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Die brutale Bürgergeld-Blockade der Union: So könnte ein Kompromiss aussehen


Streit um Ampel-Plan
Und plötzlich sind alle auf der Zinne


Aktualisiert am 15.11.2022Lesedauer: 7 Min.
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Friedrich Merz: Der CDU-Chef hat die Blockade des Bürgergeldes zur Chefsache gemacht. (Quelle: Michael Kappeler/dpa)

Die Union ist gegen das von der Ampel geplante Bürgergeld – bisher. Über eine komplizierte Blockade, bei der es indirekt auch um die Kanzlerkandidatur der CDU gehen könnte.

Wenn man in diesen Tagen Gitta Connemann anruft, hört man ihre Wut sofort durch den Telefonhörer. Connemann, 58 Jahre alt, ist Chefin des CDU-Wirtschaftsflügels – und außer sich. Der Grund: das von der Ampel geplante Bürgergeld.

Connemann sagt: "Das sogenannte Bürgergeld treibt Bürgerinnen und Bürger auf die Zinne – von der Witwe mit kleiner Rente bis zum Handwerker." Diese hätten "kein Verständnis" dafür, dass sie "sparen und sich abrackern, um die steigenden Kosten zu decken". Während andere, die nicht bedürftig seien, "ihr Vermögen für Jahre nicht antasten" müssten. Fördern und Fordern, das alte Hartz-IV-Mantra, müsse bleiben, findet Connemann: "Dazu gehören Sanktionen von Anfang an."

Ihre Aussage lässt sich in etwa so zusammenfassen: Die Ampel plane, Geld mit der Gießkanne ohne Bedingungen an Arbeitslose zu verteilen – und das sei ein schwerer Fehler.

Die Sozialdemokraten drängeln, die Union bremst

In der Koalition sieht man das naturgemäß ganz anders. Dort sind sie überzeugt: Das Bürgergeld ist die richtige Reform zum richtigen Zeitpunkt. Im Kern sieht die Neuerung unter anderem vor: Der monatliche Regelsatz für Langzeitarbeitslose steigt von 449 auf 502 Euro, das Vermögen der Bezieher wird erst nach zwei Jahren näher betrachtet und die Sanktionen als Bestrafung für mangelnde Kooperation mit dem Jobcenter werden stark zurückgefahren. Besonders das Stutzen der Sanktionen stört die Konservativen erheblich.

Der Streit um das Bürgergeld trifft auf eine komplizierte parteipolitische Gemengelage. Für die SPD geht es auch darum, ihr Hartz-IV-Trauma hinter sich zu lassen. Deswegen – und weil viele großen Reformbedarf sehen – drängeln die Sozialdemokraten. Für die Union dagegen steht das Prinzip des Sozialstaats infrage, und sie wollen in der Debatte ihr Profil schärfen. Deswegen bremsen die Christdemokraten.

Koalition und Opposition verkanten sich in dem Streit. Am gestrigen Dienstag liefen mittags die ersten Eilmeldungen über die Nachrichtenticker: Die CDU-Ministerpräsidenten blockieren das geplante Gesetz im Bundesrat. Deshalb wird jetzt der Vermittlungsausschuss zwischen der Länderkammer und dem Bundestag eingeschaltet. Erst langsam zeigen sich dabei mögliche Verhandlungsspielräume. Sicher ist: Es steht politisch ein harter Kampf bevor – bei dem die Union sich nun genau überlegen dürfte, zu welchem Preis sie einlenkt.

Premiere für den Vermittlungsausschuss

Allein die anstehenden Auseinandersetzungen im Vermittlungsausschuss könnten intensiv werden. Die Runde setzt sich aus insgesamt 16 Vertreterinnen und Vertretern aus dem Bundestag (nach Fraktionsstärke) und ebenso vielen aus den Ländern zusammen. In dieser Legislatur hat der Ausschuss noch kein einziges Mal getagt.

Nächste Woche Mittwoch soll er nun zusammenkommen, um eine der größten Sozialstaatsreformen seit der Einführung von Hartz IV noch zu retten. Nach Informationen von t-online soll Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) den Vorsitz für die Länder übernehmen; auf Seiten der Union und für den Bundestag ist der CDU-Abgeordnete Hendrik Hoppenstedt als Vorsitzender eingeplant.

Doch schon im Vorfeld wird eine informelle Arbeitsgemeinschaft mit Vertretern von Bund und Ländern unter Leitung von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) an einem Einigungsvorschlag arbeiten.

