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Tagesanbruch: Christian Lindner und die Prioritäten


Tagesanbruch
Ein Mann mit Prioritäten

  • Peter Schink
MeinungVon Peter Schink

Aktualisiert am 11.08.2022Lesedauer: 5 Min.
Meinung
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Bundesfinanzminister Lindner bei der Vorstellung des Inflationsausgleichsgesetzes.Vergrößern des Bildes
Bundesfinanzminister Lindner bei der Vorstellung des Inflationsausgleichsgesetzes. (Quelle: dpa)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

im Leben priorisieren wir ständig, bewusst und unbewusst. Weil wir nicht allem die gleiche Aufmerksamkeit widmen können, weil wir nicht beliebig viel Geld zur Verfügung haben, weil wir nur begrenzt Zeit haben. Deshalb müssen wir entscheiden, was wichtig ist, und was nicht. Was wir zuerst machen, was später (oder gar nicht).

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Dafür müssen wir verschiedene Argumente gegeneinander abwägen. Kosten gegen Nutzen, Gesundheit gegen Spaß, Zeitverschwendung gegen Muße. Rauchen etwa schadet der Gesundheit, ist teuer und kostet Zeit. Da ist die Entscheidung dafür oder dagegen (vermeintlich) einfach. Aber was ist mit Fallschirmspringen? Auch das: teuer, gefährlich, kostet Zeit. Macht aber viel Spaß und wir wollten das vielleicht immer mal ausprobieren.

Der Weg zu unserer Entscheidung hat also mehrere Parameter. Und was noch viel schlimmer ist: Wir können die verschiedenen Argumente unterschiedlich gewichten. Das macht die Entscheidung schwer. Und doch priorisieren wir jeden Tag hundertfach.

Auch in der Politik gibt es für Entscheidungen in der Regel sehr viele unterschiedliche Parameter. Und unterschiedliche Akteure bewerten die Fakten unterschiedlich. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist derzeit das 9-Euro-Ticket. Um an dieser Stelle nicht gleich in die politischen Abgründe abzutauchen, erst einmal die Fakten.

1. Der Nutzen: 38 Millionen 9-Euro-Tickets wurden bislang verkauft, dazu kommen noch einmal 10 Millionen rabattierte reguläre Monatskarten. Der Verband der Verkehrsunternehmen (VDV) geht davon aus, dass im Juni drei Prozent der Autofahrer auf die Bahn umgestiegen sind. Es gibt Berichte über weniger Staus in Städten. Das Ticket ist simpel, es steht im krassen Gegensatz zu komplizierten Tarifsystemen vieler Anbieter im Nahverkehr.

2. Die Kosten: Das 9-Euro-Ticket hat den Staat in den drei Monaten 2,5 Milliarden Euro gekostet. Die Grünen haben ausgerechnet, ein mögliches Nachfolgemodell mit einem Preis von 29 Euro (regional) und 49 Euro (bundesweit) könnte der Bund mit jährlich etwa fünf Milliarden Euro finanzieren.

3. Der Klimaeffekt: Das Ticket soll ein Impuls für die Verkehrswende sein. In der Umfrage des VDV gaben 27 Prozent der befragten Ticketkäufer an, nur wegen des verbilligten Angebots losgefahren zu sein. Das kann man positiv wie negativ sehen. Mehr Verkehr ist schlecht fürs Klima. Aber ein populärer Nahverkehr hilft langfristig.

4. Der soziale Effekt: Fast die Hälfte der Deutschen hat das Angebot angenommen. Es gibt Studien, nach denen insbesondere die Einkommensschwachen von einem preiswerten Nahverkehr profitieren. Der genaue Effekt ist aber natürlich schwer zu beziffern.

Was fehlt: Züge sind überlastet und unpünktlich, der Takt des Nahverkehrs lässt zu wünschen übrig, auf dem Land gibt es kaum gute Angebote. Anders ausgedrückt: Ein 9-Euro-Ticket macht noch keine Verkehrswende.

Nun ist die Politik gefragt. Die Nachfrage nach dem 9-Euro-Ticket ist da, und sie wäre es immer noch, wenn es 29 Euro kosten würde. Das Ticket könnte ein entscheidender Baustein der Verkehrswende sein. Die hat sich die Ampel vor einem Jahr in den Koalitionsvertrag geschrieben. Da steht unter anderem: "Wir wollen Länder und Kommunen in die Lage versetzen, Attraktivität und Kapazitäten des ÖPNV zu verbessern." Na dann.

Der für Mobilität zuständige Verkehrsminister Volker Wissing schwankt noch. Mal erklärt er, dass der Bund für den Nahverkehr gar nicht zuständig sei (was faktisch falsch ist). Ein andermal stellt er eine Nachfolgeregelung ab Anfang 2023 in Aussicht (will aber erst eine Evaluation bis November abwarten). Was denn nun?

Einzig und allein Finanzminister Christian Lindner ist zumindest klar: Es sei dafür im Finanzplan gar kein Geld vorgesehen, sagt er. Das ist keine Lüge, aber doch eine dreiste Verdrehung. Finanzpläne lassen sich ändern.

