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Geiselnahme in Ulm: PTBS bei Soldaten ist ein großes Problem


Nach Geiselnahme in Ulm
"Das ist nur ein ganz kleiner Teil der Wahrheit"

Von Lucas Maier

Aktualisiert am 29.01.2024Lesedauer: 5 Min.
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Einsatz am Ulmer Münster: Ein Video zeigt den Moment des Zugriffs der Polizei. (Quelle: t-online)

Ein ehemaliger Soldat nimmt Geiseln in Ulm. Was könnte hinter der Tat stecken? Experten vermuten ein Problem, unter dem viele deutsche Soldaten leiden.

Ein ehemaliger Soldat der Bundeswehr hat am Freitag in Ulm Geiseln in einer Starbucks-Filiale genommen. Am Ende wurde der Mann durch Schüsse von einer SEK-Einheit schwer verletzt, die Geiseln blieben körperlich unversehrt.

Kurz nach der Tat berichtete "Bild", dass es sich bei dem mutmaßlichen Täter um einen Afghanistan-Veteranen handeln soll. Der 44-Jährige soll laut dem Bericht unter posttraumatischen Belastungsstörungen – kurz: PTBS – leiden. Ob dies zutrifft, ließ sich zunächst nicht bestätigen.

Der Bericht lenkt jedoch den Blick auf die tatsächlich hohe Zahl an deutschen Soldaten, die unter PTBS leiden. t-online beantwortet die wichtigsten Fragen dazu.

Was ist PTBS?

Ein Autounfall, sexueller Missbrauch oder ein Einsatz im Kriegsgebiet: Für PTBS gibt es viele verschiedene Auslöser. Generell sind es Ereignisse, die Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen bei Menschen auslösen, wie das Fachmagazin "MSD Manual" schreibt. Während die psychische Belastung bei vielen kurz nach der Situation wieder abnimmt, bleibt sie bei PTBS-Erkrankten weiter hoch. Hinzu kämen Symptome wie unkontrollierte Erinnerungen, Schlafstörungen oder starke Verunsicherung, schreibt das "Universitätsspital Zürich" in einer Veröffentlichung.

Bestehen die Symptome über einen längeren Zeitraum, besteht die Gefahr, dass diese chronisch werden. Deshalb sei eine schnelle Behandlung wichtig, schreiben die Experten aus Zürich. Gerade in Auslandseinsätzen sind Soldaten häufig mit Erlebnissen konfrontiert, die nur schwer psychisch zu verarbeiten sind. Die Folge kann eine PTBS sein, wie die Bundeswehr auf ihrer Website schreibt.

Wie viele Soldaten sind in Deutschland von PTBS betroffen?

In Deutschland gibt es nach Schätzung von Experten rund 400.000 aktiven und inaktiven Bundeswehrsoldaten mit Einsatzerfahrung. Laut einer Studie der Bundeswehr wurde 2022 bei 197 Soldatinnen und Soldaten eine PTBS-Neuerkrankung diagnostiziert. Bei 108 wurden andere psychische Erkrankungen festgestellt. Die Zahlen aus den Jahren zuvor sahen ähnlich aus. Der Studie zufolge erleiden drei Prozent aller Soldatinnen und Soldaten im Einsatz eine posttraumatische Belastungsstörung. Nur die Hälfte davon wird jedoch diagnostiziert. Einsatzbedingte psychische Erkrankungen werden erst seit 2011 von der Bundeswehr statistisch erfasst.

Experten wie Bernhard Drescher gehen davon aus, dass die Dunkelziffer, also die Zahl der unentdeckten Fälle, noch weitaus höher ist. "Das ist nur ein ganz kleiner Teil der Wahrheit", sagt Drescher, der Vorsitzender des "Bundes Deutscher Einsatz Veteranen e.V." Der Oberstleutnant a.D. ist bereits seit 14 Jahren in der Fürsorge von Einsatzveteranen aktiv. Seiner Erfahrung nach dauert es meist fünf bis sieben Jahre, bis PTBS-Betroffene überhaupt versuchen, sich Hilfe zu holen.

In der "Dunkelzifferstudie 2013" kommt die Technische Universität Dresden zu dem Schluss, dass die unerkannten Fälle von "PTBS und anderen psychischen Erkrankungen (Anm. d. Red. – bei Soldaten) auf etwa 50 Prozent geschätzt werden können". Andere Studien gehen von rund 35 Prozent beziehungsweise 20 Prozent aus.

Bernhard Drescher
Bernhard Drescher (Quelle: privat)

Bernhard Drescher

Drescher ist Oberstleutnant a.D. und Bundesvorsitzender des Bundes Deutscher EinsatzVeteranen e.V. Der Verein setzt sich seit 2010 für Einsatzveteranen außer Dienst ein. Drescher ist selbst Veteran und hat mit PTBS zu kämpfen. Derzeit unterstützt der EinsatzVeteranen e.V. rund 500 Familien von PTBS-Betroffenen.

Geht man davon aus, dass rund 20 Prozent der Soldaten von einsatzbedingten psychischen Erkrankungen betroffen sind, dann gibt es in Deutschland theoretisch rund 80.000 Betroffene. Auch wenn es sich dabei dann nicht nur um PTBS handelt, haben doch alle der einsatzbedingten psychischen Erkrankungen im Kern eines gemeinsam: "Sie werfen die Leute aus ihrem sozialen Leben."