Wo geht's hier zum Kompromiss?

Doch wie könnte ein solcher Kompromiss aussehen? Interessanterweise führen Unionsvertreter ihren ursprünglichen Vorwurf, Arbeit lohne sich mit dem Bürgergeld nicht mehr, kaum noch an. Das könnte daran liegen, dass es seltsam anmutet, wenn CDU und CSU gleichzeitig selbst die Regelsätze schnell erhöhen möchten. Ein Widerspruch, den die Ampelfraktionen der Union derzeit genüsslich vorhalten.

Mehrere Kritikpunkte der Union hat die Ampel zudem schon in ihren Gesetzentwurf aufgenommen. So sollen zum Beispiel auch künftig in den ersten zwei Jahren Heizkosten und ein Umzug nur dann finanziert werden, wenn der Preis dafür angemessen ist.

Wortführer wie der CDU-Generalsekretär Mario Czaja betonen deshalb drei andere Punkte, wenn sie nach möglichen Kompromisslinien gefragt werden. Manche von ihnen sind leichter zu erfüllen als andere.

  • Recht einfach sollte ein Kompromiss beim sogenannten Schonvermögen zu erreichen sein. Wer Bürgergeld bezieht, soll künftig 24 Monate lang sein Vermögen von bis zu 60.000 Euro nicht antasten müssen. Für Partner und Kinder kommen jeweils 30.000 Euro hinzu. Und zwar unabhängig davon, wie lange jemand zuvor gearbeitet hat. Die Union stört besonders das: Es müsse bei demjenigen mehr Vermögen übrig bleiben, der länger etwas dafür getan habe. Als Kompromiss könnte das Schonvermögen also nach Arbeitsdauer gestaffelt werden, ohne dass der Sinn verloren geht: nämlich Menschen erst mal ihr Erspartes zu lassen. Experten aus der Praxis, aber auch viele Politiker, gestehen ohnehin ein, dass kaum jemand so viel Vermögen mitbringe, wenn er Bürgergeld beantrage. FDP-Politiker Johannes Vogel hatte im "Bericht aus Berlin" angekündigt, in dem Punkt gesprächsbereit zu sein.
  • Der Union ist es zudem wichtig, dass die Jobcenter genug Zeit für die Arbeitsvermittlung haben. Heißt: Sie brauchen Geld für Personal. Was die Jobcenter im Übrigen genauso sehen und die Ampelfraktionen auch. Die ursprünglichen Kürzungen aus dem Regierungsentwurf haben sie in der Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses vergangene Woche weitgehend wieder ausgeglichen. Jeweils 200 Millionen Euro zusätzlich gibt es etwa für "Eingliederung in Arbeit" und Verwaltungskosten der Grundsicherung. Das hat auch Arbeitsminister Hubertus Heil am Freitag im Bundesrat betont. Und er würde sich bestimmt auch nicht wehren, perspektivisch noch mehr Geld zu bekommen.
  • Am schwierigsten scheint ein Kompromiss bei der Forderung der Union zu sein, das Prinzip "Fördern und Fordern" beizubehalten. Denn im Kern geht es um eine große Frage: Vertrauen wir darauf, dass die Menschen arbeiten wollen – oder nicht? Die Ampelkoalition will das tun. Deshalb sieht sie eine sechsmonatige "Vertrauenszeit" vor, in der die Menschen zum Beispiel einen Termin beim Jobcenter verpassen dürfen, ohne gleich sanktioniert zu werden. Beim zweiten Verstoß drohen aber weiterhin Sanktionen, wie Ampelpolitiker betonen. Für einen Kompromiss wäre denkbar, Sanktionen auch beim ersten Verstoß wieder möglich zu machen. Oder die Politik verkürzt die "Vertrauenszeit" einfach. Vorstellbar wäre auch, die möglichen Sanktionen insgesamt wieder behutsam anzuschärfen. Grenzen setzt hier aber ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Es verbietet, den Regelsatz um mehr als 30 Prozent zu kürzen.

"Ein Treppenwitz der Geschichte"

Es wird derzeit energisch gestritten – auf allen Seiten. Sozialverbände und Politiker warnen vor einem Scheitern des Bürgergelds. "Die Union muss aufhören, einen Keil in die Gesellschaft zu treiben, und jetzt ihrer staatspolitischen Verantwortung gerecht werden", sagte Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider t-online: "Das Bürgergeld muss zum 1. Januar kommen." Die Betroffenen bräuchten das Geld, um mit den steigenden Preisen fertigzuwerden, sie "können nicht bis März oder April warten".

