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Putin, Ukraine, Taurus: Warum halbblinde Entscheider zum Risiko werden


Tagesanbruch
Halbblinde Entscheider werden zum Risiko

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 15.03.2024Lesedauer: 6 Min.
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Abgeordneter während einer Wahl in der Lobby des Bundestags.Vergrößern des Bildes
Abgeordneter während einer Wahl in der Lobby des Bundestags. (Quelle: Britta Pedersen/dpa)

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Zeitgeschichte ist tückisch. Wer im Strom ihrer Ereignisse schwimmt, erlebt alles als endgültig und alternativlos: Entwicklungen scheinen sich linear zu vollziehen und auf tragische Weise dem tosenden Wasserfall entgegenzusteuern, den alle hinunterstürzen. Weil der Mensch zwar das höchstentwickelte Lebewesen ist (zumindest nehmen wir das an), aber trotzdem über eingeschränkte kognitive Fähigkeiten verfügt, neigt er im Hier und Jetzt zum Tunnelblick. Und in Tunnelröhren ist nun mal alles entweder dunkel oder in grelles Licht getaucht, also schwarz oder weiß. Schattierungen oder gar Farben sucht man dort vergebens.

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Auch in diesem März 2024 sind viele Zeitgenossen im Tunnel unterwegs. Sie sehen nur, was hier und jetzt stattfindet und leiten die Vorstellung aller künftigen Entwicklungen davon ab. Plötzliche Richtungswechsel, Weichen oder gar abrupte Veränderungen der Gesamtsituation vermögen sie sich gar nicht vorzustellen.

Das führt zu merkwürdigen Begebenheiten. So kommt es vor, dass der Deutsche Bundestag stundenlang darüber diskutiert, ob ein einziges Marschflugkörpermodell die Lage für die angegriffene Ukraine zum Besseren wenden kann. Es kommt vor, dass Medien unzählige Zeilen Text und viele Sendeminuten einer "Präsidentschaftswahl" in Russland widmen, obwohl diese Abstimmung nicht mehr ist als das zynische Propagandaspektakel eines nervösen Diktators. Und so kommt es vor, dass der Fraktionsvorsitzende der Kanzlerpartei von einem Außenpolitiker der Opposition angegiftet wird, nur weil er es gewagt hat, das "Einfrieren des Ukraine-Krieges" zu fordern. Als gäbe es immer ausschließlich Sieg oder Niederlage. Als endeten nicht die meisten Kriege als eingefrorene Konflikte. Wer im unmittelbaren Erleben steckt, neigt zu absoluten Wahrheiten, erst recht, wenn es um folgenschwere Ereignisse geht: Volksabstimmungen, aufwühlende Konflikte und natürlich Kriege. Das ist menschlich und verständlich, aber es ist auch kurzsichtig.

Zeitgeschichte vollzieht sich nicht linear, im Gegenteil: Meistens kommt es erstens anders und zweitens als man denkt. An diese Binsenweisheit zu erinnern, ist kein Appell zum Fatalismus und entbindet keinen Politiker von der Verantwortung zu engagiertem Handeln. Aber es ist eine Ermunterung, die Scheuklappen abzusetzen und den Gang der Ereignisse mit einem geweiteten Blick zu betrachten: Dinge können sich von heute auf morgen ändern, Gewissheiten können zerplatzen wie ein Ballon, Lagen können sich abrupt wandeln. Es gibt wenige Tage im Jahr, die diese simple Feststellung deutlicher belegen als der 15. März. Weil dieser Text nicht ausufern soll, möchte ich nur vier Beispiele nennen, aber dafür den ganz großen historischen Bogen spannen:

Am 15. März 44 v. Chr. fiel der römische Diktator Julius Cäsar einem Attentat zum Opfer. Sein Nachfolger Augustus etablierte die längste Friedensperiode des Römischen Reiches.

Am 15. März 1776 erklärte South Carolina als erste nordamerikanische Kolonie ihre Unabhängigkeit vom britischen Mutterland. Die Vereinigten Staaten begannen zu entstehen, die sich später zum mächtigsten Land der Welt entwickelten.

