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Tagesanbruch: Brennende Notre-Dame in Paris – eine nationale Tragödie


Was heute wichtig ist
Eine nationale Tragödie

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 16.04.2019Lesedauer: 6 Min.
Meinung
Was ist eine Meinung?

Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Bürger in Paris beobachten die brennende Kathedrale.Vergrößern des Bildes
Bürger in Paris beobachten die brennende Kathedrale. (Quelle: imago images)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Tagtäglich sehen wir Bilder von Unglücken, Katastrophen, Terror. Dennoch berühren uns die Bilder der brennenden Kathedrale Notre-Dame auf besondere Weise. Es sind gar nicht so viele Wahrzeichen, die weltweite Bekanntheit genießen, aber die wenigen kennt wirklich so gut wie jeder. Das Empire State Building in New York, die Chinesische Mauer, die Pyramiden von Gizeh, das Kolosseum in Rom, diese Kategorie. In Paris gehören der Eiffelturm dazu und eben Notre-Dame, eine der ältesten gotischen Kirchen Frankreichs. Napoleon krönte sich darin zum Kaiser. Steinmetze, Maler und Mosaiksetzer veredelten den Bau zum Kunstwerk. Victor Hugo ließ seinen Glöckner hier hausen. Der Bau überstand die Wirren der Französischen Revolution ebenso wie die Besatzung durch die Nazis. Und wir staunenden Touristen wanderten andächtig durch die 10.000 Menschen fassende Halle, schauten hinauf zu den fliehenden Pfeilern und bekamen den Mund vor Staunen gar nicht mehr zu.

Bis früh in den Morgen züngeln die Flammen in diesem Heiligtum des Glaubens, der Kunst, des Staates, fällt der Turm, verglüht die Kunst. Eine nationale Tragödie. Ein Abend, der sich im wahrsten Sinne in die Geschichte Frankreichs einbrennt. Wenn der letzte Funke verglüht und die Asche erkaltet ist, wird man die Frage nach der Verantwortung stellen, wird man wohl Prozesse führen und den Wiederaufbau planen. Wenn dieser glückt, wird man vielleicht das Alte mit dem Neuen so geschickt verbinden, dass es weder kitschig noch lieblos erscheint. Vielleicht kann dann ein neuer Geist von Notre-Dame entstehen, der einen Impuls zu neuer Einheit setzt. Ein neuer Geist in einem Land, das immer wieder von Terroranschlägen heimgesucht worden ist, das auf seinen Straßen einen Proteststurm erlebt, in dem manchmal die Hauptstadt einerseits und die Provinz andererseits in zwei Welten zu zerfallen scheinen, das um seine Rolle in Europa ringt. Die Strahlkraft von Bauwerken sollte man nicht über-, aber auch nicht unterschätzen. Die wieder errichtete Dresdner Frauenkirche, das restaurierte Brandenburger Tor, das neue One World Trade Center in New York zeigen uns, wie Bauten zu Botschaftern reifen können. Zu Orten, an denen das Miteinander, das Verbindende und die Toleranz neuen Schwung bekommen.

Das mag ein kleiner, aber tröstlicher Gedanke sein, wenn wir das Inferno auf der Île de la Cité betrachten. Auch wenn der Schrecken und der Kummer jetzt noch überwiegen. Die Bilder der lodernden Notre-Dame berühren uns auf besondere Weise. Denn es ist auch ein kleiner Teil von uns, der dort brennt.

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WAS STEHT AN?

Was macht wohl Martin Winterkorn heute Morgen? Wir gönnen ihm seinen Morgenkaffee, aber wir gönnen ihm auch seine Sorgen. Seit Monaten lesen wir über den Abgasskandal, in dem sich der Volkswagen-Konzern besonders unrühmlich hervorgetan hat. Wir erfahren, dass VW seine Kunden im Stich ließ, aber weiter fröhlich Milliardengewinne scheffelt. Wir beobachten, wie Manager die Verantwortung für das Debakel von sich weisen und die Bundesregierung sie gewähren lässt. Wir denken, "Das darf doch alles nicht wahr sein" – und dann lesen wir die Meldung, dass die Staatsanwaltschaft Braunschweig den ehemaligen VW-Boss Winterkorn und vier seiner Mitstreiter angeklagt hat. Schwerer Betrug lautet der Vorwurf, womöglich drohen mehrere Jahre Haft.

