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Tagesanbruch: SPD-Krise – schwankendes Rohr im Winde


Tagesanbruch – Was heute Morgen wichtig ist
SPD-Krise: Schwankendes Rohr im Winde

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 07.02.2019Lesedauer: 8 Min.
Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Olaf Scholz, Lars Klingbeil, Andrea Nahles.Vergrößern des Bildes
Olaf Scholz, Lars Klingbeil, Andrea Nahles. (Quelle: imago)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Was macht Menschen faszinierend, warum verehren wir sie, selbst wenn sie gar nicht mehr in der Öffentlichkeit auftreten, was macht aus einem Individuum eine Ikone? Womöglich ist es die Fähigkeit, zwei Seelen in einer Brust zu vereinen: das Genie, das uns ehrfürchtig aufblicken lässt, und den Typen von nebenan, mit dem wir sofort ein Bier trinken würden. Wenn Menschen die Gabe haben, einerseits als strahlende Helden vor zigtausend Leuten Dinge zu sagen und zu tun, die wir selbst nicht sagen, geschweige denn tun könnten. Und wenn sie andererseits mit beiden Beinen auf dem Boden bleiben.

Rudi Assauer war so einer. Ein Typ, der selbst im feinen Zwirn noch den Slang der Straße sprach, den sie im Pott den "Kashmir-Hooligan" nannten, der die Millionen fürs neue Schalker Stadion klarmachte und zugleich großen Wert darauf legte, dass jeder Fan für kleines Geld eine anständige Pausenwurst bekam. Ein Mann, der anderen mit Respekt begegnete, aber sofort einen knackigen Spruch parat hatte, wenn ihm jemand blöd kam. Jüngere Semester unter uns werden Assauer vermutlich nur als Zigarre paffenden Manager erinnern, der sich mit Uli Hoeneß ein Duell ums Scheinwerferlicht lieferte. Die ganz Jungen werden sich womöglich gar nicht an ihn erinnern, da Assauer wegen seiner Alzheimer-Krankheit zuletzt zurückgezogen lebte. Nur die Reiferen unter uns werden sich erinnern, dass Rudi Assauer selbst ein begnadeter Fußballer war. In den Jahren 1964 bis 1976 brillierte er in der Bundesliga als eiserner Verteidiger mit filigraner Technik. "Ich habe ihn auf dem Spielfeld kennengelernt. Das waren tolle Duelle",sagt Schalkes ehemaliger Top-Torjäger Klaus Fischer meinem Kollegen Robert Hiersemann. "Rudi war der Motor des FC Schalke. Er konnte knallhart sein, doch trotzdem mochten ihn die Menschen." Auf Schalke werden sie ihm wohl ein Denkmal setzen. "Nur wenige Menschen sind wirklich lebendig, und die, die es sind, sterben nie", hat Ernest Hemingway einst gesagt. Könnte auch von Rudi sein, der Spruch.


WAS STEHT AN?

"Als die Boten des Johannes weggegangen waren, begann Jesus zu der Menge über Johannes zu reden: Was habt ihr denn sehen wollen, als ihr in die Wüste hinausgegangen seid? Ein Schilfrohr, das im Wind schwankt?" So lesen wir es im 7. Kapitel des Lukas, Vers 24 – und auf diese Bibelstelle geht das schöne deutsche Sprachbild "schwankendes Rohr im Winde" zurück. Hätte es die SPD zu Zeiten des Apostels schon gegeben, womöglich hätte Lukas das Gleichnis anders formuliert: Was habt ihr denn sehen wollen, als ihr in die Wüste hinausgegangen seid? Einen wankelmütigen Genossen?

Nun wurde die SPD erst 1779 Jahre nach Lukas’ Tod gegründet. Aber mit dem Vers des Apostels hat sie trotzdem eine ganze Menge zu tun. Sie ist erstens kurz davor, von den Wählern in die Wüste geschickt zu werden, und sie ist zweitens das schwankende Rohr im Winde der Politik. Brückenteilzeit, paritätische Krankenversicherungsbeiträge, höheres Kindergeld, Gute-Kita-Gesetz, Mietpreisbremse, Hilfen für Langzeitarbeitslose, weniger befristete Arbeitsverträge, Erwerbsminderungsrente: In der großen Koalition haben die Genossen schon so viele ihrer Wahlkampfversprechen umgesetzt, dass sie eigentlich im Erfolg baden müssten. Stattdessen suhlen sie sich im Umfrageelend. 15 Prozent im Bund, 6 Prozent in Bayern, auch in Ostdeutschland nur noch einstellig: Geht das so weiter, kann in zwei, drei Jahren der letzte Genosse im Willy-Brandt-Haus das Licht ausmachen.

