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Konservativ? Merkel ist nicht schuld an der Leere der Union


Wohin steuert die CDU?
Merkel ist nicht schuld an der Leere der Union

MeinungEin Essay von Jonas Schaible

10.02.2018Lesedauer: 9 Min.
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Merkel: Hat sie die Partei entkernt - oder verweigert sie sich nur der Alternative?Vergrößern des Bildes
Merkel: Hat sie die Partei entkernt - oder verweigert sie sich nur der Alternative? (Quelle: Bernd von Jutrczenka/dpa)

Merkel habe die Union entkernt und verkauft, sagen Kritiker. Ihr gehe es nur noch um Macht. Doch die einzige Alternative ist ein Konservatismus, der sich an Vegetariern, Hipstern und Muslimen abarbeitet.

Kaum war die Verteilung der Ministerien zwischen Union und SPD in einer möglichen Koalition bekannt, wurde Kritik laut. Die CDU, so die verbreitete Analyse, sei als stärkste Kraft in die Verhandlungen gegangen und habe am wenigstens herausgeholt. Nicht nur, dass kaum eigene Inhalte der CDU erkennbar sind – auch mehrere wichtige Ministerien musste sie abgeben.

Dadurch rückt die Parteichefin in den Blick. Die Kanzlerin, die Verhandlungsführerin. Schon lange wird ihr vorgeworfen, sie habe die Partei inhaltlich entkernt. Seit einer Weile bereits fragen sich Parteifreunde, ob sie der Partei durch ihre zurückhaltende Art womöglich schade.

Friedrich Merz, die alte Sehnsuchtsfigur der Konservativen, Paul Ziemiak, der aufstrebende JU-Chef, Wolfgang Bosbach; sie alle haben schon eine Erneuerung gefordert. Kritiker wie Alexander Mitsch von der rechten Splittergruppe mit dem programmatischen Namen Freiheitlich-Konservativer Aufbruch in der Union, werden schon lange noch deutlicher: "Außer den Themen Machterhalt und Merkel gibt es kaum noch Positionen, für die CDU und CSU ernsthaft eintreten". Ihr einfaches Rezept: Merkel muss weg.

Dann, so behaupten sie, könne sich die Union wieder auf ihren Kern besinnen. Dann finde sie wieder zu sich. Dann werde sie wieder konservativ.

Aber – ist es so einfach?

Stimmt es, dass nur Merkel die Union davon abhält, sich zum Konservatismus zu bekennen?

Was unterscheidet Spahn und Merkel?

Jens Spahn ist Staatssekretär im Finanzministerium. Angeblich träumt er von einem Ministeramt, das er nun wohl nicht bekommt. Ganz sicher träumen einige in der Union von ihm als Parteichef. Er ist die große Hoffnung der Konservativen. Was also, Herr Spahn, unterscheidet Sie inhaltlich von Angela Merkel?

Da wird der Hoffnungsträger schmallippig. Alter und politischer Stil, sagt er dann. Alter und Stil. Also keine Inhalte?

Was, wenn es eine andere Erklärung für die Konturlosigkeit der Union und Merkels merkwürdige Vagheit gibt? Wenn sie nicht Ausdruck des Kanzlerinnencharakters ist, wenn Merkel keine Ursache für die Krise des Konservatismus ist, sondern deren Folge?

Was, wenn es gerade nur zwei Konzepte von Konservatismus gibt: den uneindeutig-merkelhaften – und den ressentimentgetriebenen?

Konservativ zu sein, heißt auch: den Wandel abwehren

Der Konservatismus definierte sich immer auch darüber, was er ablehnt, weil er vor allem bewahren will. Er lehnt das ewige "vorwärts" der Sozialdemokratie ab; den Sozialismus der linkeren Linken; den Ständestaat und die Brutalität des Faschismus. Und dazu alles, was nach Revolution klingt oder nach Utopie.

Aber es wäre zu einfach und ungerecht, ihn darauf zu beschränken. Denn die Christdemokratie ging darüber viele Jahrzehnte hinaus. Als parteipolitische Ausprägung des Konservatismus im Westeuropa der Nachkriegszeit war sie sehr wohl definiert durch eine konkrete Ideologie. Sie konnte sich definieren, ohne sich von anderen und deren Wünschen zu distanzieren.

Ihr politisches Programm stand auf drei Säulen.