Endgültig beurteilen soll man jemanden erst, wenn ein Urteil gesprochen worden ist, aber schon jetzt können wir sagen: Hier werden nicht nur einzelne Manager angeklagt, sondern eine ganze Management-Kultur. Die Un-Kultur der Patriarchen, der Sonnenkönige, die Katzbuckelei und Kadavergehorsam verlangten, nach deren Pfeife alle zu tanzen und deren Launen alle zu ertragen hatten. Die meinten, sie könnten ihre eigenen Regeln machen. Winterkorn bei VW, Wiedeking bei Porsche, Stadler bei Audi. Männer, die so agieren konnten, weil man sie ließ. Weil sie Erfolg damit hatten. Weil Aufsichtsräte offenbar lange nicht so genau hinschauten. Weil der Staat sich vor allem raushielt, selbst wenn er wie im Fall von VW selbst im Aufsichtsrat sitzt. Wenn nun Gerichte beginnen, dieser Un-Kultur ein Ende zu machen, ist das auch ein Sieg der Gewaltenteilung in unserem Land. Ein Segen, dass es sie gibt. Gerade, wenn sie manchem Sorgen bereitet.


Vor unser aller Augen steht eine große Frage, wieder einmal: Wie findet man den Weg aus einer jahrzehntelangen Diktatur, aus Unterdrückung und Angst, zu einer offenen, demokratischen, sicheren Gesellschaft? Wie verhindert man, dass ein Land dabei in Anarchie und Bürgerkrieg versinkt? Was kann man tun, dass am Ende nicht doch wieder ein neuer Diktator auf dem Thron sitzt und die Freiheit so schnell schwindet, wie sie errungen wurde?

Ein ganzes Land erforscht in diesen Tagen diese Frage: der Sudan. So oft ist dieses Experiment schon schiefgegangen, mit furchtbaren Folgen. In Libyen haben blutrünstige Milizen ihre Jagdgründe abgesteckt. Große Teile Syriens wurden in Schutt und Asche gebombt. Ägypten hat sich von einem Diktator befreit und ist in den Griff des nächsten geraten. Trotzdem haben die Menschen im Sudan sich auf dieses Wagnis eingelassen. Weil sie, wie es ein Demonstrant sagt, nicht mehr "wie die Zombies" leben wollen: ohne Zukunft, ohne Hoffnung, immer in Angst vor der Geheimpolizei. Und wir müssen anerkennen: Bis jetzt gehen sie ausgesprochen geschickt vor.

Ein Merkmal dieses Geschicks: einfach nicht nach Hause gehen. Der Diktator Omar al-Baschir ist abgesetzt? Es wird weiter protestiert. Der Interimsmachthaber, der genauso zur herrschenden Clique gehört, ist auch abgesetzt? Die Demonstranten sind immer noch da. Der gefürchtete Sicherheitschef tritt ab, das Militär beginnt mit der Freilassung politischer Gefangener? Die Leute bleiben auf der Straße. Der Staat im Staate, die Strukturen des Sicherheitsapparats müssen zerschlagen werden, und die Regierungsgewalt muss in den Händen von Zivilisten landen – darunter gehe gar nichts, fordern Vertreter der Protestbewegung.

