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Russland, Ukraine & die Nato – könnte Putin den Dritten Weltkrieg entfachen?


Tagesanbruch
Russland gegen die Nato: Das Szenario des Schreckens

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 14.02.2024Lesedauer: 7 Min.
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Kampfjet des Nato-Mitglieds Belgien bei einem Abwehrmanöver im Glarnerland.Vergrößern des Bildes
Kampfjet des Nato-Mitglieds Belgien bei einem Abwehrmanöver. (Quelle: IMAGO/Björn Trotzki)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

manche Sätze sind nur im Konjunktiv in Ordnung. Zum Beispiel solche, die "der Dritte Weltkrieg" enthalten. "Der Dritte Weltkrieg hätte …", das heißt: vergangen, irreal, kann nicht passieren – geht klar. "Der Dritte Weltkrieg würde …": Das rückt uns schon ein bisschen näher auf die Pelle, ist aber noch akzeptabel. "Der Dritte Weltkrieg könnte …": Das wollen wir allerdings nicht mehr. "Der Dritte Weltkrieg wird, falls er beginnt …" ist definitiv zu dicht dran an unserer Realität.

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Das Szenario des Schreckens hat seit Russlands Überfall auf die Ukraine eine Bewegung in die falsche Richtung gemacht. Aber in den Köpfen der meisten Menschen befindet es sich noch immer im sicheren Hafen des "hätte" und "würde". Dass russische Granaten in den Stellungen deutscher, litauischer oder britischer Einheiten detonieren und Panzer aus dem Osten auf Nato-Territorium vordringen, würde man nicht als lebensnahen Polit-Thriller einordnen, sondern weit hinten bei den billigen Katastrophenfilmen ins Regal stellen.

Bei unseren östlichen Nachbarn, in Polen etwa oder im Baltikum, sieht man die Sache anders. Dort kann man zu Putin und seinem kleinen Bruder, dem weißrussischen Diktator Lukaschenko, direkt durch den Wald über die Grenze spazieren. Die Nähe ruft Nervosität hervor, das ist verständlich. Doch wie man sieht, kommt Russlands Armee gegen die Ukraine nur langsam und unter massiven Verlusten voran. Gegen ein Bündnis von 31 Nationen mit nahezu einer Milliarde Einwohnern und einer Wirtschaftskraft, die weltweit ihresgleichen sucht, würde also selbst Putin keinen Krieg riskieren. Oder?

Verabschieden wir uns einen Moment lang vom Gedanken an Panzerkolonnen. Ersetzen wir sie vor unserem geistigen Auge durch eine Gruppe aufgebrachter Demonstranten. Stellen wir uns vor, dass diese Demonstranten in der lettischen Hauptstadt Riga mehr Respekt für die Rechte der russischen Minderheit fordern. Plötzlich tauchen von irgendwoher ein paar aggressive Typen auf und attackieren die Protestler mit Baseballschlägern. Einige Demonstranten werden schwer verletzt. Auf Telegram und Facebook sind schockierende Bilder zu sehen. Im Osten Lettlands, wo die russische Bevölkerung in der Mehrheit ist, kommt es daraufhin zu schweren Ausschreitungen. Schon zuvor haben Berichte über Diskriminierungen in den sozialen Medien die Runde gemacht, darunter Pöbeleien und Spuckattacken. Jetzt explodiert der aufgestaute Frust. Ämter und Rathäuser in der Region werden von Protestierenden besetzt.

Die lettische Polizei erklärt, man habe einen der Schläger von Riga gefasst, es handele sich um einen russischen Staatsbürger. Gerüchte, dass die Angreifer aus den Reihen der Polizei stammten, seien Teil einer systematischen Desinformationskampagne. Auch bei den vielen angeblichen Übergriffen gegen Russen, die in Lettland leben, handele es sich zum Großteil um Fake News. Als Sicherheitskräfte versuchen, die besetzten Gebäude im Osten des Landes zu räumen, fallen Schüsse. Es gibt zahlreiche Tote in den Reihen der Polizei, aber auch Aktivisten sterben. Die Lage eskaliert. Der Regierung in Riga entgleitet die Kontrolle über die grenznahe Unruhe-Region.