  • Da war, erstens, die bürgerliche Kleinfamilie. Papa arbeitet, Mama kümmert sich, die Kinder sind folgsam, das Haus sauber, das Beet geharkt.
  • Da war, zweitens, der wirtschaftliche Liberalismus, in dessen Zentrum die Freiheit des Unternehmers steht und die Eigenverantwortung des arbeitenden Menschen.
  • Und da waren, drittens, die Kirche und der Glaube; vor allem der Katholizismus war Fixpunkt des Lebens, war Quell von Sexualmoral und Soziallehre.

Die Säulen tragen nicht mehr

Das Problem dieses politischen Programms: Die Säulen tragen nicht mehr. Fast alle Position vertritt die Christdemokratie nicht mehr exklusiv. Und was sie exklusiv vertreten könnte, will sie nicht mehr vertreten.

Damit noch einmal zu Jens Spahn. Er sagte einmal mit bemerkenswerter Offenheit, er wisse auch nicht, was konservativ sei, aber: "Wenn konservativ heißt, es geht um Werte, Verbindlichkeit, Verlässlichkeit, Leistungsbereitschaft, Familie, Zusammenhalt, Identität: Dann bin ich gerne konservativ."

Nur: Nichts davon ist spezifisch konservativ. Spahns Aufzählung ist eine Ausflucht. Ein rhetorischer Trick.

Man kann sich das mit einem simplen Gedankenspiel klarmachen: Welche dieser Werte würden, zum Beispiel, Sigmar Gabriel, Martin Schulz, Katrin Göring-Eckardt, Robert Habeck, Dietmar Bartsch oder Christian Lindner nicht unterschreiben? Verbindlichkeit? Verlässlichkeit? Leistungsbereitschaft? Familie? Zusammenhalt? Identität?

Die politische Linke hat sich auch christdemokratisiert

Die Union habe sich sozialdemokratisiert, heißt es oft – vergessen wird dabei oft, dass sich Sozialdemokratie, Linke und Grüne auch christdemokratisiert haben.

Vom Sozialismus als Ziel verabschiedete sich die Sozialdemokratie schon 1959. Die Globalisierung scheint den ökonomischen Liberalismus mit seiner Wettbewerbsfähigkeitsfixierung alternativlos gemacht zu haben, so sehr, dass Alternativlosigkeit von einem Markenzeichen Thatchers zur Allerweltsphrase geworden ist. Spätestens sozialdemokratische Dritte-Weg-Reformer haben ihn in den Neunzigern und Nullerjahren so gründlich übernommen, dass Linke allenfalls noch ein bisschen mehr soziale Marktwirtschaft fordern. Selbst die schwarze Null im Haushalt haben FDP, Grüne und SPD in Sondierungsgesprächen umstandslos akzeptiert.

Auch den Anspruch auf Frömmigkeit und Kirchennähe haben die Konservativen längst nicht mehr exklusiv. Katrin Göring-Eckardt saß vier Jahre der Synode der Evangelischen Kirche vor und wurde oft genug verhöhnt. Joachim Gauck war Bundespräsident. Martin Schulz wies im TV-Duell die Frage, ob er heute in der Kirche gewesen sei, nicht etwa zurück; er erklärte stattdessen recht devot, doch, doch, am Morgen eine Kapelle besucht zu haben. Und unter dem lateinamerikanischen Jesuiten-Papst Franziskus ist sogar die katholische Kirche als Institution unter Verdacht geraten, Bollwerk des rot-grünen Weltbilds zu sein.

Selbst in der Familienpolitik ist in Teilen ein "conservative turn" der Linken zu beobachten. Alternative Lebensmodelle und Liebesformen verbürgerlichten. Viele Homosexuelle wollen heiraten, adoptieren, wollen Kinder großziehen, das Haus sauber halten und Beete harken. Der Heiratsantrag ist wieder chic und Linke, die ihn ablehnen, träumen doch vom französischen Pact civil, der nur deshalb keine Ehe ist, weil er nicht Ehe heißt. Das Eigene der CDU schnurrte in den Sondierungsgesprächen indes zusammen auf 25 Euro mehr Kindergeld.

Es bleibt das Ressentiment

Natürlich gibt es noch Unterschiede, aber wer danach strebt, sich wieder stärker zu definieren, und die Differenz zu schärfen, der findet auf diesen Feldern nicht mehr viel. Spahns Truppen können ja schlecht Katrin Göring-Eckardt aus der Kirche werfen oder den Seeheimer Kreis aus der SPD. Es bleiben Nuancen in der Familienpolitik. Es bleiben ein paar mehr Überwachungskameras in den Städten. Es bleibt ein bisschen konsumorientierter Hedonismus – freie Fahrt für freie Bürger in Diesel-Autos, aber immer mit schlechtem Gewissen, wegen der Eisbären und der Lunge.

