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Flutkatastrophe in Deutschland: Der Triumph der Menschlichkeit


Tagesanbruch
Der Triumph der Menschlichkeit

MeinungVon Sven Böll

Aktualisiert am 20.07.2021Lesedauer: 7 Min.
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Alle packen mit an: Aufräumarbeiten im nordrhein-westfälischen Bad Münstereifel.Vergrößern des Bildes
Alle packen mit an: Aufräumarbeiten im nordrhein-westfälischen Bad Münstereifel. (Quelle: imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser!

"Kommen Sie näher", ruft der Hauseigentümer. "Jedes Buch kostet nur 20 Cent. Und ab zehn Stück können wir auch noch mal über den Preis reden." Er lacht. Hunderte Bücher, vom Wasser durchtränkt und mit Schlamm überzogen, stapeln sich vor der Garageneinfahrt. Bis Mittwochabend standen sie noch im Wohnzimmer. Dann kamen die Fluten. Jetzt seien die Bücher ganz schön schwere Kost, aber immer noch lesenswert, scherzt der Mann. Er sitzt am Sonntag mit Frau und Freunden vor seinem Haus in einer schwer getroffenen Stadt nahe Bonn. Das Aufräumteam hat es sich – so nennt es das – ein bisschen in der Bibliothek gemütlich gemacht.

Ein Zeichen der Hoffnung für uns alle

Natürlich steckt in solchen Sätzen auch Verzweiflung. Die ist angesichts der apokalyptisch anmutenden Flutkatastrophe auch sehr gut nachvollziehbar. In den rheinischen Katastrophengebieten türmen sich vor vielen Häusern Haushaltsgeräte und Möbel, in zahlreichen Orten gibt es zentrale Sammelplätze für Sperrmüll, die längst Trümmerberge sind. Straßen und Brücken sind zerstört, in weiten Teilen fiel tagelang der Strom aus. Einige Orte werden noch länger auf Elektrizität und Trinkwasser warten müssen.

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Doch unzählige Menschen haben trotz alledem ihren Humor noch nicht verloren. Sie verscherbeln scherzhaft ihre Bücher oder sagen beim Blick auf ihren Sperrmüll: "Endlich haben wir mal den Keller entrümpelt." Humor ist auch immer eine Möglichkeit, der Unbill ein wenig zu trotzen. Deshalb hat er auch etwas Aufbauendes, Optimistisches.

Dass man davon in diesen Tagen neben individueller Not und kollektiver Verzweiflung ebenfalls viel findet, dürfte damit zu tun haben, dass diese Katastrophe auch zu einem Triumph der Menschlichkeit führt. Vielleicht ist die unglaublich positive Kraft des Mitgefühls und der Solidarität wirklich das Stärkste, was Menschen den zerstörerischen Gewalten der Natur spontan entgegensetzen können.

Natürlich überwiegt angesichts der Schicksale das Negative. Aber es gibt sie eben auch, die positiven Aspekte.

Sei es, dass Organisationen wie die Feuerwehr, die Polizei, das Technische Hilfswerk, das Deutsche Rote Kreuz oder die Bundeswehr aus allen Ecken der Republik Einsatzkräfte geschickt haben.

Sei es, dass Bauern mit ihren Traktoren unermüdlich den Sperrmüll aus den Orten wegschaffen oder Mitarbeiter der Feuerwehr an jeder Haustür klingeln und fragen, ob noch jemand Hilfe braucht.

Sei es, dass die einen Nachbarn spontan den Kohlegrill anwerfen und die anderen die Bierkästen abspritzen, um die Helfer zu versorgen.

Sei es, dass Unzählige ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen, Geld, Kleidung und Möbel spenden oder Menschen bei sich unterbringen, die sie vorher nicht kannten.

Das sind Zeichen der Hoffnung, die weit über die betroffenen Regionen hinausstrahlen. Und die wirken, als wollten die Menschen dem Zeitgeist trotzen.

