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Reform der Reform: Was kommt, wenn Hartz IV geht?


Reform der Reform
Was kommt, wenn Hartz IV geht?

Eine Analyse von Helena Serbent

Aktualisiert am 27.11.2018Lesedauer: 5 Min.
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Armut in Deutschland: Hartz IV wird von der Agentur für Arbeit mitverwaltet.Vergrößern des Bildes
Armut in Deutschland: Hartz IV wird von der Agentur für Arbeit mitverwaltet. (Quelle: t-online.de/imago-images-bilder)

Die SPD will Hartz IV hinter sich lassen. Die Grünen wohl auch und die Linke sowieso. Das könnte den drei Parteien eine neue Machtperspektive eröffnen. Doch wie sehen ihre Ideen aus?

Hartz IV muss weg. Das fordert die Linke seit Jahren. Jetzt will auch der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck eine Abkehr – und sogar die SPD-Spitze. Die Reform von 2003, die das deutsche Sozialsystem radikal verändert hat, wird besonders der SPD immer wieder als unsoziales Projekt angekreidet und ließ viele linke Sozialdemokraten an ihrer Partei zweifeln.

Was aber kommt nach Hartz IV? Darüber gehen die Vorstellungen auseinander. Doch die Debatte erhöht die Chancen auf eine linke Regierungsmehrheit.

Wer Hartz IV bezieht, bekommt im Regelsatz 416 Euro pro Monat, um seinen täglichen Bedarf zu decken. 2018 bezogen über vier Millionen Menschen diese Leistung, die genau genommen Arbeitslosengeld II heißt. Arbeitsfähige Empfänger müssen viele Bedingungen erfüllen: Zum Beispiel muss jeder vom Arbeitsamt angebotene, zumutbare Job angenommen werden. Wer sich nicht regelmäßig um Jobs bewirbt, an Förderungsmaßnahmen teilnimmt und dem Arbeitsamt absolute finanzielle Auskunft erteilt, muss mit Kürzungen rechnen. Das Motto: "Fördern und Fordern".

Hartz IV: Der Kampf gegen die Langzeitarbeitslosigkeit

"Fördern und Fordern" stammt aus einer Zeit, in der Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe getrennt voneinander beantragt und gezahlt wurden. Immer wieder wurde damals Leistungsmissbrauch durch Trittbrettfahrer angeprangert. 1993 sagte Norbert Blüm, damals Arbeitsminister unter Kanzler Helmut Kohl, zu viele Nicht-Hilfsbedürftige nähmen Sozialleistungen in Anspruch.

Die Reform kam dann aber nicht unter dem konservativen Kohl, sondern 2003 unter SPD-Kanzler Gerhard Schröder. Ein Jahr lang bekommen Arbeitslose seitdem Arbeitslosengeld I, 60 Prozent ihres durchschnittlichen Einkommens der 24 Monate zuvor. Ab dem zweiten Jahr bekommen sie dann Hartz IV, egal, wie lange sie in ihrem Leben gearbeitet und Steuern gezahlt haben.

Für die Wirtschaft ist Hartz IV ein Erfolg. "Wir leben jetzt seit 14 Jahren in diesem System", sagt Arbeitsmarktexperte Ulrich Walwei, Professor und Vizedirektor am Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung. "Man kann anhand verschiedenster Untersuchungen feststellen, dass diese Reform dazu beigetragen hat, dass wir einen erstaunlichen Beschäftigungsaufschwung haben. Früher hatten wir fünf Millionen Arbeitslose, heute sind es nur noch 2,2 Millionen.“ Auch die Langzeitarbeitslosigkeit sei deutlich zurückgegangen.

Die andere Seite der Medaille zeigt die Armutsstatistik: Wer in Deutschland Hartz IV bezieht, ist von Armut betroffen. Besonders die Kinderarmut stößt Kritikern auf. Kindergeld wird auf Hartz IV angerechnet, Schüler dürfen sich im Monat kaum Geld dazuverdienen. Dazu kommt die soziale Ausgrenzung, die Hartz-IV-Bezieher beklagen. Durch den Zwang, jede Arbeit annehmen zu müssen, ist zudem ein großer Niedriglohnsektor entstanden.

SPD, Schröder und die Hartz-Reformen

Auch wenn es den Beziehern von Hartz IV egal sein dürfte, leidet die SPD selbst unter ihrer Reform. Schröder wollte sich mit Hartz IV ein politisches Denkmal setzten und ließ keinen Widerstand zu. Sein bekanntester Kritiker war sein Finanzminister Oskar Lafontaine. Der hielt Hartz IV für arbeitnehmerfeindlich und unsozial. Der Streit eskalierte, Lafontaine trat 2005 aus der SPD aus. Und nicht nur er. Enttäuschte SPD-Mitglieder und Gewerkschafter gründeten damals die WASG. Die fusionierte 2007 mit der PDS. Es entstand: Die Linke.

Die SPD aber hielt 13 Jahre an Hartz IV fest, auch wenn die Umfragewerte immer weiter sanken. Lange distanzierten sich die Parteigrößen nicht deutlich von Schröders Reform, wollten aber auch nicht auf Hartz IV festgenagelt werden. Verfechter wie Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier scheiterten als Kanzlerkandidaten.

