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Ukraine-Konflikt: Angriff bisher ausgeblieben — hat Putin sich verzockt?


Tagesanbruch
Der Tag danach

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 17.02.2022Lesedauer: 6 Min.
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Ein ukrainischer Soldat feuert mit einer Panzerabwehrlenkwaffe während einer Übung in Donezk.Vergrößern des Bildes
Ein ukrainischer Soldat feuert mit einer Panzerabwehrlenkwaffe während einer Übung in Donezk. (Quelle: Vadim Ghirda/AP/dpa-bilder)

Einen wunderschönen guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser, an diesem 17. Februar, dessen herausragende Eigenschaft die folgende ist: Es ist der Tag nach dem 16. Februar. Bevor Sie mir jetzt ein sarkastisches "ach was, wirklich!" entgegenschleudern: Das Datum hat Gewicht. Die russische Attacke auf die Ukraine hätte gestern losbrechen sollen, mit Luftangriffen, Artilleriebeschuss und Cyberkrieg, und dann rollen die Panzer. So hatten es uns die Terminkalenderexperten der CIA vorab freundlicherweise mitgeteilt.

Heute nun können wir das dramatische Geschehen im Rückspiegel betrachten: Die Website des ukrainischen Verteidigungsministeriums war gestern vorübergehend nicht erreichbar. Ein paar Banken hatten auch Probleme mit dem Internet. Und in Kiew kam die Sonne nicht so richtig raus. Soweit die atemberaubenden Ereignisse. Russland wird währenddessen nicht müde, den Abzug, jawohl Abzug, der ersten Einheiten aus der Grenzregion zu verkünden.

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Der Krieg ist bisher zum Glück ausgeblieben, siegreich wollen aber schon viele sein. Zum Beispiel die Russen, die den US-Geheimdienst und dessen schrille Vorhersagen mit Häme überschütten ("Kriege in Europa starten selten an einem Mittwoch", spottete ein russischer Botschafter). Aber auch die Amerikaner haben ordentlich was zu feiern. Noch trauen sie zwar dem Frieden nicht, können sich aber schon mal vorgreifend auf die Schulter klopfen – weil sie die Angriffspläne der Russen schonungslos offengelegt und so den Aggressor abgeschreckt haben. Zwei Seiten, zwei gegensätzliche Interpretationen: Das ist typisch für den Konflikt. Eindeutige Wahrheiten gibt es derzeit nicht.

Dass man sich auf die Lage keinen eindeutigen Reim machen kann, ist für Krisenmanager kein Fehler, sondern ein Feature. Der Westen wedelt mit Androhungen drakonischer Strafen herum – mal ist vom Stopp für die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 die Rede, mal heißt es, man könne die Russen vom weltweiten Zahlungssystem Swift ausschließen, vielleicht kommt beides oder doch etwas anderes. "Strategische Mehrdeutigkeit" nennt man das Bemühen, den Gegner im Unklaren zu lassen: Wladimir Putin soll nicht wissen, womit genau er zu rechnen hat, wenn er die Ukraine attackiert, damit er Kosten und Nutzen nicht kalkulieren kann. Schlimm wird es werden, lautet die Botschaft, aber konkret werden westliche Politiker nicht. Manche von uns kennen das Prinzip aus den eigenen vier Wänden, zum Beispiel wenn der Nachwuchs mal wieder keinen Bock aufs Aufräumen des Zimmers hat. Dann kann man präzise ein Handyverbot für den Rest des Tages androhen – und muss später vielleicht zähneknirschend entdecken, dass die Kids es sich zwar ohne Handy, dafür aber mit dem Lieblingshörspiel im Chaos bequem gemacht haben. Besser also, man verkündet mit säuerlicher Stimme, dass es "echt Ärger gibt", wenn der Saustall nicht bald aufgeräumt ist. Schön unkonkret. Schwer kalkulierbar. Das hat schon manches Zimmer neu erstrahlen lassen.

Meisterlich hantiert mit der Mehrdeutigkeit vor allem der Kreml. Dort hat man es seit Beginn der Krise verstanden, den gewaltigen Aufmarsch an der Grenze zur Ukraine als gewöhnliche Truppenbewegungen kleinzureden, mit bissigen Kommentaren über die westliche "Kriegshysterie" zu versehen, zugleich die brandgefährliche Situation zu beschwören und von "militärisch-technischen" Gegenmaßnahmen zu raunen. Niemand weiß, was Putin vorhat. Es besteht keine Einigkeit darüber, was ihn antreibt und was er überhaupt erreichen will. Die Expansion der Nato auf Russlands Kosten sitzt ihm wie ein Stachel im Fleisch, aber ist das alles? Oder geht es ihm auch darum, die Ukraine wieder unter russische Kontrolle zu bekommen? Wie viel Aufgepluster für das heimische Publikum ist mit im Programm? Welches dieser Ziele hat wie viel Gewicht? Alles unklar. Scholz, Biden und Macron ringen um eine gemeinsame Linie, was nicht einfach ist, wenn der Gegner einem unentwegt Sand in die Augen streut.

Während der brillante Taktiker im Kreml über den roten Teppich schreitet, um seinen Lorbeerkranz entgegenzunehmen, muss er allerdings aufpassen, dass er nicht über seine eigenen Füße stolpert. Bei so viel strategischer Mehrdeutigkeit kann einem nämlich schnell schwindelig werden. Als Moskau zum Beispiel ankündigte, Mitarbeiter der russischen Botschaft in Kiew heimzuholen, blieb manchen Beobachtern die Luft weg: Das konnte ein entscheidender Hinweis auf den bevorstehenden Angriff sein! Andere spekulierten, der Rückzug sei nur ein Bluff. Nicht ohne Reiz ist aber auch die Theorie, dass die Diplomaten vorsichtshalber abgezogen wurden, weil selbst das russische Außenministerium nicht mehr im Bilde ist, was die Sphinx im Kreml als Nächstes im Schilde führt.

Denn das ist der Haken am superstrategischen Spiegelfechten: Ob etwas ein genialer Schachzug ist oder aber eine Panne, was Brillanz ist und was Inkompetenz – es lässt sich kaum noch unterscheiden. Haben die Meisterspione der CIA recht gehabt und die Katastrophe abgewendet, oder hat ihre Vorhersage peinlich danebengelegen? Soll uns die vielstimmige russische Diplomatie vorsätzlich verwirren, oder mangelt es ihr an Koordination? Vielleicht spielt Putin, der den Konflikt eben noch eskalieren ließ, nun aber den Friedensengel gibt, ein atemberaubendes strategisches Spiel. Oder er eiert rum wie ein mittelmäßiger Hinterhof-Taktierer.

Eines aber können wir sicher sagen: Putin hat hoch gepokert mit seiner Verunsicherungstaktik. Sein Säbelrasseln treibt die Menschen in der Ukraine an, sich nun erst recht dem Westen zuzuwenden. Die Nato ist geeinter denn je. Und vor lauter Spiegelfechterei läuft Russlands starke Verhandlungsposition Gefahr, in sich zusammenzufallen. Man kennt das Phänomen aus dem Kinderzimmer. Die Kids sind nicht blöd. Die registrieren die Schwäche der strategischen Mehrdeutigkeit. Und fragen sich irgendwann, ob der angekündigte "Riesenärger" vielleicht doch nur Getöse ist. Dann ist sie futsch, die Autorität.


Schneller lockern

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Was amüsiert mich?

Die sind clever, die Schweden!

Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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