Wie wirkt sich PTBS auf Betroffene aus?

Grundsätzlich unterscheidet man zwei Kategorien von PTBS-Betroffenen: extrovertiert und introvertiert. Seiner Erfahrung nach bildet die Gruppe der Introvertierten die überwiegende Mehrheit in Deutschland. "Das sind diejenigen, die in ihrem Leid zusammenfallen und nicht mehr am Leben teilnehmen."

 
 
 
 
 
 
 

Extrovertiertes Verhalten bei PTBS-Betroffenen zeigt sich häufig durch aggressives Verhalten etwa im Straßenverkehr oder auch in Form von häuslicher Gewalt, oft in Verbindung mit Alkoholismus. Generell sei die Zahl der Fälle, bei denen Betroffene zu Gewalt neigen, nach Einschätzung Dreschers gering: „Was nicht heißt, dass es nicht auch zu sehr exzessiven Gewaltausbrüchen kommen kann."

Bei der Geiselnahme von Ulm könnte es sich um ein klassisch extrovertiertes Verhalten handeln, ist Drescher überzeugt: "Wir haben die letzten 30 Jahre Glück gehabt, dass so etwas nicht passiert ist", sagt er.

Dabei sind die Aussichten auf eine erfolgreiche Behandlung von PTBS-Betroffenen grundsätzlich sehr gut. Die Erfolgsquote liegt schätzungsweise zwischen 80 und 90 Prozent, wie das Fachmagazin "Wissenschaft im Dialog" schreibt. Voraussetzung sei jedoch, eine umgehende Behandlung. Andernfalls könnten sich chronische Störungen entwickeln, die dann zu einer dauerhaften Einschränkung führen. Genau hier sehen verschiedene Experten ein Problem.

Welche Hürden gibt es für PTBS-Betroffene?

Wird eine PTBS-Erkrankung während der aktiven Bundeswehrzeit diagnostiziert, dann greifen die systeminternen Auffangmechanismen. "Die Bundeswehr entlässt niemanden krank", stellt Drescher klar. Das bedeutet: Betroffene können so lange im Arbeitsverhältnis bleiben, bis eine vollständige Genesung eintritt. Außerdem wird die medizinische Versorgung von der Bundeswehr gestellt und wenn nötig eine berufliche Umschulung in die Wege geleitet. "Die Möglichkeiten der Bundeswehr sind definitiv besser als im Zivilen, man bekommt hier auch relativ kurzfristig einen Therapieplatz". Möglich macht es das sogenannte Einsatzweiterverwendungsgesetz.

"Die meisten Patienten befinden sich beim Erkennen der PTBS allerdings bereits außer Dienst", berichtet Drescher aus seiner Erfahrung. Sie würden erst dann um "Hilfe rufen", wenn bereits "das ganze Leben in Trümmern liegt". Denn das Trauma löst meist andere Probleme wie Alkoholsucht, Schulden oder Beziehungsprobleme aus. Die Bundeswehr zahlt, anders als Arbeitgeber im zivilen Bereich, nicht in die Arbeitslosenversicherung ein: "Deshalb kommt dann auch sehr schnell der soziale Abstieg", so Drescher.

Warum finden ehemalige Soldaten so schwer Hilfe?

Bis ein ehemaliger Soldat den Anspruch auf Unterstützung geltend machen kann, muss er erst eine Vielzahl von Nachweisen erbringen. Unter anderem muss er beweisen, dass die PTBS aus einem Einsatz resultiert und einen Behinderungsgrad von mindestens 30 Prozent nachweisen.

"Allein dieser Prozess dauert bei seelischer Verwundung zweieinhalb Jahre, oftmals länger“, sagt Drescher: Er berichtet von einem Fall, bei dem es elf Jahre gedauert habe, bis der Mann Hilfe bekam. „Was in der Zeit mit den Menschen passiert, fragt sich die Administration der Bundeswehr nicht", sagt Drescher. Deshalb sei eine Kernforderung des "Bundes Deutscher Einsatz Veteranen e.V.", den "Verwaltungskrieg in der Bundeswehr zu beenden".

Ein weiteres Problem ist der generelle Mangel an Therapieplätzen in Deutschland. Im Schnitt warten Betroffene (im zivilen Bereich) gut 20 Wochen auf einen Therapieplatz, also fast fünf Monate, wie der "WDR" unter Berufung auf die "Deutsche Psychotherapeuten Vereinigung (DPtV)" berichtete. Im Nachgang der Geiselnahme in Ulm berichtete die "Bild" davon, dass der mutmaßliche Afghanistan-Veteran von einer Spezialklinik abgewiesen worden sei. "Sollte der Kamerad noch in der Bundeswehr gewesen sein oder zumindest wieder eingestellt worden sein, hätte das nicht passieren dürfen", sagt Drescher. "Ich kann nur vermuten, dass das ein absoluter Hilferuf war, ohne damit die Tat rechtfertigen zu wollen."

Hinweis: Falls Sie unter psychischen Folgen eines Einsatzes leiden, viel darüber nachdenken oder eine Person in Ihrem Umfeld haben, die Anzeichen von PTBS zeigt, finden Sie hier sofort Hilfe. Den "Bund Deutscher Einsatz Veteranen e.V." erreichen Sie hier.

Verwendete Quellen
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