Die Eskalation geht weiter: Putin verurteilt das lettische Vorgehen scharf und spricht von Pogromen gegen Russen. Prompt treffen Kolonnen von Lastwagen, die nach Moskaus Angaben Spenden humanitärer Organisationen enthalten, in den "befreiten" Ortschaften ein. Gewalttätige Demonstrationen sind nun auch im benachbarten Estland ausgebrochen, wo ebenso wie in Lettland ein Viertel der Bevölkerung aus Russen besteht. Die dortige Regierung sieht Provokateure am Werk. Der Kreml bestreitet jede Beteiligung.

Lettland hat mittlerweile Armee-Einheiten in die Krisenregion geschickt, die in Kämpfe mit Aufständischen verstrickt wird. Die sind seltsamerweise gut ausgebildet und schwer bewaffnet. In Moskau spricht Außenminister Sergej Lawrow von "Massakern" und prangert einen "Genozid an unseren Landsleuten jenseits der Grenze" an. Mit einem groß angelegten Luftlandemanöver nahe dem Baltikum wolle man "die Extremisten in den Regierungspalästen von Riga und Tallinn" daran erinnern, dass es rote Linien gebe. Nato-Generäle sind alarmiert und warnen vor einem heimlichen russischen Truppenaufmarsch unter dem Deckmantel der Militärübung.

Im Hauptquartier der Allianz in Brüssel fällt die Entscheidung, die Schnelle Eingreiftruppe sofort ins Baltikum zu verlegen. In die Sitzung platzt die Nachricht, eine Gruppe von Soldaten der dort bereits stationierten Nato-Einheiten sei von Aufständischen überrascht, gefangen genommen und verschleppt worden. Geheimdienste melden: Ein Teil der Geiseln wurde über die Grenze nach Russland verschleppt. Nur wenige Stunden später beschuldigt Moskau "die lettischen Regierungsterroristen und ihre Hintermänner in Washington", für eine Explosion in einem russischen Treibstofflager verantwortlich zu sein. Um die Bevölkerung im "befreiten Teil" Lettlands vor Vergeltungs- und Racheakten zu schützen, habe man Spezialkräfte dorthin entsandt. Satellitenaufnahmen zeigen, dass auch Panzer und mechanisierte Infanterie die Grenze überschritten und die Stellungen der Separatisten übernommen haben. Putin warnt die Nato vor einer einseitigen Provokation und setzt seine Nuklearstreitkräfte in Bereitschaft.

An dieser Stelle hören wir mit unserer imaginierten Krise lieber auf. Wer möchte, kann ein ähnliches Szenario in Gänze bei einem Planspiel erleben, das die Kollegen von der BBC filmisch begleitet haben (hier im Video, auf Englisch). Das fiktive Vorgehen Putins ist dabei an die russische Annexion der Krim angelehnt und von der anschließenden Besetzung des Donbass durch angebliche Separatisten inspiriert.

Der Beistandspakt der Nato soll ihre Mitglieder vor einer solchen Bedrohung eigentlich schützen – doch jeder Pakt hat seine Schwächen. Was macht einen "bewaffneten Angriff auf einen Mitgliedstaat" eigentlich aus? Sind die dubiosen Aufständischen tatsächlich Moskaus Männer oder werden sie vom Kreml nur wohlwollend begleitet? Selbst wenn Putins Beteiligung auf der Hand liegt, ist für nicht wenige Bündnispartner der Anreiz groß, die Sache kleinzureden. Denn einen Krieg mit der Nuklearmacht Russland, das will niemand. Wenn die Karten schließlich auf den Tisch kommen, stehen schon ganze Landstriche unter Kontrolle der Aufständischen und sind zur Annexion bereit. Dann ist die Sache gelaufen. Der Nato bliebe nur, einen Rückeroberungskrieg zu beginnen. Diese Hürde ist noch einmal höher.

Der Beistandsartikel der Nato ist kein einklagbarer Rechtsanspruch, sondern lediglich eine gemeinsame Willensbekundung. Ein Aggressor wie Putin kann darauf spekulieren, dass dieser Wille wankt. Mit einem Donald Trump im Weißen Haus dürfte die Standfestigkeit des wichtigsten Nato-Partners einem Wackelpudding gleichen. Tricks und Täuschung reduzieren das Risiko des Angreifers, ein Bündnis von fraglicher Festigkeit genauso. Die Nato kann das nur dadurch kompensieren, dass sie Putin für den Fall, dass sein Plan nicht aufgeht, eine katastrophale Schadensbilanz in Aussicht stellt. Dazu muss sie schlagkräftiger sein als jetzt, und das schneller als geplant. Die Litauen-Brigade, die Deutschland ins Baltikum entsendet und die gerade einmal 5.000 Soldaten umfasst, wird erst im Jahr 2027 vollständig einsatzbereit sein.

