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Erstarkender Populismus: Neue Pflicht für alle Bürger


Tagesanbruch
Neue Pflicht für alle Bürger

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 06.09.2023Lesedauer: 6 Min.
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Müssen bald alle Bürger einen Pflichtdienst leisten?Vergrößern des Bildes
Müssen bald alle Bürger einen Pflichtdienst leisten? (Quelle: imago images)

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Die Sommerpause ist zu Ende, das politische Personal steht wieder voll im Saft. Einen Monat vor den Landtagswahlen in Bayern und Hessen verschärft sich der Ton: Säbel statt Florett, Provokation statt Pragmatismus, Ausgrenzung statt Argumente. Weil CDU und CSU kaum von der Umfrageschwäche der Ampelparteien profitieren und mit wachsendem Unbehagen auf den Höhenflug der AfD starren, drehen die Parteichefs der Unionsparteien die Lautstärkeregler auf: Schriller geht immer!

Der Fall Aiwanger hat ihnen dafür unverhofft eine Steilvorlage geliefert. Längst geht es nicht mehr um das widerliche Flugblatt, die verkorksten Sprüche und die späte Reue des Freie-Wähler-Chefs, stattdessen werden nun die Kritiker selbst in die Mangel genommen: Friedrich Merz und Markus Söder gerieren sich als Rächer aller Bürger, die Aiwanger zu Unrecht an den Pranger gestellt sehen und in der Medienberichterstattung eine Kampagne linksgrüner Journalisten wittern. Dabei werden bedenkenlos Fakten verwischt und Themen vermengt. Inflation, Heizungsgesetz, Erziehungsfuror: Die Ampel wird für alles verantwortlich gemacht, was schlecht läuft oder unangenehm ist. Plötzlich sind nicht mehr Putin oder die merkwürdigen Erinnerungslücken eines Spitzenpolitikers das drängendste Problem, sondern "die da oben", die "alles falsch machen", und "die in den Redaktionen", die "jeden Furz zum Skandal aufblasen". O-Ton aus den Leserzuschriften der vergangenen Tage. In einer neuen Umfrage von gestern Abend schießen die Freien Wähler nach oben.

In so einer aufgeheizten Stimmung darf man von einem Oppositionsführer erwarten, dass er kühlen Kopf behält. Dass er integriert, statt zu spalten, dass er sich umsichtig äußert, statt dem Populismus zu frönen. Zumindest dann, wenn er nicht über politische Gegner, sondern über ganz normale Bürger spricht.

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Friedrich Merz tut das Gegenteil: Er gießt genüsslich Öl ins Feuer der gesellschaftlichen Konflikte. "Nicht Kreuzberg ist Deutschland, Gillamoos ist Deutschland!", verkündete er allen Ernstes am Montagabend während seiner Rede in einem bayerischen Bierzelt (soweit man weiß im nüchternen Zustand). Das muss man erst mal sacken lassen, aber auch zwei Tage später hat der Spruch kein Gramm von seinem Gift verloren.

Seit Jahren hat die CDU in Großstädten immer weniger Wähler und stellt dort immer weniger Bürgermeister. Friedrich Merz hat offenkundig nicht vor, daran etwas zu ändern. Lieber vertieft er die Gräben zwischen Land und Stadt, indem er geografische Milieus gegeneinander in Stellung bringt. Bis zu Aiwangers Latrinenparole, "die Mehrheit" müsse sich "die Demokratie zurückholen", ist es da nicht mehr weit.

Nun mag man sagen: Na ja, Bierzelt-Polemik halt, da muss man nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Doch bei Merz geht die Sache tiefer: Sie bezeugt seine Verachtung für bestimmte gesellschaftliche Milieus in Deutschland. Sein politisches Feindbild sind Bürger in progressiven, diversen, tendenziell grün wählenden Multikulti-Vierteln deutscher Großstädte. Die macht er für den Niedergang des Landes verantwortlich: fordern Verbote gegen alles, was Spaß macht, pflegen aber einen laschen Umgang mit Kriminellen und hegen zu viel Toleranz gegenüber Migranten, Arbeitslosen, Menschen mit alternativen Lebensentwürfen.

Bekanntlich steckt in jedem Klischee ein Körnchen Wahrheit – mehr aber eben nicht. Natürlich hat Berlin-Kreuzberg mit anderen Problemen zu kämpfen als Abensberg in Niederbayern. Aber daraus zu schließen, dass die rund 300.000 Einwohner des Hauptstadtbezirks "nicht Deutschland" seien, ist eine Anmaßung. Was würde Herr Merz wohl sagen, spräche man Millionären mit Privatflugzeugen das Deutschsein ab?

Politiker dürfen zuspitzen. Politische Gegner geißeln: Auch das ist okay. Aber wenn sie beginnen, Bürger gegeneinander aufzuhetzen, wird der gesellschaftliche Zusammenhalt erschüttert. In Popularistan drüben auf der anderen Seite des Atlantiks sehen wir, wohin das führt: Dort schreien sich die politischen Lager nur noch gegenseitig an und wünschen einander Tod und Teufel an den Hals. Soweit dürfen wir es hierzulande nicht kommen lassen. Auch der Chef der größten Oppositionspartei trägt dafür Verantwortung.

