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Ex-Bundestagspräsident Lammert | "Die AfD hat einen Wettbewerbsvorteil"


Ex-Bundestagspräsident Norbert Lammert
"Wir haben ein gewaltiges Problem"

InterviewVon Sara Sievert, Heike Vowinkel

25.12.2023Lesedauer: 8 Min.
Interview
Unsere Interview-Regel

Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.

Zum journalistischen Leitbild von t-online.
CDU-Politiker Norbert Lammert: Der Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung verfolgt die Bundespolitik noch immer intensiv.Vergrößern des Bildes
CDU-Politiker Norbert Lammert: Der Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung verfolgt die Bundespolitik noch immer intensiv. (Quelle: HC Plambeck)

Zwölf Jahre lang war Norbert Lammert Bundestagspräsident. Heute plädiert er als Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung für eine Anpassung der Schuldenbremse und erklärt, warum er gegen ein AfD-Verbot ist.

Es dämmert bereits, als Norbert Lammerts Sprecher in dessen Büro in der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin lädt, unweit der CDU-Parteizentrale. Lammert sitzt noch am Schreibtisch, den Stift in der Hand, einen Stapel Bücher neben sich. Er blickt hoch: "Ah, guten Abend", steht auf. Es kann losgehen.

Obwohl er nicht mehr in der täglichen Bundespolitik aktiv ist, verfolgt er diese noch immer intensiv: die Haushaltskrise ebenso wie die Diskussion um den Entwurf zum Grundsatzprogramm der CDU. Im Gespräch erklärt er, was er über den darin enthaltenen Satz "Muslime, die unsere Werte teilen, gehören zu Deutschland" denkt. Und er verrät, was er an der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel schätzt.

t-online: Herr Lammert, Sie haben in Ihrer Zeit im Bundestag auch schwierige Zeiten miterlebt, die Finanzkrise, die Flüchtlingskrise ... Schocken Sie die Krisen der Gegenwart noch?

Norbert Lammert: Die allerjüngsten Ereignisse, die sich am und nach dem 7. Oktober in Israel abgespielt haben, haben mich tatsächlich geschockt. Einen solchen Zivilisationsbruch wie den bestialischen Terrorangriff der Hamas hätte ich mir nicht vorstellen können. Insofern: Krise und Krise ist nicht dasselbe.

Angesichts dessen: Ist die Aufregung über die haushaltspolitische Krise in
Deutschland übertrieben?

Die innenpolitischen Herausforderungen haben durchaus ein ungewöhnliches Ausmaß erreicht und sind alles andere als normal. Aber einen Blick für Proportionen sollte man schon noch bewahren.

Wie gravierend ist dann das Urteil des Bundesverfassungsgerichts?

Es bedeutet eine Zäsur in der Haushaltspolitik: Denn es wirkt sich über den Wortlaut des beklagten Nachtragshaushalts hinaus auch auf andere "Sondervermögen" aus. Das macht auch schon der Zeitaufwand deutlich, den die Ampel brauchte, um mit den Konsequenzen dieses Urteils operativ zurande zu kommen.

(Quelle: HC Plambeck)

Zur Person

Norbert Lammert, 75, ist seit fast 60 Jahren CDU-Mitglied und war 37 Jahre lang Abgeordneter im Deutschen Bundestag. Dessen Präsident war er bis 2017, der bisher einzige, der das Amt über drei ganze Legislaturperioden hinweg ausübte. Seit 2018 ist er Vorsitzender der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung. Er ist seit mehr als 50 Jahren mit seiner Frau verheiratet und hat vier Kinder.

Friedrich Merz bezeichnet das Ergebnis, das dabei nun herausgekommen ist, als "übliche Trickserei". Hat er recht?

Die Besorgnis liegt jedenfalls nahe, schließlich behalten sich der Kanzler und der Finanzminister für den Haushalt 2024 vor, bei notwendigen zusätzlichen Ausgaben noch mal die Schuldenbremse auszusetzen.

Wäre das so schlimm? Sie selbst haben schließlich bei der Einführung der
Schuldenbremse 2009 als Einziger in der Union gegen sie gestimmt.

Das hatte einen anderen Grund. Sie wurde damals mit einem riesigen Paket von Verfassungsänderungen im Kontext einer Föderalismusreform eingeführt, die ich im Ganzen nicht gelungen fand. Denn sie führte einmal mehr dazu, dass Zuständigkeiten der Länder zugunsten des Bundes mit der Aussicht auf Finanzzuweisungen abgetreten wurden. Das sah ich nicht erst mit der damaligen Föderalismusreform kritisch.

SPD und Grüne halten eine Reform der Schuldenbremse für dringend notwendig. Können Sie dem etwas abgewinnen?

Dazu gibt es unterschiedliche Positionen sowohl innerhalb der Koalition wie der Opposition. Ich glaube, dass es auch im Lichte der jüngeren Erfahrung zweckmäßig ist, eine Schuldenaufnahme verfassungsrechtlich zu begrenzen. Es ist aber auch durchaus sinnvoll, über Anpassungen nachzudenken, also ob die Schuldenbremse unterschiedslos für investive wie für konsumtive Ausgaben gelten muss oder ob durch Notlagen begründete Ausgaben im gleichen Jahr und keinen Monat länger erfolgen müssen.