Die Zeit drängt: Wenn das Bürgergeld zum 1. Januar kommen soll, müsste es in der letzten Novemberwoche vom Bundestag und auf der nächsten regulären Sitzung des Bundesrates am 25. November beschlossen werden.

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Doch überstürzen will man bei der Union nichts. "Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass die Union die Regeln verteidigen muss, die der damalige Bundeskanzler Schröder mit der Agenda 2010 eingeführt hatte", sagt der Parlamentarische Geschäftsführer der Union im Bundestag, Thorsten Frei, t-online. Frei sitzt im Vermittlungsausschuss, der nun über ein Kompromissmodell beraten muss.

Das Bemühen, die Argumente der Union zu entkräften

Aus der SPD versucht mancher bereits, versöhnlichere Töne anzuschlagen. Die Ausrufung eines Vermittlungsausschusses sehe sie als "normalen politischen Entscheidungsprozess", sagt Katja Mast, Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD und wie Thorsten Frei Mitglied des Vermittlungsausschusses.

"Nachdem die Bürgergeld-Diskussionen in den zurückliegenden Wochen mit großer Vehemenz geführt wurden, bietet das geordnete Verfahren des Vermittlungsausschusses die Chance, die erhitzen Gemüter zu beruhigen und gute Kompromisse auszuloten", sagt Mast. Aber auch sie betont: "Mir ist wichtig, dass wir das Verfahren noch im November beenden und das Bürgergeld zum 1. Januar starten kann."

In der Ampel zählen sie gerade gern die Vorteile auf. Unter anderem für Auszubildende aus Hartz-IV-Familien. Bislang blieben von 800 Euro Ausbildungsvergütung faktisch etwa 240 Euro übrig. Reinhard Houben, wirtschaftspolitischer Sprecher der FDP, sagt t-online: "Mit dem neuen Bürgergeld wird dieser Betrag auf gut 600 Euro erhöht. Die Botschaft ist klar: Arbeit lohnt sich." Auch so sollen die Argumente der Union entkräftet werden.

Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, hält ein Scheitern der Reform für gefährlich. "Die Parteien dürfen ihren Machtkampf nicht auf dem Rücken der verletzlichsten Menschen der Gesellschaft austragen, daher sollte der Vermittlungsausschuss schnell eine Einigung finden, damit das Bürgergeld am 1. Januar 2023 starten kann", sagt der Ökonom zu t-online.

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Fratzscher hält eine Verschärfung der Sanktionen für falsch: "Diese haben sich in der Vergangenheit zu häufig als kontraproduktiv erwiesen."

Die Frage der Kanzlerkandidatur

Fakt ist: Für die SPD wäre ein Scheitern des Bürgergelds weit mehr als eine geplatzte Reform. Das Bürgergeld ist ihr Wahlkampfversprechen, das Herzensprojekt ihres Arbeitsministers und die brennende Hoffnung, ein für allemal Hartz IV und damit das vergiftete Erbe von Ex-Kanzler Gerhard Schröder hinter sich zu lassen.

Vor allem für die Union geht es in der Debatte darum, abzuwägen: Einerseits poltern prominente Parteivertreter dermaßen intensiv, dass CDU und CSU nicht ohne nennenswerten Kompromiss aus dem Vermittlungsausschuss kommen dürfen. Andererseits muss es eine Lösung geben, eine komplette Blockade wäre den Menschen kaum zu vermitteln.

In der Union wird bereits mit den Ministerpräsidenten gesprochen. Ein politisches Schwergewicht ist dabei Hendrik Wüst, der nordrhein-westfälische Landeschef, Nachfolger von Armin Laschet. Auch er sitzt im Vermittlungsausschuss. Wüst gilt, neben Friedrich Merz, als möglicher Anwärter für eine künftige Kanzlerkandidatur.

Und in der Union sieht es mancher so: Ob Merz, Wüst oder ein anderer Landeschef – wer zu viel nachgibt bei diesen Verhandlungen, beschädigt seine politische Karriere auf Jahre. Gerade jemand, der noch Kanzlerkandidat werden möchte, wird vieles unternehmen, um das zu vermeiden.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Sitzung des Bundesrats am 14. November 2022
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