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Politiker ziehen Corona-Bilanz: "Unnötig Menschenleben verloren"


Politiker über Corona-Versäumnisse
"Das war einer der schlimmsten Fehler"


Aktualisiert am 01.04.2024Lesedauer: 6 Min.
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Corona-Teststation in einem Kölner Parkhaus: Die Rufe nach einer Aufarbeitung der Pandemie-Politik werden lauter. (Quelle: Christoph Hardt/imago-images-bilder)

Vier Jahre nach dem ersten Corona-Lockdown sind die Rufe nach Aufarbeitung so laut wie nie. t-online hat führende Politiker aus der Pandemiezeit gefragt: Was waren die größten Fehler?

Zwei Jahre Ausnahmezustand: Das Coronavirus brachte ab Anfang 2020 nie dagewesene Ängste, Diskussionen und Einschränkungen. Vor allem zu Beginn der Pandemie gab es Horrorszenarien und Warnungen vor einem Massensterben. Im italienischen Bergamo wurden Leichen in Lastern abtransportiert, in Indien rangen Menschen vor überfüllten Krankenhäusern um Luft.

Die Politik agierte unter enormem Druck, kam zu Nachtsitzungen zusammen, diskutierte heftig, zählte Krankenhausbetten, Personal und Infektionszahlen. Sie verabschiedete Maßnahmen im Akkord, schloss Schulen und Betriebe, verordnete Abstandsregeln, Maskenpflicht, Kontakt-, Versammlungs- und Zutrittsverbote. Grundrechte wurden aufgegeben, in der Hoffnung, Leben zu retten.

"Wir werden einander viel verzeihen müssen", sagte der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) früh im Bundestag. Nun, rund vier Jahre nach Beginn des ersten Lockdowns, sind die Rufe nach Aufarbeitung so groß wie nie.

Was aber gibt es zu verzeihen? t-online hat führende Politiker und Wissenschaftler gefragt: Was waren die größten Fehler der Politik in der Pandemie?

Michael Kretschmer: "Auf dramatische Weise falsch entwickelt"

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) saß in der Pandemie in den Bund-Länder-Konferenzen. Dem Gremium, das die Corona-Maßnahmen maßgeblich bestimmte. Kritiker demonstrierten vor seinem Privathaus, Kretschmer stellte sich nicht nur dort dem Gespräch. Er sagt:

"Ich bin von anderen Parteien so beschimpft worden, als ich während der Corona-Zeit das Gespräch mit kritischen Menschen gesucht habe. Mir war klar, in einer Demokratie kann es nicht nur eine Meinung geben. Differenziert und wertschätzend zu argumentieren war auch in dieser Zeit sehr wichtig, aber leider nicht jedem gegeben.

Je länger die Schutzmaßnahmen dauerten, umso falscher wurden sie. Die sektorale Impfpflicht war gut gemeint, aber hatte sich auf dramatische Weise falsch entwickelt. Als das zu Beginn des Jahres 2022 klar war und wir den neuen Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach darum gebeten haben, sie gemeinsam abzuschaffen, hat dieser sich verweigert. Ich war damals fassungslos über den Starrsinn und die Weigerung, Realitäten zur Kenntnis zu nehmen.

Sehr nachdenklich hat mich eine Diskussion der Schriftstellerin Juli Zeh und des Verfassungsrichters Hans-Jürgen Papier über die Grundrechtseingriffe und das Schweigen des Bundesverfassungsgerichts gemacht. Wir müssen zumindest aus dieser Zeit lernen, dass der Zweck nicht die Mittel heiligt und wir ein mutiges Verfassungsgericht brauchen, das Grenzen setzt."

Stephan Weil: "Das hat niemandem geholfen"

Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) regiert das Land seit elf Jahren. Sein Stil gilt als ruhig und unaufgeregt. Die Corona-Maßnahmen aber brachten Bürger gegen ihn auf, die Polizei schützte sein Wohnhaus im April 2021 vor Demonstranten. Er sagt:

"Grundsätzlich ist es gerade am Anfang der Pandemie gelungen, durch einen konsequenten Infektionsschutz die Zahl der Todesopfer zu begrenzen. Die genaue Zahl wird sich leider naturgemäß niemals genau feststellen lassen. Gut war im Umgang mit der Corona-Pandemie insbesondere auch die enge Kooperation mit der Wissenschaft, die vergleichsweise gute Impforganisation mit entsprechend hohen Impfquoten sowie die Sicherstellung der medizinischen Versorgung schwerkranker Corona-Patientinnen und Patienten.