Wie konnte es so weit kommen? Viel ist geschrieben worden über das schwindende Milieu der einst stolzen Volkspartei. Gewerkschaftlich organisierte Facharbeiter? Gibt es in der Dienstleistungsgesellschaft immer weniger. Niedriglöhner vom Paketboten über die Kindergärtnerin bis zum Dauerpraktikanten? Hat die SPD versäumt, für sich zu gewinnen. Traditionell rote Wähler unter Lehrern, Beamten, Handwerkern? Hat sie an die Konkurrenz verloren: viele an die sozialdemokratisierte CDU, viele an die umweltbeseelten Grünen, noch mehr an die teils konservative, teils fremdenfeindliche AfD. Ein ehemaliger SPD-Vorsitzender erzählte mir vor einiger Zeit von einem Erlebnis aus seiner Jugendzeit: Als er damals den Gesprächen der Altvorderen an SPD-Stammtischen lauschte, habe er natürlich nicht nur aufgeklärte, fortschrittliche Meinungen vernommen. Darunter seien auch viele Genossen gewesen, die Ressentiments hegten und manchen rassistischen Spruch gegen türkische Gastarbeiter klopften. So wie in allen gesellschaftlichen Schichten eben. Früher habe es die SPD geschafft, diese Leute einzubinden und zu mäßigen. Heute schaffe sie das nicht mehr.

Was in meiner Wahrnehmung aber viele Leute am meisten an der SPD stört, geht darüber hinaus: Es mangelt ihr an Geschlossenheit und an einem erkennbaren Profil. Es ist nicht klar, wofür sie überhaupt steht. Und das hat etwas mit ihren Funktionären zu tun. Bis heute vertritt die Parteispitze keine klare Haltung zu den von der SPD selbst eingeführten Hartz-Reformen. Ihr Wahlprogramm für die letzte Bundestagswahl war ein daumendickes Sammelsurium aus großen und kleinen Wünschen – aber kein griffiger Aktionsplan, an dessen Inhalt man sich länger als drei Minuten erinnern konnte.

Auch ihre Kampagnenfähigkeit hat die SPD verloren. Unter Franz Müntefering und Matthias Machnig wurde die Wahlkampfzentrale Kampa, aufgebaut nach amerikanischem Vorbild, als Lokomotive politischer Mobilisierung bewundert. Heute gleicht das Willy-Brandt-Haus einem Schlafwagen, in dem jeder macht, was er will. Als ich dort einmal mit einem anderen ehemaligen SPD-Parteivorsitzenden zu einem Gespräch zusammensaß und wir die Möbel für ein Foto geringfügig verrückten, platzte ein Hausmeister herein und herrschte uns an: Warum wir den Tisch umgestellt hätten? Das dürfe niemand außer dem Betriebsrat! Die Anekdote mag harmlos klingen, aber sie erschien mir damals wie ein Gleichnis: Selbst wenn er wollte, hier hat der Chef nix zu sagen.

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Auch bei Themen, die Millionen Bürgern unter den Nägeln brennen, eiert die SPD herum und findet keinen klaren Kurs. Beispiel Kohleausstieg: Geht der Umweltschutz vor oder die Sicherung der Arbeitsplätze? Beispiel Tempolimit: Noch nicht einmal Umweltministerin Svenja Schulze schaffte es kürzlich in einem TV-Interview, klar zu sagen, ob sie nun dafür oder dagegen ist. Wie sollen es dann erst die Genossen an den Infoständen in den Fußgängerzonen schaffen?

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An der Spitze ist das Problem noch größer: Parteivorsitzende haben in der SPD genau einen guten Tag: den ihrer Wahl. Danach setzt das Feuer der Heckenschützen aus den eigenen Reihen ein. Der macht dies falsch, der kann das nicht: Kurt Beck, Sigmar Gabriel, Martin Schulz sind allesamt nicht am politischen Gegner gescheitert – sondern an ihren eigenen Leuten (und an sich selbst). Wer mit der Demütigung nicht fertig wurde, trat seinem Nachfolger gegens Schienbein. Oder tritt heute noch. Was der Ex-Vorsitzende Gabriel gerade der Noch-Vorsitzenden Nahles antut, ist härter als jede Attacke von CDU, CSU, Grünen, FDP und AfD. Hintergrundgespräche, Interviews, Gastbeiträge: Kaum eine Woche vergeht, ohne dass der Siggi der Andrea aufs Brot schmiert, wie sagenhaft unfähig sie sei. Altkanzler Gerd, nie um einen starken Spruch verlegen, sekundiert seinem Buddy gern – allein schon deshalb, weil niemand seine starken Sprüche lieber hört als er selbst.

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Natürlich sehe auch ich, dass Frau Nahles Fehler gemacht hat, unter denen ihr Schulhof-Jargon ("auf die Fresse!" "Bätschi!") vermutlich der größte war. Aber dass sie noch nicht einmal ein Jahr nach ihrem Amtsantritt schon als Auswechselkandidatin gilt, ist vor allem dem roten Haifischbecken zuzuschreiben, in dem sie sich täglich abstrampeln muss. Fast drei Viertel aller SPD-Anhänger glauben nicht daran, dass Nahles die Wahlergebnisse der SPD verbessern kann, hat soeben eine repräsentative Umfrage von t-online.de ergeben. Geht am 26. Mai die Europawahl ähnlich dramatisch verloren wie die Bundestagswahl, kann die Vorsitzende die Stunden zählen, bis die Haie zubeißen. Die SPD braucht keinen politischen Gegner, sie ist selbst ihre stärkste Gegnerin. Sie ist zur Partei der Neider, der Besserwisser, der Hahnenkämpfe und der schlechten Laune verkommen.

