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Reichstagsbrand vor 90 Jahren: Ein Drama mit brutalen Folgen


Tagesanbruch
Demokratie in Flammen

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 28.02.2023Lesedauer: 6 Min.
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In der Nacht auf den 28. Februar 1933 brannte der Reichstag in Berlin.Vergrößern des Bildes
In der Nacht auf den 28. Februar 1933 brannte der Reichstag in Berlin. (Quelle: Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

als die Deutschen heute vor 90 Jahren erwachten, war ihr Land ein anderes. Die Veränderungen hatten sich angebahnt, aber jetzt brachen die Dämme. Der neue Kanzler regierte seit vier Wochen und hatte sofort klargemacht, was er vorhatte: Sein radikales Programm, seine unerbittliche Entschlossenheit und seine raffinierte Selbstinszenierung begeisterten Millionen Menschen, die unter Inflation, Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit litten. Sie trauten dem "Führer" zu, Deutschland nach dem verlorenen Weltkrieg zu alter Stärke zurückzuführen. Andere erzitterten vor ihm und seinen Schlägerhorden.

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In diesen vier Wochen hatten die Nationalsozialisten begonnen, ihre Diktatur vorzubereiten. Wer nicht blind war oder wegschaute, konnte es sehen. Trotzdem spielten viele, denen der "Führerstaat" nicht geheuer war, die Gefahr herunter: "Der wird sich die Hörner abstoßen", meinten sie, "der Reichspräsident wird ihm schon Grenzen setzen." Wie falsch sie damit lagen, mussten die Beschwichtiger an diesem 28. Februar 1933 erkennen, und nun konnte auch niemand mehr die Lage schönreden. Am Vorabend war ein Feuer im Reichstag ausgebrochen, in der Nacht stand der Plenarsaal in Flammen. Bis heute rätseln Historiker über den genauen Ablauf der Brandstiftung: War der Niederländer Marinus van der Lubbe der Alleintäter oder hatte er Helfer, Auftraggeber?

Ungeklärte Hintergründe – doch schon wenige Stunden nach dem Anschlag wussten die Nazis diesen zu instrumentalisieren: Er lieferte ihnen den perfekten Vorwand, um der Demokratie den Todesstoß zu versetzen. Ein "kommunistisches Komplott" witterten sie und eröffneten sofort die Jagd auf ihre Gegner. "Jeder kommunistische Funktionär wird erschossen, wo er angetroffen wird!", keifte Kanzler Adolf Hitler. "Die kommunistischen Abgeordneten müssen noch in dieser Nacht aufgehängt werden!" SA-Sturmtrupps durchkämmten Arbeiterviertel, verschleppten Zehntausende Kommunisten, Sozialdemokraten und andere Oppositionelle in Gefängnisse, errichteten die ersten Konzentrationslager.

Die Brutalität der Nazis beim Errichten ihres Terrorregimes erschreckt auch rückblickend immer noch. Doch die wichtigste Lehre dieses historischen Datums ist eine andere: Den Zugriff auf die Macht hätte die Hitler-Meute nicht ohne Repräsentanten des demokratischen Staates bekommen. Die Extremisten konnten zugreifen, weil andere ihnen den Arm führten. Am Tag nach dem Reichstagsbrand, heute vor 90 Jahren, erließ Reichspräsident Paul von Hindenburg unter dem Eindruck der Feuersbrunst eine Notverordnungund setzte zum "Schutz von Volk und Staat" die wichtigsten Grundrechte außer Kraft, darunter die Meinungs-, die Presse- und die Versammlungsfreiheit. Totales Durchgriffsrecht für die Regierung: Jetzt sollte mal richtig aufgeräumt werden im brodelnden Land!

Der oberste Repräsentant der Weimarer Republik brach der Republik das Genick. Gesetze verloren ihre Gültigkeit, die Freiheit wich der Willkür. Die neuen Machthaber durften ihre Gegner nun ohne besonderen Anlass verfolgen, verhaften, wegsperren. Der Präsident bereitete den Weg für den "permanenten Ausnahmezustand und die Liquidation des Rechtsstaats", schreibt Ulrich Herbert, der zu den führenden deutschen Historikern zählt. Die Notverordnung half, die "moderne totalitäre Diktatur zu etablieren", analysiert sein Kollege Michael Kißener.

Hindenburg lieferte den Staat den gefährlichsten Staatsfeinden aus – und gab ihnen mächtigen Rückenwind für die Reichstagswahl wenige Tage später: Am 5. März 1933 errang die NSDAP fast 44 Prozent der Stimmen. Gemeinsam mit der Deutschnationalen Volkspartei besaßen die Nazis nun die parlamentarische Mehrheit. Doch das Parlament brauchten sie gar nicht mehr: Mit einem eilig zusammengezimmerten "Ermächtigungsgesetz" schwang Hitler sich zum Diktator des gleichgeschalteten Staates auf. Wenige Jahre später brannte Europa, starben Millionen Menschen auf Schlachtfeldern, in Vernichtungslagern, in ausgebombten Städten.

90 Jahre nach Hindenburgs fataler Verordnung scheint das damalige Drama weit weg zu sein. Dabei ist dessen Lehre brandaktuell: Demokratie ist kein unumstößlicher Zustand, dessen man sich dauerhaft sicher sein kann. Sie ist verletzlich, sie braucht Pflege und Schutz. Sie bleibt nur dann erhalten, wenn sie täglich belebt, gestärkt und eben auch gegen ihre Feinde verteidigt wird – ob die nun Rechtsextreme oder Linksextreme sind, ob sie den Staat angreifen oder in Staatsämtern sitzen, ob sie Trump, Putin oder Xi heißen. Wer Diktatoren oder Autokraten heute zu viel zugesteht, braucht sich nicht zu wundern, wenn er morgen seine Freiheit verliert.