Die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen sind dagegen nicht hinreichend berücksichtigt worden, das zeigen mittlerweile diverse Studien. Auch dass viele alte und kranke Menschen während der Corona-Hochphasen unter Einsamkeit gelitten haben oder bisweilen sogar alleine sterben mussten, macht betroffen. Schließlich: Dass die Corona-Regeln von Land zu Land unterschiedlich waren, hat unter dem Strich niemandem geholfen."

Wolfgang Kubicki: "Einer der schlimmsten Fehler war die Ausgrenzung"

FDP-Politiker Wolfgang Kubicki ist seit 2017 Bundestagsvizepräsident. Der Jurist sprach sich in der Corona-Zeit regelmäßig gegen zu strenge Corona-Maßnahmen aus. Er plädierte zum Beispiel gegen die Maskenpflicht, forderte kürzere Quarantänezeiten – und erzählte offen, dass er trotz Verbots Kneipen besuchte. Er sagt:

"Einer der schlimmsten Fehler der Corona-Pandemie war die Ausgrenzung anderer Auffassungen. Denn das hatte zur Folge, dass nur eine Meinung als alleinige Wahrheit definiert wurde. Wer auf gleicher Datengrundlage zu anderen Schlüssen gekommen war, wurde vielfach mit einem Unwerturteil bedacht, das viele Betroffene in die Verzweiflung getrieben hat. Wo die Meinungsunterschiede nicht mehr als Bereicherung, sondern als Gefahr angesehen werden, gerät die Menschenwürde unter die Räder."

Malu Dreyer: "Haben Kindern zu viel zugemutet"

Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) saß in der Pandemie in den Bund-Länder-Runden und plädiert für eine Aufarbeitung der Corona-Politik. Sie sagt:

"Politik und Gesellschaft standen während der Corona-Pandemie vor nie dagewesenen existenziellen Fragen um Leben und Tod. Den Regierungen im Bund und in den Ländern war es wichtig, auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse Entscheidungen zu treffen.

Aber schon damals habe ich darauf gedrängt, dass neben Virologen auch andere wissenschaftliche Fachrichtungen – wie Kindermediziner und Soziologen – gehört werden sollten. Beim Bestreben Menschenleben zu schützen, haben wir mit dem Wissen von heute vor allem Kindern und Jugendlichen zu viel zugemutet und auch denen, die sich am Lebensende aufgrund von Kontaktbeschränkungen nicht mehr von ihren Liebsten verabschieden konnten."

Jonas Schmidt-Chanasit: "Vieles ist unverzeihlich"

Der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit hat in der Corona-Pandemie die Hamburger Politik beraten und war ein gefragter Gesprächspartner für Medien. Er stand restriktiven Maßnahmen kritischer gegenüber als mancher Kollege und wurde dafür von Maßnahmen-Befürwortern beschimpft. Er sagt:

"Dass angesichts der beginnenden Pandemie im Frühjahr 2020 Entscheidungen getroffen wurden, die im Nachhinein nicht immer als angemessen bezeichnet werden können, ist verzeihlich. Unverzeihlich ist aber vieles, was nach diesem ersten Schock unter Berufung auf die Wissenschaft politisch entschieden wurde. Ich meine die lange Schließung von Kindergärten, Schulen und Universitäten und die wissenschaftlich nicht zu begründende 2G-Regelung, die zur Ausgrenzung der Ungeimpften geführt hat.

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Besonders betroffen gemacht hat mich die psychische und soziale Vereinsamung älterer Menschen in unserer Gesellschaft durch die Lockdown-Maßnahmen. Die mediale Begleitung, die überwiegend alarmistisch statt sachlich und deeskalierend war, hat zu einer zunehmenden Polarisierung in der Gesellschaft beigetragen. Positiv sehe ich die rasche Entwicklung und Zulassung mehrerer Impfstoffe, die vielen älteren Menschen das Überleben gesichert haben."