An einigen gesellschaftlichen Entwicklungen kann man ja durchaus hin und wieder verzweifeln. Neben der Tendenz zu Hetze und Häme, insbesondere in den sozialen Medien, gehört auch der unübersehbare Trend zur Ich-Gesellschaft dazu.

Um Menschen zu erleben, die vor allem um sich selbst kreisen, vorwiegend von sich und ihren (vermeintlichen) Erfolgen erzählen und eh alles besser wissen, muss man sich gar nicht in der virtuellen Welt von Twitter über Facebook bis LinkedIn tummeln. Es reicht, die reale Welt zu beobachten. Da ist die ältere Frau mit Koffer, die vor der kaputten Rolltreppe steht, während zig Leute an ihr vorbeihuschen. Da ist der völlig verwahrloste Bettler, der krumm gebückt durch die S-Bahn humpelt, ohne dass er auch nur in einem Gesicht eine empathische Reaktion hervorruft. Und klar, da sind auch jene Bekannte, die jedes Gespräch rasch auf sich lenken. Oder die Chefs, die selbst ein Feedbackgespräch dafür missbrauchen, um nur von ihren Großtaten zu schwärmen.

Oft wirkt es, als hätten das Interesse an anderen und die Solidarität mit anderen gerade nicht ihre beste Zeit. Man will sich dann wirklich nicht vorstellen, wie unsere Gesellschaft aussieht, wenn sich diese Entwicklungen fortsetzen.

All die Menschen, die ihren Mitmenschen in den Katastrophengebieten in den vergangenen Tagen – wie auch immer – geholfen haben und es auch in den nächsten Wochen noch tun werden, haben diesen Befürchtungen nun zum Glück einige große ABERs entgegengesetzt:

Aber so schlimm ist es doch gar nicht.

Aber so sind doch nicht alle.

Aber wenn es drauf ankommt, stehen die Leute doch zusammen.

Das ist die wirklich gute Nachricht. Leider gilt auch sie nur mit einer Einschränkung. Tausende Menschen packen derzeit mit an. Für viele ist das Teil ihres Jobs. Viele helfen allerdings ehrenamtlich. Manch ein Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr vor Ort war mehrere Tage nicht zu Hause. Ähnlich geht es Freiwilligen, die aus anderen Regionen angereist sind. Ohne ihre unermüdliche Unterstützung wären die gröbsten Folgen in vielen Kommunen wohl noch nicht beseitigt.

Diese Menschen helfen in der Regel gern. Sonst würden sie sich nicht engagieren. Schon das verdient größten Respekt. Trotzdem dürfen wir diese freiwillige Hilfe nicht als selbstverständlich, nicht als gegeben betrachten. Das gilt für die Menschen, die derzeit in den Katastrophengebieten im Einsatz sind, genauso wie für alle, die sich in der Suppenküche, in der Kita und beim Fußballtraining engagieren.

Ohne das Freiwilligenheer der Ehrenamtlichen wäre dieses Land nicht funktionsfähig. Bereits in normaleren Zeiten nicht. Und in Krisen erst recht nicht.

Was es derzeit am wenigsten braucht, sind leere Versprechen von Politikern. Weder bei den aktuellen Besuchen in den betroffenen Regionen noch in den zwangsläufig folgenden Sonntagsreden. Was es dagegen braucht, ist eine tatsächlich spürbare Veränderung. Für die Helfer – und natürlich für die Betroffenen.

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Damit den Menschen, die viel verloren haben, nicht auch noch ihr Optimismus abhandenkommt, brauchen sie rasche Unterstützung. Die vielfach versprochene "unbürokratische Hilfe" sollte jedoch nicht unbürokratisch nach deutschen Maßstäben sein (also nicht aus 50-seitigen statt 100-seitigen Anträgen bestehen). Nein, sie sollte für die Menschen, die inzwischen zumeist völlig erschöpft sind, tatsächlich so einfach wie irgend möglich zu bekommen sein. Das Motto muss lauten: Dein Haus ist zerstört, hier hast Du erst mal genug Geld, um ein paar Monate über die Runden zu kommen. Bis dahin haben wir alles Weitere organisiert.