Das sieht der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz anders. Er sagt, unabhängig von der Art der Ausgaben: Es reiche, im Haushalt zu priorisieren.

Für die Entscheidung in Haushaltsfragen ist der Deutsche Bundestag zuständig. Das gilt auch für die Frage, ob und in welchem Umfang er für die vereinbarten Ausgaben Schulden aufnimmt.

Marode Brücken und Straßen, die Sanierung der Bahn, der Ausbau regenerativer Energien: Ist der Investitionsbedarf nicht auch enorm?

Doch, aber wir haben kein Einnahmeproblem. Die Steuereinnahmen des Bundes sind in diesem Jahr höher als in Vor-Corona-Zeiten. Man muss zudem berücksichtigen, dass durch die deutliche Anhebung des Zinsniveaus zusätzliche Schulden die öffentlichen Haushalte inzwischen ungewöhnlich hoch belasten. Im vergangenen Jahr lag die Zinsbelastung im Bundeshaushalt bei 4 Milliarden, in diesem Jahr schon bei 19 Milliarden und im nächsten Jahr wird sie bei 40 Milliarden liegen. Jeder, der fröhlich für eine großzügigere Schuldenaufnahme plädiert, muss die Frage beantworten: Ist eine so hohe Zinsbelastung für künftige Generationen vertretbar?

Die Ampel sagt, der Reformstau sei auch ein Ergebnis der Ära Merkel. Ist es das, was von ihrer Regierungszeit bleibt?

Das sehe ich nicht so. Vergleiche ich Angela Merkels Regierungszeit mit der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung in unseren europäischen Nachbarländern oder gar außerhalb Europas, fällt es mir schwer, ein Land zu benennen, in dem ich in diesen 16 Jahren lieber gelebt hätte.

Treffen Sie Frau Merkel gelegentlich noch?

Es liegt in der Natur der Sache, dass die Gelegenheiten seltener werden. Aber wir haben nach wie vor einen ungestörten persönlichen Kontakt. Wann immer der eine oder der andere ein Anliegen oder eine Nachfrage hat, wissen wir, wie wir uns auf schnellstem Wege problemlos erreichen.

Können Sie sich erklären, warum Frau Merkel offenbar nur noch so wenig mit Ihrer Partei zu tun haben will?

Ich wundere mich nicht über sie, sondern über die tatsächliche oder vorgetäuschte Aufregung in den deutschen Medien. Angela Merkel hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie, wenn sie aus dem Kanzleramt und dem Parteivorsitz heraus sei, auch nicht in anderen Gremien bleiben werde.

Das heißt, es hat Sie nicht überrascht, als sie kürzlich aus der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgetreten ist?

Es hätte mich überrascht, aber gefreut, wenn sie mir gesagt hätte: Selbstverständlich gilt das nicht für die Adenauer-Stiftung. Aber noch einmal: Sie ist ja auch nicht ausgetreten, sondern hat nach dem Auslaufen von Mandaten gesagt: So, das war's. Insofern war das keine Überraschung.

Hat jetzt, nach der Ära Angela Merkel, für die CDU die Ära Friedrich Merz begonnen?

Das werden später Historiker beurteilen. Üblicherweise beginnt eine Ära ja nicht mit einer Wahl.

Sondern?

Sie beginnt mit einem politischen Ereignis oder verbindet sich mit Entwicklungen, für die Personen eine ganz besondere und über den Tag hinausreichende Handschrift hinterlassen.

Trägt der Grundsatzprogrammentwurf der Union die Handschrift von Herrn Merz?

Ja, den Eindruck habe ich schon. In diesem jetzt vorliegenden Entwurf setzen
Parteivorsitzender und Generalsekretär klare Akzente.

Einer davon lautet: "Muslime, die unsere Werte teilen, gehören zu Deutschland". Grenzt diese Formulierung Muslime aus?

Nein, ich finde, er lädt sie ein. Es ist der ausdrückliche Hinweis darauf, dass dieses Land, das ein christlich geprägtes Land ist, sich im Lichte seiner kulturellen Geschichte für Menschen anderer kultureller, religiöser Orientierung nicht abschließt, sondern sich ausdrücklich öffnet.

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Aber der Satz impliziert doch, dass Muslime per se erst einmal nicht zu Deutschland gehören.

Historisch ist das auch zweifellos richtig. Und insofern wird eine Veränderung, die stattgefunden hat, nun ausdrücklich nicht zurückgewiesen, sondern sie wird bestätigt: Jeder ist herzlich eingeladen, in diesem Land zu leben, wenn er denn die Werte, die Prinzipien teilt, auf die sich dieses Land verständigt hat.

Und das gilt nur für Muslime?

Das gilt natürlich nicht nur für Muslime. Aber ganz offenkundig gibt es doch an der Stelle die stärkste Verunsicherung sowohl bei denjenigen, die eine andere religiöse oder kulturelle Orientierung haben, wie auch bei denjenigen, die gekommen sind. Und deswegen ergibt die Klarstellung unter jedem Gesichtspunkt Sinn.

