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Atomausstieg: Die Regierung macht einen schweren Fehler


Tagesanbruch
Atomausstieg: Die Regierung macht einen schweren Fehler

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 11.01.2023Lesedauer: 6 Min.
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Das AKW Emsland darf nur noch bis Mitte April laufen.Vergrößern des Bildes
Das AKW Emsland darf nur noch bis Mitte April laufen. (Quelle: IMAGO/Malte Ossowski / SVEN SIMON)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

in Deutschland neigt man dazu, sachliche Themen emotional zu überhöhen und ideologisch aufzuladen. Das war während Corona so, und es ist in der Debatte über die Energieversorgung nicht anders. Dass wir schnellstens von fossilen Brennstoffen loskommen und auf erneuerbare Energien umsteigen müssen, dürfte jedem Vernunftbegabten klar sein. Doch der Weg in die emissionsfreie Zukunft ist gepflastert mit Vorurteilen und zugestellt mit quasireligiösen Verbotsschildern.

Das größte Schild ist der deutsche Atomausstieg. Umkehrbar ist er kaum noch, aber bis genügend Windräder, Solar- und Wasserstoffanlagen stehen, könnte man die verbliebenen Meiler immerhin noch etwas weiterlaufen lassen. Dass das klimaschonender wäre, als immer mehr Kohle zu verfeuern und noch mehr teures Flüssiggas über die Meere zu schippern, sollte ebenfalls jedem klar sein. Trotzdem wird es nicht gemacht, und das hat weniger mit rationalen Argumenten, aber viel mit diffusen Ängsten und ideologischer Politik zu tun. Leider wird schnell zur Zielscheibe von Spott und Diffamierungen, wer das sagt oder schreibt.

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Deshalb gibt es nicht mehr viele Leute, die in der Atomdebatte den Mund aufmachen. Das ist fatal, weil so die Logik den Luftschlössern geopfert wird. Da der Tagesanbruch aber ein Format ist, das Argumente höher gewichtet als Wunschdenken und gern gegen den Meinungsstrom rudert, habe ich heute – wo die Polizei mit der Räumung der Protestcamps am Braunkohletagebau bei Lützerath beginnt – Anna Veronika Wendland um ein Interview gebeten. Die Osteuropa- und Technikhistorikerin hat für ihre Habilitationsschrift über die "Kerntechnische Moderne" lange in AKW in der Ukraine und in Deutschland geforscht. Im vergangenen Jahr erschien ihr Sachbuch "Atomkraft? Ja bitte!", in dem sie aus Klimaschutzgründen für einen Energiemix aus Erneuerbaren und Kernenergie plädiert.

Frau Wendland, warum halten Sie den Atomausstieg für falsch?

Anna Veronika Wendland: Weil er unser Verbleiben in der fossilen Energiewirtschaft zementiert und uns zwingt, die Versorgungssicherheit gegen das Klimaziel auszuspielen. Deutschland braucht, selbst wenn es die Erneuerbaren ausbaut, gesicherte Leistung im Netz. Das muss jede Sekunde funktionieren, nicht im Jahresdurchschnitt und nicht nur, wenn das Wetter mitspielt. Den Absicherungsjob machen wegen des Atomausstiegs fast nur noch fossile Erzeuger. Nun könnte aber allein das RWE-Atomkraftwerk Emsland binnen 16 Monaten den Strom-Gegenwert der Lützerath-Kohle erzeugen – zu einem Hundertstel des CO2-Ausstoßes. Doch Emsland muss weichen, während in Lützerath die Bagger anrollen. Augenfälliger kann man die Absurdität der deutschen Energiestrategie gar nicht illustrieren.

Klimaminister Habeck hat durchgesetzt, dass zwar Lützerath abgebaggert, dafür aber der Kohleausstieg in NRW auf 2030 vorgezogen wird. Warum soll dieser Kompromiss schlecht sein?

Weil er Augenwischerei ist. Wenn wir die Pariser Klimaziele erreichen wollen, müssen wir den Kohleausstieg deutlich vorziehen und den Atomausstieg sein lassen.

Atomkraftgegner sagen, es sei teuer und unsicher, die letzten drei AKW mit neuen Brennstäben auszurüsten und über April hinaus weiterzubetreiben. Haben sie recht?

Nein. Die Anlagen sind in gutem technischem Zustand und haben alle sicherheitswichtigen Prüfzyklen bis zum heutigen Tag regelwerkskonform absolviert. Die oft zitierte Periodische Sicherheitsüberprüfung ist eine Zusatzmaßnahme, die betriebsbegleitend gemacht wird und nachholbar ist. Beim Stromgestehungspreis sind unsere AKW mit der Windkraft vergleichbar, und angesichts der hohen Preise für Terminkontrakte, in denen Kernstrom meist gehandelt wird, wäre ein Weiterbetrieb auch ökonomisch attraktiv. Doch wäre eine Laufzeitverlängerung nur sinnvoll, wenn die Betreiber Planungssicherheit bekommen. Niemand macht für zwei Jahre seine Personalplanung und -rekrutierung neu, schließt neue Verträge mit Servicefirmen. Das sollte dann schon eine Grundsatzentscheidung sein, die Anlagen bis Mitte der 2030er-Jahre zu betreiben und die Modernisierungen zu machen, die schon bei Merkels Laufzeitverlängerung 2010 geplant wurden.