Deshalb sollte Friedrich Merz heute gut zuhören, wenn der Bundespräsident sein Herzensanliegen vorträgt: Frank-Walter Steinmeier setzt sich dafür ein, eine Pflichtzeit für alle Bürger einzuführen. Ob nach der Schulzeit, als Abwechslung vom Arbeitsleben oder vor der Rente: Jeder kann sich solidarisch für Mitbürger engagieren. Ob man im Seniorenheim aushilft oder Kinder bei den Hausaufgaben unterstützt, in der Flüchtlings- oder Behindertenunterkunft jobbt, im Krankenhaus oder in der Bundeswehr dient: Überall im Land werden Helfer gebraucht. Und das Beste ist: Man lernt dabei mehr über das Leben als in den meisten Berufen, wie ich aus eigener Erfahrung bezeugen kann.

Heute macht Steinmeier den nächsten Schritt, um sein Anliegen voranzutreiben: Im Schloss Bellevue diskutiert er mit den Abgeordneten des Bundestagsausschusses "Bürgerschaftliches Engagement" über seine Pläne. Er ist überzeugt, dass ein altersunabhängiger Pflichtdienst den gesellschaftlichen Zusammenhang und die Demokratie stärken würde. Tatsächlich bekommt er dafür sogar mehr Zuspruch aus der Union als aus den Ampelparteien. Mehr geht aber immer. Wenn ich höre, wie Friedrich Merz derzeit daherredet, wünsche ich mir, dass er dem Bundespräsidenten heute nicht nur gut zuhört. Sondern sich am besten gleich selbst zum Dienst meldet. Im Klinikum "Am Urban" in Kreuzberg freuen sie sich über jede helfende Hand.


Generaldebatte im Bundestag

In der Haushaltswoche des Bundestags steht heute der Kanzleretat auf der Tagesordnung: Käpt'n Olaf erklärt seinen Sparkurs und muss sich von den Freibeutern aus der Opposition piesacken lassen. Die monieren nicht ganz zu Unrecht, dass die Ampelleute zwar vorne den Rotstift anlegen – aber hintenrum mit Schattenhaushalten und Sondervermögen eben doch neue Schuldenberge anhäufen.

Ebenso aufschlussreich wie die Attacken von CDU und CSU könnten die Zwischentöne aus den Ampelparteien sein. Schließlich verlaufen diverse Konfliktlinien zwischen den Koalitionspartnern, etwa bei den staatlichen Subventionen für energieintensive Firmen: Die Fraktionen von SPD und Grünen fordern sie – der Kanzler und die FDP lehnen sie ab.

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Für einen Industriestrompreis macht sich heute aber auch noch ein anderes Gremium stark: Die Ministerpräsidentenkonferenz, die erstmals seit 2018 wieder in Brüssel tagt, will bei EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dafür werben. Ganz vorn dabei: das rot-schwarze Duo Stephan Weil (SPD) und Hendrik Wüst (CDU). Das wird noch lustig.


Ohrenschmaus

Mick ist 80, Keith 79, Ron auch schon 76: Die Rolling Stones eine Rentnerband zu nennen, ist keine Beleidigung. Trotzdem haben die Senioren immer noch mehr Power als viele der jungen Hühner, die heutzutage über Bühnen hüpfen. Nach siebenjähriger Pause veröffentlichen die alten Herren nun ein neues Album: "Hackney Diamonds" heißt es, und die Besetzung klingt vielversprechend: Am Bass ist erstmals seit 30 Jahren wieder Bill Wyman zu hören, auch Ex-Beatle Paul McCartney zupft im Hintergrund. Wie das Ganze klingt, wollen die Steingreise heute verraten, wenn sie sich vom amerikanischen Talkmaster Jimmy Fallon anstupsen lassen. Bis es so weit ist, ziehen wir uns mit Vergnügen noch mal diesen Klassiker rein.


Bild des Tages

Auf das Feuer folgt die Flut: In Griechenland schlägt die Klimakrise brutal zu, das Land wird Meteorologen zufolge von den heftigsten Wolkenbrüchen heimgesucht, die jemals in Europa aufgezeichnet wurden. Ganze Dörfer versinken in den Fluten – und heute soll es noch mehr regnen.


Lesetipps

Ist der Sparkurs der Ampelregierung gut oder schlecht? Meine Kollegen Christine Holthoff und Tim Kummert haben treffende Argumente.


Selbst die Sicherheitsbehörden bleiben nicht vom Sparkurs verschont. Das Bundeskriminalamt ist alarmiert und sorgt sich sogar um genügend Munition, berichtet unser Reporter Johannes Bebermeier.


Die Hochstapler-Affäre in der AfD reißt tiefe Gräben in der Partei: Die Basis macht Druck auf den Bundesvorstand, die Lebensläufe der Kandidaten für die Europawahl genau zu prüfen. Der jedoch möchte am liebsten nicht so genau hinschauen. Das Ergebnis ist brisant, schreiben unsere Reporter Annika Leister und Jonas Mueller-Töwe.


Eine neue Corona-Variante beunruhigt Experten. Was über "Pirola" bekannt ist, erklärt Ihnen meine Kollegin Christiane Braunsdorf.


Zum Schluss

Vorne Sparkurs, hintenrum Schulden: Finanzpolitik auf Lindner-Art.

Ich wünsche Ihnen einen engagierten Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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