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Belarus: Was Diktator Lukaschenko wirklich schmerzt


Tagesanbruch
Ein sehr hoher Preis

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 28.05.2021Lesedauer: 5 Min.
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Mitglieder von Reporter ohne Grenzen erinnern an der belarussischen Grenze an Journalisten, die vom Regime eingesperrt wurden.Vergrößern des Bildes
Mitglieder von Reporter ohne Grenzen erinnern an der belarussischen Grenze an Journalisten, die vom Regime eingesperrt wurden. (Quelle: Janis Laizans/Reuters-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

wir müssen jetzt klare Kante zeigen, aber im Grunde können wir nichts ausrichten: Unter diesem Motto scheinen die vergangenen Tage gestanden zu haben, seit der weißrussische Diktator Alexander Lukaschenko einen innereuropäischen Flug entführt hat, um einen Oppositionellen und dessen Partnerin aus der Maschine zerren zu lassen. Es ist ein unglaublicher Vorgang – augenscheinlich aber nur aus Sicht der EU-Staaten und ihrer Verbündeten. Der Despot in Minsk hat es nicht einmal für nötig befunden, sich bei seinen Ausreden ein bisschen Mühe zu geben. Wegen einer Terrordrohung der Hamas hätten seine Leute das Flugzeug zur Landung bewegt, verkündete er. Dass dort angeblich ein Waffenstillstand mit Israel gefordert wurde, der schon längst in Kraft ist? Dass die angebliche E-Mail erst versendet wurde, als die Maschine schon in Minsk gelandet war? Alles egal. Der belarussische Geheimdienst hatte offenbar Wichtigeres zu tun, als sorgfältig die Scheinbelege zu präparieren, die der Herr Präsident anschließend der Weltöffentlichkeit präsentierte. Ihr könnt uns nichts: Das ist die eigentliche Botschaft an die aufgeregten Europäer. Wir machen, was wir wollen. Heult doch.

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Nun wissen wir alle, dass die EU außenpolitisch ein Schneckchen ist und ihre Entscheidungen gewöhnlich mit der entsprechenden Geschwindigkeit trifft. Deshalb gab es zu Recht viel Lob für die rasche und geschlossene Reaktion der europäischen Regierungschefs. Der Luftraum über Belarus ist nun geächtet, was das Land ein paar Millionen Euro pro Monat an Gebühreneinnahmen kosten wird. Die Sanktionen gegen Regimevertreter werden ausgeweitet. Zugleich ist noch nicht das ganze Pulver verschossen: Außenminister Heiko Maas (SPD) spricht vom "Beginn einer großen und langen Sanktionsspirale", die Belarus zum Einlenken bewegen und Lukaschenko Manieren beibringen soll. All das ist richtig und wichtig. Und wirkungslos.

Mit dem Handstreich am Himmel hat Lukaschenko einen Schlag gegen das wichtigste Medium geführt, das seinem staatlichen Propagandaapparat noch Paroli bot: Mehr als eine Million Menschen folgen dem oppositionellen Infokanal Nexta beim Messengerdienst Telegram und haben sich dort über Demos, Protestaktionen, Polizeibrutalität, kurz: den Widerstand gegen das Regime informiert. Jetzt aber hat der Diktator den Koordinator des Kanals in seiner Hand und dessen Freundin gleich mit. Folter und Psychoterror sind in Weißrusslands Gefängnissen Routine. Der Machthaber wittert die Chance, seinen Untertanen ab jetzt seine allein gültige "Wahrheit" vorzusetzen, ohne den lästigen Widerspruch von Oppositionsmedien. Europäische Sanktionen sind für ihn ein akzeptabler Preis dafür.

Was also tun? Längst hat sich Lukaschenko seinem mächtigen Nachbarn in Moskau an den Hals geworfen, was die EU-Sanktionen umso zahnloser erscheinen lässt. Nur die Hilfe des Kremls hat im vergangenen Jahr verhindert, dass das Volk den Diktator zum Teufel gejagt hat. Seitdem hat Wladimir Putin auch in Minsk das letzte Wort. Deshalb ist es gar nicht so schlimm, dass der europäische Protest in Belarus ignoriert wird – solange er im Kreml nicht auf taube Ohren stößt. Wie bitte?, könnten Sie nun denken, Druck auf Moskau? Das hat doch schon in den Konflikten in der Ukraine, in Syrien und in Libyen nicht funktioniert, auch bei den Morden des russischen Geheimdienstes in der EU nicht, und vom Fall Nawalny wollen wir gar nicht erst anfangen. Wieso soll er jetzt auf einmal wirken?

Nun ja, könnte man mit sibyllinischem Lächeln antworten und sofort versichern, dass es für eine russische Mitwisserschaft bei der Umleitung des Flugzeugs selbstverständlich bisher keine Belege gibt. Aber Moment, da war doch was: Das deutsch-russische Prestigeprojekt Nord Stream 2, die gemeinsame Gaspipeline durch die Ostsee, wird nicht länger von den USA blockiert und kann endlich fertig gebaut werden. Kann – oder könnte. Was, wenn ausgerechnet jetzt, kurz vor der Fertigstellung, die deutsche Entschlusskraft plötzlich schwächeln würde? Das wäre doch wirklich unangenehm für den von einer Wirtschaftskrise gebeutelten Kremlchef.