Ausgemusterte Brennstäbe strahlen aber noch jahrtausendelang radioaktiv. Wie ließe sich das Endlagerproblem lösen?

Die Lösung können Sie in Finnland betrachten, dort wird gerade ein tiefengeologisches Langzeitlager für Brennelemente in Granitgestein vollendet. Die Endlagersuche in Deutschland war lange politisch belastet. Atomkritische Parteien blockierten sie, weil sie befürchteten, ein Fortschritt bei der Endlagersuche könne die Akzeptanz der Kernenergie erhöhen. Aber inzwischen ist die Akzeptanz der Kernenergie in Deutschland laut Umfragen ungeachtet des noch nicht gefundenen Endlagers hoch. Wir sollten nun die Wissenschaftler in Ruhe an der Auffindung des Endlagerstandortes arbeiten lassen, so wie es auch das Standortauswahlgesetz vorsieht. Dazu kommt, dass der Atommüll auch in den Standortzwischenlagern sicher aufgehoben ist. Wir haben im strengen Sinne kein "Problem", es ist noch nie jemand aus der Zivilbevölkerung durch diesen Atommüll zu Schaden gekommen.

Die Ampelregierung will die Energieversorgung vollständig auf Erneuerbare umstellen. Was soll daran falsch sein?

Falsch ist die Fixierung auf eine 100-Prozent-Lösung. Die von Robert Habeck angestrebten Ausbauziele bedeuten im Vergleich zu den zwei Jahrzehnten Energiewende, die hinter uns liegen, das Doppelte in der halben Zeit zu schaffen. Das ist illusorisch angesichts der angespannten Rohstoff- und Fachkräftelage. Wenn man dann auch noch wie die Bundesregierung alles daransetzt, ausgerechnet die klimafreundliche Kernenergie einzustampfen, dann bekommt man am Ende eine Fortschreibung der Fossilwirtschaft. Das ist genau das, was wir jetzt sehen.

Was bräuchte es denn aus Ihrer Sicht, um die deutschen Klimaziele doch noch einzuhalten?

Eine sofortige Kassierung des Atomausstiegs, Weiterbetrieb der noch betriebsfähigen Kernkraftwerke – das sind fünf bis sechs Anlagen – und stattdessen ein Vorziehen des Kohleausstiegs. Das wäre die Sofortmaßnahme. Mittelfristig sollten wir parallel zu den Erneuerbaren auch neue Kernkraftwerke bauen. Nur sie können nachgewiesenermaßen Kohlekraftwerke klimafreundlich ersetzen.

Wie erklären Sie es sich, dass die Energiedebatte in Deutschland eher emotional statt rational geführt wird?

Technik ist immer politisch. An Energietechnologien knüpfen die Menschen Vorstellungen und Wünsche, wie die Gesellschaft auszusehen hat, wie sie in Zukunft leben wollen. Und diese Vorstellungen sind mit starken Emotionen verbunden. Hinzu kommt, dass die Erlebnisgeneration der westdeutschen Atomkontroverse immer noch Energiepolitik macht. Das weiß auch Robert Habeck. Er will 2025 grüner Kanzlerkandidat werden und braucht dafür die Generation Trittin. Die Grünen haben so gut wie alle Alleinstellungsmerkmale aus ihrem Gründungsprogramm geworfen: die Auflösung der Nato, die Demilitarisierung, die Basisdemokratie, die Ämterrotation. Die Ablehnung der Atomkraft ist der einzige Identitätsanker aus der alten Zeit, der ihnen geblieben ist. Den verteidigen sie jetzt.

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Erklärt das wirklich schon, dass Fakten geringer gewichtet werden als Gesinnung?

Durch die überlebte Kontroverse sind auch die Technik-Images entstanden, die heute unsere Diskussion polarisieren. Erneuerbare: angeblich immer sanft, dezentral und demokratisch. Die Atomkraft dagegen: bedrohlich, zentralistisch und autoritär. Doch in unseren Kernkraftwerken herrscht mehr Mitbestimmung als in den gewerkschaftsfeindlichen Tesla-Fabriken, die jetzt als Ecksteine der Energiewende gelten. Die skandinavischen Demokratien Schweden und Finnland sind Kernenergieländer, und die Diktatur China beherrscht den Fotovoltaikmarkt. Da kann man also diskutieren, was "Freiheitsenergien" sind. Wie demokratisch und freiheitlich Technik ist, das bestimmt immer die Gesellschaft, die sie baut und betreibt.


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Was amüsiert mich?

Ein bisschen Schnee täte schon gut.

Ich wünsche Ihnen einen kühlen, aber sonnigen Januartag. Morgen schreibt Miriam Hollstein den Tagesanbruch, von mir lesen Sie am Freitag wieder.

Herzliche Grüße

Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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