für Pflegekräfte höchstens einen minimalen Teil ausmachen, schätzt Maier, die lange Zeit als Pflegedirektorin an einer Uniklinik gearbeitet hat. Sie denkt, dass Lauterbach das Pflege-Argument lediglich vorschiebt.

Gleichzeitig sei es nicht so, dass – wenn an anderen Stellen tatsächlich Kapazität eingespart werden könne – dieses Personal einfach auf einer Intensiv- oder Kinderintensivstation eingesetzt werden könne, glaubt der Intensivpfleger Ricardo Lange. "Die Leute, die dort arbeiten, sind so spezialisiert, dass man dort nicht einfach jede ungeschulte Pflegekraft einsetzen kann."

"Da schüttle ich mit dem Kopf, bis mir schlecht wird"

Der Fachkräftemangel auf den Intensivstationen und auch in anderen Abteilungen sei jedoch drastisch. Dieser zeige sich etwa, wenn eine Klinik den Herzinfarktnotfall nicht aufnehmen könne und der Krankenwagen das nächste Krankenhaus ansteuern müsse. "Und das, während der Patient hochgradig in Lebensgefahr schwebt", so Lange.

Was denkt er über die Aussage des Gesundheitsministers, dass es eigentlich genügend Fachpersonal gebe? "Da schüttle ich mit dem Kopf, bis mir schlecht wird", entgegnet der Intensivpfleger. "Zu sagen, wir hätten genug Personal, ist der blanke Hohn", fügt der 41-Jährige hinzu. Lauterbach kann sich immerhin darauf berufen, dass es in der Tat in Deutschland vergleichsweise viele Pflegekräfte pro Einwohner gibt.

Doch der Deutsche Pflegerat widerspricht Lauterbach in dem Punkt ebenfalls deutlich. Auch wenn Betten abgebaut würden, reiche das nach Auffassung des Verbands nicht aus, um den Bedarf zu decken, sagt Vizepräsidentin Maier. Laut einer Hochrechnung des Deutschen Krankenhausinstituts werden bis 2030 mindestens 187.000 zusätzliche Pflegekräfte in Vollzeit benötigt.

Stimmung "unter dem Gefrierpunkt"

All das zeigt auch: Trotz der Erfahrungen aus der Corona-Pandemie fühlt sich die Branche nach wie vor von der Politik im Stich gelassen. Eine Befragung des Deutschen Pflegetages hat zuletzt ergeben, dass die Stimmung bei den Pflegenden "unter dem Gefrierpunkt" sei.

Den Befragten zufolge hat die Pandemie nicht dazu beigetragen, dass der Stellenwert der Pflege in der Politik zugenommen habe. Bei der diesjährigen Erhebung wurde gar ein neuer Negativrekord aufgestellt: 80 Prozent der Befragten bezeichnen den politischen Stellenwert der Pflege im Vergleich zu anderen Themen als niedrig. "Wir laufen seit Jahren am Limit und es hört keiner zu", sagt Intensivpfleger Lange.

Gesetzentwurf sorgt für Entsetzen

Ein weiterer Beleg für die Pflegemisere ist aus Sicht des Pflegerats ein neues Instrument, das eigentlich dafür sorgen soll, dass Pflegekräfte nicht zu viele Patienten gleichzeitig behandeln müssen. Für viele in der Branche war diese Pflegepersonalregelung "PPR2.0" tatsächlich ein großer Schritt.

Umso größer jetzt das Entsetzen: Denn in dem Gesetzentwurf, den Lauterbach nun vorgelegt hat, steht, dass diese Vorgaben "im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Finanzen" gemacht würden. Die Sorge vieler in der Pflege ist: Die Personalausstattung wird von der Gunst des Finanzministers Christian Lindner (FDP) abhängen und womöglich wenig damit zu tun haben, was wirklich nötig sei.

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Es brauche jetzt aber wirkliche Veränderungen, "einen großen Hammerschlag", fordert Intensivpfleger Lange. Konkrete Ideen dafür hat er bereits. Es hängt für ihn damit zusammen, wie man längerfristig mehr Menschen für den Beruf begeistern und so für eine bessere Situation in der Pflege sorgen kann.

Rente mit 60 im Gesundheitswesen?

Er nennt etwa eine Rente ab 60 Jahren für Menschen im Gesundheitswesen. "Durch den gestörten Rhythmus, den der Schichtdienst mit sich bringt, verlieren wir Lebensjahre, und auch das Risiko für diverse Erkrankungen ist deutlich erhöht", sagt Lange. "Diese Zeit müssen wir wieder bekommen." So könne man jungen Leuten vermitteln, dass das nicht nur ein "cooler Beruf" sei, sondern man auch konkrete Vorteile davon habe.

Krankenpflegerin Vanessa Schulte erwartet ebenfalls von der Politik, dringend dafür zu sorgen, dass aufgrund der Bedingungen nicht noch mehr Menschen den Beruf verlassen. "Akut sollte zugesehen werden, dass man die Pflegekräfte hält, die jetzt noch da sind", sagt sie t-online. Langfristig müsse es zudem gelingen, mehr Menschen für den Beruf zu begeistern.

Dafür will sich die 31-Jährige nicht nur auf die Politik verlassen. Sie hat ein Kinderbuch geschrieben, das mit Klischees über den Beruf aufräumen und schon kleinen Kindern ein anderes Bild von Pflege vermitteln soll – das eines anspruchsvollen Berufes. So will sie langfristig zu einer neuen Wertschätzung der Pflege in der Gesellschaft beitragen.

Zu dieser Anerkennung gehöre auch "ein anständiges Gehalt bei reduzierter Arbeitszeit, das unsere Expertise abbildet", sagt Heide Schneider t-online. Die stellvertretende Stationsleiterin ist Vorsitzende des "Bochumer Bundes", einer Pflegegewerkschaft, die sich vor zwei Jahren mit dem Anspruch gegründet hat, die Anliegen der Pflege besser als bislang zu vertreten.

Über 30 Grad auf der Intensivstation

Die Forderung nach einer besseren Bezahlung bringt auch Intensivpfleger Lange vor. Es dürfe nicht sein, dass Klinikkonzerne, die an Aktienunternehmen gebunden sind, dicke Profite einstreichen. "Das ist Geld, was den Patienten nützen und auch dazu dienen sollte, Personal zu bezahlen oder auch Kliniken zu sanieren und zu renovieren."

In den Hitzewellen diesen Sommer sei es auf seiner Intensivstation teilweise über 30 Grad warm gewesen, erzählt Lange. Denn: Es gebe dort keine Klimaanlage. "Das ist nicht nur eine Belastung für das Personal, das schwer körperlich arbeitet, sondern auch für Patienten, die sowieso schon geschwächt sind." Dafür solle doch Geld benutzt werden, und nicht für die Aktionäre.

"Da muss endlich mal jemand einen Riegel vorschieben", findet der Intensivpfleger.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
  • Gespräch mit Ricardo Lange am 20.10.2022
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