Und es bleibt, vor allem, rechte Identitätspolitik, die Normalität essentialisiert und das nur erreichen kann, indem sie das Unnormale wegdefiniert, ausgrenzt oder aussperrt.

Scharf formuliert, bleibt: das Ressentiment.

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Kulturelle Sicherheit statt innerer Sicherheit

Tatsächlich definieren sich alle größeren Bewegungen rechts von der aktuellen Union in Europa zurzeit durch Abgrenzung von anderen Gruppen – das gilt für die französischen Républicains, die britischen Tories und Österreichs Kanzler Sebastian Kurz, für die AfD und die schweizerische SVP, für die FPÖ, den Front National, die polnische PiS oder den ungarischen Fidesz.

Sie unterscheiden sich in vielem, aber sie verbindet die Betonung einer kulturellen Identität, die sich über Abgrenzung definiert: vor allem vom Islam, aber auch von Zuwanderung generell, und etwas, das in den radikalen Konzepten der extremen Rechten Kulturmarxismus heißt, aber auch mit "Political Correctness" weitgehend beschrieben ist.

Jens Spahn etwa spricht seit einiger Zeit gerne von "kultureller Sicherheit", und meint damit die Bewahrung einer Vorstellung von weiß-christlich-bürgerlicher Normalität – in Abgrenzung vom Islam, von Zuwanderung, aber auch von Englisch sprechenden Berliner Hipstern.

In Polen bei PiS und in Ungarn beim Fidesz findet das stark Ausdruck in fanatischer Überhöhung des Christentums bei gleichzeitiger Total-Ablehnung des Islam.

In Großbritannien trieben die Tories eine auf britische Identität und Ausgrenzung von Gastarbeitern beruhende Brexit-Kampagne voran.

Sebastian Kurz, der neue österreichische Kanzler, kam nach oben durch scharfe Kritik an Zuwanderung, am Islam, durch Bemühungen, die Balkanroute zu schließen. Seine neue Koalition mit der extrem rechten FPÖ: fällt neben Forderungen nach einer 60-Stunden-Woche vor allem mit Verschärfungen des Asylrechts auf.

Gegen Radfahrer, Vegetarier und Hipster

Der ehemalige polnische Außenminister Witold Waszczykowski hat den Möglichkeitsraum des Konservativen vor einiger Zeit wütend so umrissen: Er lehne die Idee ab, "als müsse sich die Welt nach marxistischem Vorbild automatisch in nur eine Richtung bewegen – zu einem neuen Mix von Kulturen und Rassen, eine Welt aus Radfahrern und Vegetariern, die nur noch auf erneuerbare Energien setzen und gegen jede Form der Religion kämpfen." Sichtbar wird dieses Denken darin, dass Brexit-Wähler fast gleichermaßen überzeugt für die Todesstrafe sind wie gegen Feminismus und Multikulturalismus, Einwanderung, die EU und den Islam.

Dahinter steht, so muss man konstatieren, gerade kein geschlossenes Programm. Keine Ideologie im eigentlichen Sinne. Hier sammelt jemand die ideologischen Krümel ein, die links von der Christdemokratie liegen gelassen werden.

Sie formen eine diffuse Identitätspolitik, die über die Abwertung des Unnormalen funktioniert, wie sich zeigt, wenn man den real existierenden Neo-Konservatismus analysiert. Er schafft es derzeit nirgendwo, sich zu behaupten, ohne die Grenze zum Ressentiment wenigstens ab und an zu überqueren.

Alexander Dobrindts Versuch einer programmatische Neubestimmung ruft mit der "konservativen Revolution" ausgerechnet eine rechtskonservative Bewegung auf, die Hitler den Weg bereitet hat und seit einiger Zeit bei der neuen Rechten sehr beliebt ist.

Markus Söder, der die CSU konservativer machen möchte, setzt ebenfalls auf Abgrenzung: "Der Islam hat die letzten 200 Jahre keinen überragenden Beitrag für Bayern erbracht", sagte er in seiner Vorstellungsrede auf dem Krönungsparteitag im Dezember. Und: Wer für die Scharia sei oder die Burka, der dürfe diese Meinung haben, aber "er muss sie nicht in Bayern und Deutschland haben." Zwischendurch versucht er sich an Elitenkritik, ein auf Abgrenzung setzendes populistisches Thema, das sich Konservative derzeit auch anzueignen versuchen.