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Doch ein paar bittere Pillen werden die mutigen Reformer im Sudan wohl schlucken müssen, wenn sie Erfolg haben wollen. Denn die blutigen Lektionen der Vergangenheit legen nahe, dass es den Regimewechsel auch in Überdosis geben kann. Im Irak etwa waren die amerikanischen Invasoren darauf verfallen, das alte Regime Saddam Husseins – vom General bis zum Gefreiten, vom Minister bis zum Sachbearbeiter – in Gänze nach Hause zu schicken. Danach funktionierte gar nichts mehr: kein Wasser, kein Strom, keine Sicherheit. Die entsorgte Armee verwandelte sich in sunnitische Guerillagruppen, aus denen später Terrororganisationen wie der "Islamische Staat" hervorgingen. Nein, so sollte man es ganz gewiss nicht machen.

Wo finden wir Beispiele dafür, wie es besser funktioniert? Vielleicht in Deutschland. Am Ende des Zweiten Weltkriegs mussten sich die siegreichen Alliierten entscheiden, was mit den Mitgliedern der NSDAP – Millionen von Menschen – geschehen sollte. "Entnazifizierung" nannte sich das große Reinemachen, doch bei vielen Fachleuten, Technikern und kenntnisreichen Bürokraten wurden beide Augen zugedrückt, im Westen wie im Osten, und der Masse der Mitläufer die Rehabilitierung leicht gemacht. Die Alliierten erkauften sich eine funktionierende Verwaltung und den erfolgreichen Wiederaufbau mit Nazi-Mief in den Amtsstuben. Schön ist das nicht. Gerecht schon gar nicht. Dennoch legen so unterschiedliche historische Ereignisse wie im Irak und im Nachkriegsdeutschland die unbequeme Einsicht nahe: Der Schnitt mit der Vergangenheit darf nicht zu sauber sein und nicht zu tief. Sonst fließt Blut.

Im Sudan wird die Frage, was weichen soll und was bleiben muss, jetzt wieder neu verhandelt. Es steht alles auf dem Spiel. Wünschen wir den mutigen Menschen dort Glück. Und Erfolg. Und, so bitter es ist: Augenmaß.


WAS LESEN UND ANSCHAUEN?

Erinnern Sie sich noch an Alexander Jorde? Im Bundestagswahlkampf las der junge Krankenpfleger Bundeskanzlerin Merkel in der "ARD-Wahlarena" die Leviten: "Sie sind seit zwölf Jahren an der Regierung und haben in meinen Augen nicht viel für die Pflege getan." Für seinen beherzten Auftritt erntete er viel Anerkennung – und das vage Versprechen der Kanzlerin, in zwei Jahren sei hoffentlich "etwas besser". Jetzt hat Jorde ein Buch geschrieben, in dem er zeigt: Nichts ist besser, im Gegenteil – dabei gäbe es Möglichkeiten, den Pflegenotstand in Deutschland zu beheben. Die Kollegen des "Deutschlandfunks" haben uns den Gefallen getan, das Buch zu rezensieren und die wichtigsten Aussagen zusammenzufassen.


Wir denken oft, wir seien der Nabel des Universums. Wir, hier auf unserer riesengroßen Erde. Dabei sind wir in Wahrheit ganz klein. Wir und unsere Welt. Wie klein, das zeigt uns diese faszinierende Animation.


Leider wird unsere kleine Welt vom Klimawandel rapide verändert. Trockenheit, Waldbrände, Wirbelstürme, Überschwemmungen: Ganze Regionen werden in Zukunft unbewohnbar – und Millionen Menschen zu Flüchtlingen. Sagen nicht irgendwelche Spinner, sondern nüchterne Wissenschaftler. Die ersten Anzeichen in Afrika und Asien, aber auch in Kalifornien sehen wir schon – und die Amerikaner wären nicht Amerikaner, würden sie darin nicht ein großes Geschäft wittern: Schon buhlen die ersten Städte in milden Regionen um künftige Klimaflüchtlinge. Die "New York Times" erzählt uns mehr.


WAS AMÜSIERT MICH?

Ich genieße abends gern mal ein Pils. Und die VW-Manager, was trinken wohl die?

Ich wünsche Ihnen einen unbeschränkt schönen Tag.

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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