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In Europa gilt offensichtlich immer noch das Motto Eile mit Weile. Als wäre die Gefahr eines Krieges mit Russland eben doch nur ein billiger, weltferner Katastrophenfilm. Gebe Gott, dass wir uns da nicht täuschen.


Wer mäßigt Netanjahu?

Rund 300.000 Einwohner hatte die Stadt Rafah im Süden des Gazastreifens vor dem Krieg. Jetzt halten sich laut UN-Angaben 1,3 Millionen Menschen dort auf: Flüchtlinge aus den nördlichen Regionen des umkämpften Gebiets. Angesichts der Pläne des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu, den letzten Ort unter Hamas-Kontrolle mit einer Bodenoffensive zu überziehen, wächst die Sorge vor einer Verschlimmerung der humanitären Katastrophe. Daran ändert auch der Vorschlag Israels wenig, im Grenzgebiet zu Ägypten 15 Lager mit jeweils 25.000 Zelten zu errichten, um die Zivilbevölkerung zu evakuieren.

Anders als CDU-Chef Friedrich Merz, der bei seinem jüngsten Israel-Besuch Verständnis für die geplante Operation bekundete, schlägt Annalena Baerbock in der Rafah-Frage einen mahnenden Ton an. Die Außenministerin fordert Israel auf, das Völkerrecht zu achten und sichere Korridore zu schaffen. Damit steht sie im Einklang mit der Position von US-Präsident Joe Biden, findet bislang aber genauso wenig Gehör. Heute bricht die Chefdiplomatin zu ihrer fünften Israel-Reise seit dem Terrorangriff der Hamas auf. In Gesprächen mit Staatspräsident Izchak Herzog, Premier Netanjahu und ihrem Amtskollegen Israel Katz will sie für eine humanitäre Feuerpause werben und über den Weg zu einer Zweistaatenlösung sprechen. Man kann nur wünschen, dass sie nicht mit gänzlich leeren Händen zurückkehrt.


Ufftataa!

Ihren Ursprung hat die Tradition des Politischen Aschermittwochs auf dem Viehmarkt im niederbayerischen Vilshofen. Zur bundesweit bekannten Institution wurde der derbe Schlagabtausch aber erst durch das CSU-Schlachtross Franz Josef Strauß. Mittlerweile kopieren alle Parteien das Format, auch außerhalb des Freistaats (zu sehen in diesem "Best-of" der vergangenen Jahrzehnte). Dafür, dass es heute auf der CSU-Veranstaltung in Passau krachledern zugeht, will Parteidompteur Markus Söder mit einer im Vorhinein als "fulminant" gepriesenen Rede sorgen, der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil versucht sich in Vilshofen, Grünen-Chef Omid Nouripour posaunt in Landshut, und die FDP-Trompete Marie-Agnes Strack-Zimmermann bläst in Dingolfing. Bei aller Freude an zugespitzten Wortgefechten sollten die Akteure bedenken, dass in Zeiten rechtslastiger Rhetorik und multipler Krisenlagen die wildeste Ansprache nicht zwingend auch die beste ist.


Ohrenschmaus

Wie wäre es angesichts der angespannten Weltlage mit etwas Entspannung? Hier ist eines meiner Lieblingslieder.


Lesetipps

Würde Putin einen Angriff auf Nato-Staaten wagen? "Absolut", antwortet Boris Bondarew auf die Frage, die mein Kollege Marc von Lüpke und ich ihm gestellt haben. Der russische Ex-Diplomat quittierte aus Protest gegen den Überfall auf die Ukraine seinen Dienst und lebt nun an einem geheimen Ort in der Schweiz. Was er in unserem Interview erzählt, sollte jeder deutsche Politiker lesen.


Der frühere "Bild"-Chef Julian Reichelt leitet nun das Krawallportal "Nius". Das muss unangenehme Fragen der Medienaufsicht beantworten, berichtet unser Rechercheur Lars Wienand.



Mit mehr als einer Milliarde Euro sollen deutsche Schulen zukunftsfit gemacht werden. Doch der "Digitalpakt Schule" bekommt ein miserables Zeugnis, berichtet meine Kollegin Laura Czypull von Watson.de.


Zum Schluss

Verzwicktes Datum heute …

Ich wünsche Ihnen einen harmonischen Tag. Morgen kommt der Tagesanbruch von David Schafbuch, von mir lesen Sie am Freitag wieder.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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