Janosch Dahmen: "Unnötig Menschenleben verloren"

Grünen-Politiker Janosch Dahmen ist Arzt und rückte in der Corona-Zeit als gesundheitspolitischer Sprecher seiner Partei in den Bundestag nach. Er setzte sich für restriktive Maßnahmen ein, wurde so zu einer Hassfigur für Kritiker. Er sagt:

"Insgesamt ist Deutschland gemessen an seiner sehr alten Bevölkerung gut durch die Pandemie gekommen. Besonders die konsequenten Maßnahmen während der ersten Welle haben sehr viele Menschenleben gerettet.

Natürlich gibt es auch Dinge, die rückblickend nicht gut gelaufen sind. Für mich ist beispielsweise offensichtlich, dass wir als Gesellschaft einerseits Kinder, Jugendliche und Familien besonders streng in die Verantwortung genommen haben und andererseits am Arbeitsplatz zu langsam und zu nachlässig mit notwendigen Schutzmaßnahmen waren.

Zur Wahrheit gehört auch, dass wir durch zu frühzeitiges Lockern oder falsche Maßnahmenschwerpunkte in der zweiten Hälfte der Pandemie unnötig Menschenleben verloren haben."

Gregor Gysi: "Es ist psychologischer Schaden entstanden"

Linken-Politiker Gregor Gysi unterstützte mit seiner Partei viele Corona-Maßnahmen, blieb bei manchen aber skeptisch. Ausdrücklich sprach er sich gegen eine Impfpflicht aus. Heute fordert er eine Kommission im Bundestag zur Aufarbeitung. Er sagt:

"Eine Enquete-Kommission muss klären, welche Maßnahmen in der Pandemie richtig und notwendig waren, welche bei einem ähnlichen Fall nicht wiederholt werden dürfen und ob es wesentlich weniger beeinträchtigende Alternativen zu den getroffenen Entscheidungen gibt.

Ich möchte folgendes Beispiel nennen: Für die Kinder ist aus dem Schulausfall, aus der Überforderung der Eltern als Lehrerinnen und Lehrer und aus ihrer Einsamkeit ein psychologischer Schaden entstanden, der noch lange Zeit Folgen zeigen wird. Meines Erachtens wären Investitionen in die Schulen, um sie pandemiegerecht zu gestalten, wesentlich wichtiger als die Isolierung der Kinder.

Es gilt auch generell Fragen einer Impfpflicht zu klären. Wann ist sie angebracht und wann nicht? Meines Erachtens ist eine Pflicht nur dann gerechtfertigt, wenn nur dadurch eine Krankheit vollständig ausgerottet werden kann. Das war bei Corona nie der Fall, bei der Masernimpfung dagegen schon."

Andrew Ullmann: "Ohne Aufarbeitung besteht Gefahr"

FDP-Politiker Andrew Ullmann ist Professor für Infektiologie an der Universität Würzburg und seit 2017 Mitglied des Deutschen Bundestags. Bereits in der Pandemie war er gesundheitspolitischer Sprecher seiner Fraktion. Er sagt:

"Der wesentliche Fehler bestand darin, dass trotz zahlreicher Warnungen in der Vergangenheit keine ausreichenden Vorbereitungen auf eine Pandemie getroffen wurden. Dieses Versäumnis beeinträchtigte die Fähigkeit der Regierung, angemessen und effektiv auf die Krise zu reagieren. Es ist an dieser Stelle aber nicht angebracht, einzelne Maßnahmen zu bewerten, bevor nicht eine gründliche Aufarbeitung erfolgt ist.

Daher fordern wir die Einsetzung einer Enquete-Kommission. Das gibt uns jetzt die Gelegenheit, die Pandemie umfassend zu untersuchen und Lehren daraus zu ziehen. Ohne eine gründliche Aufarbeitung besteht die ernsthafte Gefahr, dass uns die nächste Pandemie als Gesellschaft irreversibel und katastrophal schädigt."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
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Meinung|Beschlüsse auf dem FDP-Parteitag
  • Florian Schmidt
Von Florian Schmidt



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