Damit die Menschen, die sich nun freiwillig engagieren, nicht das Gefühl bekommen, außer Floskeln habe die Gesellschaft für sie eh nichts übrig, sollten sie weit mehr als nur rhetorischen Dank erhalten. Statt Worten sind Taten gefragt. Da ist jede Kommune mit kreativen Lösungen gefordert – vom kostenlosen Eintritt in Schwimmbäder und Museen bis zu Feiern. Im Zweifel in Orten, in denen die Infrastruktur noch intakt ist.

Zu den kurzfristigen Lösungen müssen aber auch mittel- und langfristige kommen. Genauso wie wir uns Gedanken darüber machen müssen, wie wir Infrastruktur und Bürger besser vor extremem Wetter schützen, müssen wir einen Plan entwickeln, wie wir ehrenamtliches Engagement viel besser als bislang wertschätzen. Auch in Euro und Cent.

Die Folgen der Flut verschwinden nicht …

Die Hochwasserkatastrophe wird auch die Nachrichten der nächsten Tage bestimmen. Unter anderem will die Bundesregierung in dieser Woche Soforthilfen beschließen. Doch auch andere Länder hat es schwer getroffen, unter anderem Belgien. Dort ist heute Staatstrauertag.

Wenn Sie mögen, können Sie für die Opfer in Deutschland spenden – zum Beispiel hier.


… und Corona kommt mit Wucht zurück

Das Wetter hat das Virus zuletzt verdrängt. Auch wenn Corona natürlich nie weg war, fühlte es sich für viele Bürger angesichts von hohen Impf- und niedrigen Infiziertenzahlen so an. Doch seit Anfang Juli gibt es von Woche zu Woche wieder mehr Fälle: Die Inzidenz hat sich seither auf gut 10 verdoppelt. Und wie wir inzwischen wissen (sollten), verhält es sich mit den Corona-Wellen nicht viel anders als mit den berühmten Kreuzberger Nächten: Erst fangen sie ganz langsam an. Aber dann, aber dann.


Schärfere Regeln gegen Geldwäsche

Die EU-Kommission stellt heute ihre Pläne vor, wie der Kampf gegen Geldwäsche verschärft werden soll. Unter anderem wird sie wohl eine Obergrenze für Bargeldzahlungen vorschlagen.


Schriftsteller des Jahres

In Darmstadt wird am Vormittag der Preisträger des diesjährigen Büchner-Preises bekannt gegeben. Die wichtigste literarische Auszeichnung in Deutschland, die seit 1951 verliehen wird, ist mit 50.000 Euro dotiert.


Amazon-Gründer im All

Auch das Raumfahrtunternehmen von Jeff Bezos will am Nachmittag (deutscher Zeit) erstmals Menschen auf einen kurzen Trip ins All schicken – darunter den Amazon-Gründer selbst. Vor gut einer Woche hatte sich bereits der Milliardär Richard Branson auf eigene Kosten in die Schwerelosigkeit begeben.


Was lesen?

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Jedes Jahr erleiden etwa 270.000 Bürger in Deutschland einen Schlaganfall. Eine aktuelle Studie niederländischer Forscher legt nun nahe, dass Menschen, lange bevor sie tatsächlich betroffen sind, bereits Anzeichen dafür zeigen. Welche das sind – und wer besonders gefährdet ist, hat meine Kollegin Melanie Weiner zusammengefasst.


Was mich amüsiert

So kann man das natürlich auch sehen …

Ich wünsche Ihnen, dass Sie heute mehr zum Festhalten haben als nur einen Baumstamm.

Ihr

Sven Böll
Managing Editor t-online
Twitter: @SvenBoell

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Mit Material von dpa.

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