Einladender war aber der Satz von unserem ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulf "Der Islam gehört zu Deutschland".

Der Satz "Der Islam gehört zu Deutschland" ist nie Position der CDU gewesen. Er war die Aussage eines Bundespräsidenten, die damals große Aufmerksamkeit erzeugt und gleichzeitig auch eine intensive Diskussion ausgelöst hat, die genau zu der Klarstellung führt, über die wir jetzt reden.

Teilen Sie den Satz denn, dass der Islam zu Deutschland gehört?

Ich habe den Satz immer für gut gemeint, aber missverständlich gehalten. Der Islam hat im Übrigen erst in einem vergleichsweise sehr kurzen Abschnitt einer sehr langen deutschen Geschichte in diesem Land Relevanz.

Friedrich Merz hatte einst angekündigt, der CDU wieder ein klareres, konservatives Profil zu geben und damit die AfD zu halbieren. Ist er rückblickend die richtige Antwort auf die AfD?

Jedenfalls ist er die nach dem Willen der großen Mehrheit der Partei richtige personelle Antwort.

Warum zahlt die Unzufriedenheit der Menschen im Land dann nicht auf das Konto der CDU ein?

Sie zahlt ja ein: Aktuell findet die Union bei den Wahlberechtigten so viel Unterstützung wie SPD, Grüne und FDP zusammen. Deutschland befindet sich sowohl im historischen als auch im internationalen Vergleich in einer bemerkenswert stabilen und gesicherten Lage. Die Konsequenz ist, dass die Menschen auf Veränderungen außerordentlich skeptisch und eher abwehrend als fördernd reagieren. Die AfD, die sich gewissermaßen zum Hüter des Status quo macht, hat insofern einen Wettbewerbsvorteil. Und zum anderen: Wenn die Parteien der Mitte sich immer ähnlicher werden und Unterschiede immer schwerer zu erkennen sind, begünstigt das eine vermeintliche Alternative. Angesichts der massiven Veränderungen nach dem Mauerfall ist es deswegen auch kein Zufall, dass die Wählerschaft der AfD in den neuen Ländern erkennbar größer ist als in den westdeutschen Ländern.

Mal angenommen, in Thüringen lässt sich ein Ministerpräsident Björn Höcke nur vermeiden, indem die Union mit der Linken eine Koalition eingeht. Würden Sie dazu raten?

Die Frage stellt sich, wenn ein Wahlergebnis vorliegt und nicht vorher.

Anders gefragt: Ist es dasselbe für die CDU, mit der AfD wie mit der Linken zusammenzuarbeiten?

Für mich ist es nicht dasselbe.

Sie halten eine Zusammenarbeit mit der Linken also für legitim?

Selbstverständlich wäre es legitim, die Frage ist aber, ob es vernünftig wäre. Die CDU kämpft für ein Wahlergebnis, das die Frage gegenstandslos macht.

Sollte die Union über ein AfD-Verbot diskutieren, wie es der Arbeitnehmerflügel der CDU fordert?

Ich habe von Verbotsverfahren nie viel gehalten, unabhängig von den Erfolgswahrscheinlichkeiten. Alle Erfahrungen zeigen, dass sich in kürzester Zeit unter einem neuen Namen gleiche und ähnliche Einstellungen neu versammeln. Zumal damit das zusätzliche Risiko verbunden ist, die Frustration eher zu vergrößern und damit auch die Attraktivität der Verbotenen. Die Auseinandersetzung muss politisch geführt werden, nicht vor Gerichten. Und sie muss von den Wählerinnen und Wählern entschieden werden.

Was ist politisch dann die richtige Antwort auf die AfD?

Die Politik muss mit aller nur denkbaren Sorgfalt und Geduld ihr Handeln erklären. Es gibt Veränderungsbedarf in unserer Gesellschaft. Wir haben einen gewaltigen Modernisierungsbedarf in unserer Infrastruktur. Wir haben ein gewaltiges Problem, was die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft im Weltmaßstab betrifft. Wir haben offensichtlich perspektivisch Bedarf in unseren gesetzlichen Systemen sozialer Sicherung und in der Landesverteidigung offensichtlich auch. Die Politik muss deutlich machen, dass Veränderungen nötig, aber auch möglich sind. Und dass sie unter zumutbaren Bedingungen stattfinden können.

Letzte Frage: Was schätzen Sie besonders an Angela Merkel?

Ihre Geradlinigkeit, ihre Glaubwürdigkeit und ihr unprätentiöses Amtsverständnis. Sie hatte ganz sicher eine besondere Begabung, Entscheidungen reifen zu lassen. Sie war aufgeschlossen für ganz unterschiedliche Ausgangspositionen innerhalb und außerhalb der eigenen Partei. Und mit dieser Begabung, Entscheidungen reifen zu lassen, hat sich auch ein enormes Vertrauen in der Wählerschaft verbunden, das sich auf sie als Person noch stärker richtete als auf die Partei, deren Vorsitzende sie war.

Herr Lammert, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Selbst geführtes Interview
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