Es ist eine Frage der Prioritäten. Wofür geben wir unser Geld aus? Lindner brüstete sich gestern, er werde die Bürgerinnen und Bürger mit den geplanten Steuersenkungen "um mehr als zehn Milliarden Euro" entlasten. Siehste! Da haben wir eine einfache Priorität: Wer Steuern zahlt, wird entlastet. Doch Studenten, Rentner, Arbeitslose zahlen selten Steuern. Sie haben von Lindners Plänen nichts. Und jetzt raten Sie mal, wer viel im öffentlichen Nahverkehr unterwegs ist?

Wenn Lindner also zehn Milliarden für Steuerzahler in die Hand nimmt, wären da womöglich doch auch fünf Milliarden für die Verkehrswende übrig? Die Grünen meinen, ja. Und liebäugeln bereits mit der Abschaffung des Dienstwagenprivilegs, das allerdings indirekt auch die Automobilindustrie ankurbelt.

Das 9-Euro-Ticket jedenfalls hat eine Eigenschaft, die in der Politik eigentlich geschätzt wird: Es nützt doppelt. Es hat einen sozialen Effekt und zugleich einen positiven Klimaeffekt. Das nennt man Lenkungswirkung. Lindners Steuersenkungen haben jedenfalls keine solche Lenkungswirkung.

Das 9-Euro-Ticket läuft in knapp drei Wochen aus. Bis jetzt ist weder eine Nachfolgeregelung noch eine Verlängerung in Sicht. Kommende Woche wird es deshalb voraussichtlich eine Sondersitzung zwischen Bund und Ländern geben. Doch eine Einigung liegt in weiter Ferne. Was für eine verschenkte Chance.

Da läuft etwas falsch. Aber zwei FDP-Minister machen ja noch keine Regierungspolitik. Oder doch?

Ganz offensichtlich fällt es den FDP-Koalitionären schwer, die richtigen Prioritäten zu setzen. Der Vorwurf gegen Christian Lindner ist eben doch richtig: Er hat seine ganz eigene Agenda. Doch ist nicht auch der Finanzminister dem Koalitionsvertrag verpflichtet? Auf Dauer wird die Koalition so nicht regieren können.


Er scholzt wieder

Bundeskanzler Olaf Scholz absolviert heute einen eher kniffligen Termin. In Berlin stellt er sich in der "Sommer-Pressekonferenz" den Fragen der Hauptstadt-Presse. Das darf man sich ein wenig wie ein Katz-und-Maus-Spiel vorstellen. Wir Journalisten versuchen, Fragen zu stellen, denen Scholz inhaltlich und sprachlich möglichst wenig ausweichen kann. Er ist zwar der Getriebene, aber natürlich professionell genug, um sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Es gibt nämlich auf jede noch so knifflige Frage eine gute Antwort.

Deshalb werden wir viel zwischen den Zeilen lesen müssen. Lässt sich Scholz im Cum-Ex-Skandal wirklich nicht beirren? Wie steht es tatsächlich um die Koalition? Und lässt sich der Kanzler durch die schlechten Umfragewerte der SPD zu neuen Akzentsetzungen hinreißen?

Im schlimmsten Fall scholzt der Kanzler vor sich hin. Dann verfolgen Sie das Ganze am besten über eine Schlagwortsuche auf Twitter. Die Nutzer dort begleiten und kommentieren solche Veranstaltungen in der Regel äußerst pointiert.

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Russland ruft den UN-Sicherheitsrat an

Am Abend unserer Zeit tagt in New York der UN-Sicherheitsrat auf Antrag Russlands. Besprochen werden soll die Gefahr einer nuklearen Katastrophe im ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja. Russland beschuldigt die Ukraine, das AKW zu beschießen. Die Ukraine wiederum fürchtet, Russland könne selbst eine Atomkatastrophe auslösen und die Ukraine fälschlich beschuldigen.

Wie könnte eine Lösung aussehen? Beide Seiten müssten sich wohl aus der Umgebung des AKW zurückziehen. Doch darauf dürfen wir kaum hoffen. UN-Generalsekretär António Guterres hat bereits internationalen Zugang zum Gelände gefordert. Die Sitzung heute Abend wird vermutlich ohne Ergebnis und mit gegenseitigen Beschuldigungen enden.


Was lesen oder ansehen

Der Konflikt zwischen China und Taiwan verschärft sich. Eine Eskalation wäre auch für die Bundesrepublik verheerend, wie der deutsche Experte Sascha Pallenberg im Interview mit meinen Kollegen Hanna Klein und Axel Krüger aufzeigt.


Mein Kollege Florian Schmidt hat Christian Lindners Steuerentlastungspläne analysiert. Er zieht dabei ein positiveres Fazit als ich. Er resümiert: "Sie sind ökonomisch sinnvoll und – so seltsam das für viele mit Beißreflex klingen mag – auch gerecht."


Alcatraz war ein gefürchteter Ort, bot den Häftlingen aber eine außergewöhnliche Bequemlichkeit. Welche das war, erklärt mein Kollege Marc von Lüpke im "Historischen Bild".


Was mich amüsiert

Vielleicht sollten einfach alle mehr Geld verdienen.

Morgen schreibt meine Kollegin Camilla Kohrs an dieser Stelle. Ich wünsche Ihnen bis dahin einen friedlichen Donnerstag.

Ihr

Peter Schink
Stellvertretender Chefredakteur t-online.de

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