Wie schwer es ist, die Abgrenzung zu suchen, ohne dabei Grenzen zu überschreiten, wurde sichtbar, als Manfred Weber von einer "finalen Lösung der Flüchtlingsfrage" redete und damit die Sprache der Nationalsozialisten plagiierte. Dabei ist Weber ein verbindlicher, nach links anschlussfähiger, kompromissfreudiger Politiker in der CSU, kein rechter Hardliner, kein Demagoge. Aber selbst er geriet aus der Spur.

In all diesen Beispielen blitzt sie auf, die Verteidigung der Normalität durch das Ressentiment. Sie ist derzeit die einzig erkennbare verbindende Idee der Neo-Konservativen in Europa.

Merkel schreckt vor der Abgrenzung zurück

Wenn Merkel es also nicht geschafft hat, das Profil der Union wieder zu schärfen, dann kann das an ihrer Persönlichkeit liegen – aber auch daran, dass der alte Konservatismus nicht mehr konturiert und dass der Neo-Konservatismus nur dann eine Alternative ist, wenn man keine Scheu vor dem Ressentiment hat. Es gibt zwei Beispiele, die darauf hindeuten, dass es Merkel so geht.

Da ist die Wahlarena 2013, kurz vor der Bundestagswahl. Von einem schwulen Mann wurde sie gefragt, warum sie verhindere, dass er und sein Partner Kinder adoptieren können. "Ich sage Ihnen ganz ehrlich, dass ich mich schwertue mit der kompletten Gleichstellung", sagte sie.

Es vergingen dann noch vier Jahre und viel politische Arbeit der anderen Parteien, bis sie ihren Widerstand aufgab. Bis sie den Weg frei machte für eine Gewissensabstimmung und damit zuerst einmal die Ehe für alle.

Zynisch könnte man sagen: Weil sie wusste, dass sie so ein Wahlkampfthema abräumen kann. Oder: Weil sie nicht überzeugt war, dass Unwohlsein auf Dauer ein gutes Argument für Ungleichbehandlung ist.

Merkel streichelte: unbeholfen, aber doch

Da war zweitens wieder eine Fragerunde, im Jahr 2015, noch vor der Ankunft von hunderttausenden Flüchtlingen in Deutschland, als sie der damals 14-jährigen Reem Sahwil, einer in libanesischen Palästinenserin, erklärte, dass nicht alle Flüchtlinge in Deutschland würden bleiben können.

Die fing an zu weinen und Merkel tätschelte sie unbeholfen. Es sah merkwürdig aus, es hagelte Spott, aber es war doch zu erkennen, dass Merkel jenseits aller Argumente berührt wurde von der Ungerechtigkeit, wie sie Sahwil empfinden musste.

Beide Male schaffte sie die Distanzierung von der Person nicht, wie sie die Distanzierung von der Gruppe nicht pflegt. Beide Male wurde Merkel konfrontiert mit der Härte des Ressentiments, und beide Male zuckte sie zurück.

Der konservative Hoffnungsträger ist schwul

Auf einigen Feldern geht das längst auch anderen so. Dort nämlich, wo Grüne und Linke tatsächlich weiter nach links gerückt sind: Die bürgerliche Kleinfamilie hat sich als einziges Modell aufgelöst, die Stigmatisierung von Homosexuellen haben die Konservativen weitgehend aufgegeben. So hat die Union viele Veränderungen geschluckt, ihren harten Widerstand aufgegeben, die neue Normalität akzeptiert. Die CDU-Chefin ist eine Frau. Jens Spahn, die große Hoffnung der Konservativen, ist schwul. Franz-Josef Strauß wäre heute ein Mann rechts von der Union.

So verstanden, erweitert Merkel nur, was in Fragen der Sexualität weitgehend Konsens ist in der Union: dass Unwohlsein nicht Abwertung bedeuten darf. Ihr geht es nicht allein so – tatsächlich unterscheidet sie sich von den meisten Bundesministern oder Landeschefs der CDU nicht sehr.

Damit sieht es so aus, als würde sich die Frage, was nach Merkel in der Union folge, auf zwei Optionen reduzieren: ein Merkelismus ohne Merkel. Oder ein Neo-Konservatismus der Abgrenzung. Etwas Drittes ist derzeit nicht erkennbar.

Verwendete Quellen
  • Gastbeitrag von Alexander Dobrindt in der Welt, in dem er zur konservativen Revolution aufruft
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