Finnland macht den ersten Schritt

Apropos Schutz: Man könnte den Jahresbericht der Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, Eva Högl, heute für das wichtigste militärische Thema halten. Doch ein anderes ist bedeutender. Seit Wladimir Putin die Ukraine überfallen hat, drängen Schweden und Finnland in die Nato – eine jener Kriegsfolgen, mit denen der Kremlherrscher wohl nicht gerechnet hat. Ursprünglich wollten die beiden Nordländer den Weg in die Verteidigungsallianz gemeinsam gehen, doch das verhinderte Recep Tayyip Erdoğan: Weil einer Erweiterung alle Nato-Mitglieder zustimmen müssen, besitzt der türkische Präsident ein Vetorecht und spielt es genüsslich aus. Als Voraussetzung für seine Zustimmung zum schwedischen Beitritt verlangt der Autokrat aus Ankara von den Schweden eine härtere Gangart gegen kurdische Aktivisten, die er "Terroristen" nennt. Zwar deutet sich dank schwedischer Erdbebenhilfe und amerikanischem Druck ein Einlenken bei dieser Frage an, dennoch wird Finnland nun den ersten Schritt alleine tun.

Heute stimmt das Parlament in Helsinki über die Nato-Mitgliedschaft ab, direkt im Anschluss wollen Ministerpräsidentin Sanna Marin und Präsident Sauli Niinistö den Beschluss absegnen. So nervenaufreibend Erdoğans Geschacher auch sein mag, so richtig ist diese schnelle Lösung. Schließlich hat Finnland – nicht Schweden – eine 1.300 Kilometer lange Landgrenze mit Russland. Es braucht den Nato-Schutzschirm dringender.


Baerbock bekommt Besuch

Das deutsch-israelische Verhältnis befindet sich mal wieder in schwierigem Fahrwasser: Da ist zum einen die angespannte Lage in den Palästinensergebieten, wo die rechtsreligiöse Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu den Siedlungsbau vorantreibt. Da sind zum anderen die als "Justizreform" bemäntelten Angriffe auf die Demokratie, gegen die seit Wochen Zehntausende Israelis demonstrieren.

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Die Berliner Ampelkoalition hat sich leider noch nicht auf eine gemeinsame Linie im Umgang mit Israel verständigt. Das wurde offensichtlich, als FDP-Justizminister Marco Buschmann kürzlich das Land besuchte und damit die grüne Außenministerin Annalena Baerbock erzürnte. Heute hat die deutsche Chefdiplomatin selbst Gelegenheit zum kritischen Dialog unter Freunden: Sie bekommt Besuch von ihrem israelischen Amtskollegen Eli Cohen. Er will in Berlin das Holocaust-Mahnmal besuchen, Vertreter der Jüdischen Gemeinde treffen und über die wachsende Gefahr iranischer Atomwaffen reden.


Schluss mit dem Hickhack

Es soll der Beginn eines "neuen Kapitels" sein: Gestern haben sich der britische Premierminister Rishi Sunak und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf einen Kompromiss im jahrelangen Brexit-Streit über das Nordirland-Protokoll geeinigt. Das "Rahmenabkommen von Windsor" sieht Mister Sunak zufolge Erleichterungen bei den von Brüssel verlangten Warenkontrollen zwischen Großbritannien und Nordirland vor. So soll es für Güter, die für Nordirland bestimmt sind, künftig eine "grüne Fahrspur" geben, ähnlich dem grünen "Nichts zu verzollen"-Ausgang am Flughafen.

Frau von der Leyen sieht die Schlüsselforderungen der EU erfüllt: Zum einen gebe es "keine harte Grenze" auf der irischen Insel, wie es das fast 25 Jahre alte Karfreitagsabkommen vorsieht. Zum anderen sei der Schutz des EU-Binnenmarkts durch mehrere Vorkehrungen garantiert. Klingt plötzlich völlig undramatisch. Wieso hat man sich dann so lange gezankt?


Was lesen?

Gibt es einen Ausweg aus dem Ukraine-Konflikt? Die Nato-Staaten drängen offenbar auf ein baldiges Kriegsende, und Präsident Selenskyj kann Chinas jüngster Initiative etwas abgewinnen. Was hinter den Berichten über Friedensverhandlungen steckt, erklärt Ihnen mein Kollege Daniel Mützel.


Sanktionen, Sanktionen, Sanktionen: So will der Westen Russland dazu bringen, von der Ukraine abzulassen. Unser Kolumnist Wladimir Kaminer erklärt Ihnen, warum Putin das wenig juckt.


Jürgen Klopp durchlebt in Liverpool eine Dauerkrise, Julian Nagelsmann ein Auf und Ab beim FC Bayern. Was für den deutschen Rekordmeister daraus folgt, analysieren meine Kollegen Robert Hiersemann und Florian Wichert.

An Lionel Messi führt kein Weg vorbei. Die Fifa hat den WM-Helden erneut zum Weltfußballer des Jahres gekürt. Das sorgt in Madrid allerdings für Diskussionen.


Was war?

Warum lag die berühmte Berliner Viktoria-Skulptur 1939 am Boden? Sie erfahren es auf unserem Historischen Bild.


Was amüsiert mich?

In Berlin hat die Politik ihre eigenen Gesetze.

Ich wünsche Ihnen einen solidarischen Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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