Genug lamentiert, wie kommt die SPD da heraus? Die Antwort auf diese große, schwere, schicksalsträchtige Frage soll der Parteivorstand auf seiner Klausur ab Sonntag finden. Und es ist nicht so, dass es dafür keine Ideen gäbe. Eine besonders interessante Idee werden Sie voraussichtlich morgen auf t-online.de lesen.


Die Länder der Visegrad-Gruppe gelten innerhalb der EU als die schärfsten Kritiker von Angela Merkels Flüchtlingspolitik: Polen, Tschechien, die Slowakei und allen voran Ungarn nehmen nur wenige oder gar keine Flüchtlinge auf. Sie haben es geschafft, Merkels Plan einer verbindlichen Quote bis heute zu blockieren. Viele Leitartikler schreiben, der Plan sei inzwischen tot – aber das könnte voreilig sein. Nach der Europawahl stehen die monatelangen Beratungen über den EU-Haushalt an. Das wird ein erbittertes Feilschen um Milliarden – und Merkel hat darin mehr Erfahrung als jeder andere europäische Regierungschef. Manches deutet darauf hin, dass die Bundeskanzlerin die Verteilung von Flüchtlingen dann erneut zum Thema machen will. Große Stücke vom Brüsseler Geldkuchen könnten dann womöglich nur jene Länder bekommen, die sich bei der Aufnahme von Flüchtlingen kompromissbereit zeigen. Das ist die Stimmungslage, wenn Merkel heute Vormittag in Bratislava an einem Treffen der Visegrad-Gruppe teilnimmt. Es dürfte also turbulent zugehen, zumindest hinter den Kulissen.


Auch in Brüssel wird heute Tacheles geredet. EU-Kommissionschef Juncker empfängt am Vormittag die britische Premierministerin May. Natürlich geht es wieder mal um den Brexit. Natürlich wird Frau May wieder mal um weitreichende Zugeständnisse beim Backstop bitten. Natürlich wird die EU hart bleiben. Natürlich wird die Lage immer dramatischer.


In Berlin rennen heute Abend noch mehr Leute ins Kino als sonst: Die 69. Berlinale beginnt.


Die Deutsche Presse-Agentur kündigt heute ein Dossier zur Frage an: "Wein auf Bier – wirkt sich die Folge alkoholischer Getränke auf einen Kater aus?" Ich zumindest kenne die Antwort schon.


WAS LESEN?

Deutschland hat ein Rentenproblem: Die Beiträge werden steigen und steigen, da immer weniger Beitragszahler immer mehr Senioren versorgen müssen. Gleichzeitig sind viele Menschen von Altersarmut bedroht, nur noch wenige glauben an die sichere Rente. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat nun einen Vorschlag gemacht: Die "Respektrente" soll Menschen vor Altersarmut schützen. Gute Idee? Schlechte Idee!, sagt Jenna Behrends – denn die nachfolgenden Generationen müssten darunter leiden. In einem Gastbeitrag auf t-online.de begründet die 28-jährige CDU-Politikerin ihre Meinung pointiert.


Unsere Korrektorin Stefanie Schlünz hat viel zu tun. Jeden Tag merzt sie Rechtschreibfehler in den Artikeln von uns Redakteuren aus. Ich zum Beispiel habe eine Recht-Schreibschwäche: Ich kann mir partout nicht merken, ob jemand recht hat oder Recht hat und ob er das zurecht oder zu Recht tut. Zum Verzweifeln! Wie gut, dass meine Kollegin regelmäßig ihre Kolumne "Die Orthografin" schreibt. Thema der aktuellen Ausgabe: stolpern. Na ja, zumindest beginnt es damit: Stolpert man Treppen hinunter oder herunter, hinab oder herab, hinauf oder herauf? Zumindest das weiß ich (bin gerade erst gestolpert). Wissen Sie es auch?


WAS AMÜSIERT MICH?

Es ist ein bisschen seltsam, vielleicht sogar verschroben, wenn die Pianistin einen Haarreif mit Katzenohren trägt. Trotzdem kann es ja nicht verkehrt sein, mit Franz Liszt und der Ungarischen Rhapsodie Nr. 2 den Tag zu beginnen. Das macht uns wach und bringt uns in Schwung – fast so sehr wie die Maus im Piano. Und der Kater am zweiten Flügel, der sich mit der Maus zofft. Die Pianistin gibt sich redlich Mühe. Aber Tom und Jerry stehlen ihr trotzdem die Show.

Ich wünsche Ihnen einen beschwingten Tag.

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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