Wladimir Putin hat seine Ziele in Belarus längst erreicht. Das Land befindet sich fest in seinem Griff, Lukaschenko ist ihm ausgeliefert. Dann und wann demonstrieren die beiden Geschlossenheit und fahren für die Pressefotografen zusammen ein bisschen Ski. Heute treffen sie sich zum demonstrativen Schulterschluss in Sotschi (ohne Ski). Aber ob der Chef im Kreml bereit ist, für die Eskapaden des Chefchens in Minsk einen sehr hohen Preis zu bezahlen? Das könnten wir ja mal herausfinden. Piksen wir Putin. Das führt zu Bewegung.


Zu richten die Lebenden und die Toten

Als ich vor 23 Jahren in Damaskus studierte, herrschte Hafis al-Assad mit eiserner Hand. Als er zwei Jahre später starb und sein Sohn an die Macht kam, hofften Millionen Syrer auf mehr Freiheit und weniger Armut. 21 Jahre später ist die Bilanz des "Präsidenten" Baschar al-Assad noch grausamer als die seines Vaters: Zehn Jahre lang hat er Krieg gegen sein eigenes Volk geführt, heute sind mehr als 600.000 Menschen tot, 12 Millionen sind aus ihren Städten und Dörfern geflohen, 80 Prozent der Bevölkerung leben in Armut. Der Chef im Kreml hat nicht nur dem Diktator in Minsk, sondern auch dem Schlächter in Damaskus seinen Thron gerettet. Um den schönen Schein zu wahren, hat Assad eine "Wahl" veranstaltet. In der Nacht wurde deren Ergebnis verkündet, nach offiziellen Angaben darf Assad sich über 95,1 Prozent "Zustimmung" freuen. In solchen Momenten wünscht man sich ja inständig, dass es wirklich einen Gott gibt, der alle Menschen nach ihrem Ableben richtet.


Wer schreibt, der bleibt

Ein wenig Live-Publikum ist dank sinkender Inzidenzen schon wieder zugelassen, alle anderen können das feine Programm des Literaturfestivals "Leipzig liest extra" im Internet anschauen. Heute Nachmittag wird der Preis der Leipziger Buchmesse in den Kategorien Belletristik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzung vergeben. Nominiert sind unter anderem Judith Hermann mit ihrem Heldinnenroman "Daheim" und Christian Kracht mit seiner hochgelobten "Faserland"-Fortsetzung "Eurotrash".


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Die Entzauberung der Grünen hat bereits begonnen. Sagt nicht irgendwer, sondern Gerhard Schröder (SPD), der einst sieben Jahre lang mit den Grünen regierte. Deren heutigen Chefs wirft der Altkanzler "teils wenig hilfreiche, teils sogar gefährliche Äußerungen" vor: Robert Habeck habe sich in "leichtsinniger und verantwortungsloser Weise zu Waffenlieferungen an die Ukraine" geäußert – und Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock habe sich selbst einen steuerfreien Corona-Bonus genehmigt, der doch eigentlich Pflegekräften oder Supermarktangestellten zustehen sollte. Den Text unseres prominenten Gastautors lesen Sie hier.


Vor 27 Jahren erschütterte ein Völkermord Ruanda: Aufgehetzte Hutu ermordeten mindestens 800.000 Menschen, vor allem Angehörige der Tutsi, aber auch moderate Hutu. Frankreichs Regierung hatte das Regime jahrelang aufgerüstet – und versuchte später, die Mitverantwortung für den Genozid kleinzureden. Gestern ist Präsident Emmanuel Macron nach Kigali gefahren und hat dort eine bemerkenswerte Rede gehalten. Eine Kollegin der "FAZ" war dabei.

Und auch Deutschland will sich mit seiner früheren Kolonie – dem heutigen Namibia – aussöhnen. Es geht um ein Schuldeingeständnis – und um einen Milliardenbetrag.


Jeder Mensch reagiert unterschiedlich auf die Corona-Spritze. Bei manchen bleiben Impfreaktionen völlig aus, andere klagen über Fieber, Müdigkeit oder einen "dicken Arm". Wie entstehen diese Schmerzen, was hilft dagegen – und was sollte man unbedingt vermeiden? Meine Kollegin Melanie Weiner klärt Sie auf.


Was amüsiert mich?

In den kommenden Tagen naht endlich der Sommer. Und wenn dann noch jemand da ist, der einem die Ohren krault, ja was will man dann noch mehr zum Glücklichsein?

Ich wünsche Ihnen einen glücklichen Tag. Der Wochenend-Podcast kommt morgen von Marc Krüger und Peter Schink, von mir lesen Sie am Montag wieder.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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