Erst Martin Schulz traute sich im Wahlkampf 2017, sich etwas von der Hartz-Reform zu entfernen. Er sprach davon, den Bezug von Arbeitslosengeld I zeitlich zu verlängern. Doch auch er steckte bei der Bundestagswahl eine historische Niederlage ein.

SPD: Auf der Suche

SPD-Chefin Andrea Nahles will die Partei nun mit Generalsekretär Lars Klingbeil von Hartz VI befreien. Wie genau, bleibt noch unklar. Die Pressestelle der Parteiführung teilte t-online.de mit: "Es geht nun in den nächsten Wochen und Monaten darum, gemeinsam ein neues Konzept für den Sozialstaat von morgen, der einer Gesellschaft im Wandel gerecht wird, zu erarbeiten." Vorsichtiger kann man es nicht formulieren.

Auch Nahles hält sich bislang mit Details zurück. In einem Gastbeitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" schreibt sie: "Die neue Grundsicherung muss ein Bürgergeld sein.“ Die Leistungen müssten klar und auskömmlich sein, Sanktionen weitgehend entfallen. Bedingungslos werde das Bürgergeld aber nicht.

In einem Interview mit dem "Spiegel" sagte Nahles, der zentrale Unterschied zwischen Hartz IV und dem von ihr geplanten Bürgergeld sei das veränderte Menschenbild. Hartz IV habe das Bild vom faulen Arbeitslosen geprägt. Ein Perspektivwechsel sei notwendig, um besonders Kinder zu schützen. "Wir brauchen stattdessen eine eigene Grundsicherung für Kinder."


Abgesehen vom Kampf gegen Kinderarmut ist das Konzept so vage, dass der Eindruck entsteht, Nahles wolle hauptsächlich das Bild von Hartz IV korrigieren, das in der Gesellschaft existiert, aber nichts am grundlegenden Konzept vom "Fördern und Fordern" ändern.

Und doch könnte der Abschied von der Reform der SPD neue Perspektiven eröffnen. Weil er auf ähnliche Überlegungen in anderen Parteien trifft.

Die Grünen: Die neue Grundsicherung der Überflieger

Während die SPD angesichts katastrophaler Umfragewerte ums Überleben kämpft, könnte es den Grünen kaum besser gehen. Die Partei um Chef Robert Habeck steht derzeit in der Wählergunst auf Platz zwei. Dabei hat die Partei Hartz IV als Koalitionspartner unter Schröder mitgetragen. Doch die Grünen werden nicht so stark mit den Reformen in Verbindung gebracht. Dass Habeck nun einen Hartz-IV-Ersatz vorschlägt, ist daher zwar historisch nicht so bedeutsam wie die Kursänderung der SPD. Aber es zeigt, dass es zwischen den einstigen Regierungspartnern Gemeinsamkeiten gibt.

In einem internen Papier fordert Habeck, die bisherigen Leistungen durch ein neues Garantiesystem zu ersetzen. Die Grundsicherung soll auf Anreiz statt Bestrafung setzen, existenzsichernd sein und den Zuverdienst attraktiver machen. Auch das Schonvermögen soll angehoben werden. Der größte Unterschied zu Nahles' Vorstellungen ist: Der Zwang zur Arbeitsaufnahme soll vollkommen entfallen.

Die Linke und das bedingungslose Grundeinkommen

Während Grüne und SPD die Grundsicherung nur für Bedürftige wollen, streben Teile der Linken seit einigen Jahren ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle an. In einem Konzept rechnet eine Partei-Arbeitsgruppe basierend auf Wirtschaftsdaten von 2011 vor, dass so jeder 1076 Euro im Monat bekäme.

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1076 Euro. Für jeden Bürger, ohne Bedingungen. Das ist sehr viel mehr, als SPD und auch Grüne fordern. Doch während es lange so aussah, als könnten sich SPD, Grüne und Linke bei dem Thema nicht annähern, hört man nun aus der Linkspartei versöhnliche Töne: Sahra Wagenknecht lobte im Wahlkampf Schulz' Abkehr von Hartz IV. Katja Kipping zeigte sich erst am Sonntag in der "Welt" erfreut über die neuen Reformgedanken der Grünen: "Der Vorschlag geht sehr stark in Richtung der sanktionsfreien Mindestsicherung, für die wir seit Langem kämpfen." Nun schlage sie den beiden eine gemeinsame Enquetekommission vor, um eine Alternative zu Hartz IV zu erarbeiten.

Linke Mehrheit durch Reform?

Eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey aus dem April zeigt, dass sechs von zehn Befragten grundsätzliche Änderungen am bestehenden Hartz-IV-System fordern. Diese Mehrheit für eine Reform könnte eine Grundlage für eine rot-rot-grüne Zusammenarbeit sein.


So wie Hartz IV damals die linke Politik in Deutschland gespalten hat, könnte eine Abkehr die Fronten nun wieder aufweichen. Es könnte ein linkes Projekt sein, mit dem sich auch ein Bundestags-Wahlkampf bestreiten ließe. Und das der SPD aus der Umfrage-Misere helfen könnte.

Verwendete Quellen
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