Am 15. März 1917 musste der russische Zar Nikolaus II. unter dem Druck der Februarrevolution abdanken. Sein Nachfolger Michail verzichtete am nächsten Tag ebenfalls auf den Thron. Das vermeintlich ewige Zarenreich endete über Nacht.

Am 15. März 1991 trat der von BRD und DDR mit den USA, der Sowjetunion, Frankreich und Großbritannien ausgehandelte Zwei-plus-Vier-Vertrag in Kraft. Das diplomatische Meisterstück beendete den Kalten Krieg und bescherte dem wiedervereinigten Deutschland nebst Frieden und Sicherheit die Grundlage für beispiellosen Wohlstand.

Königsmorde, Separatisten, Revolutionen und diplomatische Durchbrüche sind nur vier Zäsuren, die den Gang der Zeitgeschichte grundlegend verändern können. Es gibt viele weitere. Und sie können selbstverständlich heute genauso geschehen wie damals. Was sagt uns das im Hinblick auf den Krieg in Osteuropa?

  • Gegenwärtig steht die ukrainische Armee unter Druck, aber so wie den Ukrainern könnten auch den Russen die Frontsoldaten ausgehen; nicht jeder junge Mann ist bereit, gegen Geld sein Leben aufs Spiel zu setzen.
  • Im Juni dürften die Ukrainer die ersten F16-Kampfjets erhalten. Falls sie bis dahin die nötigen Start- und Landebahnen präpariert haben, kann sich ihre Luftabwehr gegen die Russen schnell verbessern.
  • Bis zu 800.000 Artilleriegranaten haben die Tschechen in einer verdeckten Operation in Asien und Afrika aufgekauft. Die Geschosse können den ukrainischen Munitionsmangel überbrücken, bis die EU-Staaten Ende des Jahres endlich selbst genug produzieren.
  • Gelingt es den Ukrainern, ihre Verteidigungsstellungen im Osten des Landes zu halten, wären Verhandlungen über eine Feuerpause oder gar einen Waffenstillstand nicht mehr ausgeschlossen. "Wir müssen damit rechnen, dass am Ende ein erstarrter Konflikt zurückbleibt – und die Entscheidung nicht im Kampf, sondern am Verhandlungstisch fällt", hieß es vor bald einem Jahr im Tagesanbruch. Die Wahrscheinlichkeit dieses Szenarios ist nicht kleiner, sondern größer geworden.
  • Donald Trump als Sieger der amerikanischen Präsidentschaftswahl im November wäre schlecht für Europa, natürlich, aber es kann auch anders kommen: Sehr viele Amerikaner halten den Mann für einen unzurechnungsfähigen Spinner; vielleicht entscheidet sich die schweigende Mehrheit doch mehrheitlich für die Wiederwahl des alten, aber verlässlichen Joe Biden.

Ich könnte so weitermachen und Ihnen weitere Möglichkeiten auftischen, aber Sie ahnen wohl, worauf ich hinaus möchte: Das Schicksal der Ukraine hängt nicht von einem deutschen Marschflugkörper ab. Und es geht jetzt auch nicht um den totalen Sieg oder die totale Niederlage. Plötzliche Ereignisse, unvermittelte Zäsuren können den Lauf der Dinge grundlegend verändern, im Guten wie im Schlechten.

Wer dem Guten zum Durchbruch verhelfen will, steht den Bedrängten bei und bietet dem Aggressor die Stirn. Aber er achtet dabei darauf, nicht im Tunnel unterwegs zu sein. Denn wer nur noch Schwarz und Weiß sieht, ist halbblind.


Scheinwahl in Russland

Mehr als 112 Millionen Menschen sind von heute an bis Sonntagabend in Russland zur Stimmabgabe aufgerufen – eine echte Wahl haben sie aber natürlich nicht: Kreml-Zar und Kriegstreiber Wladimir Putin, seit, Moment, ich schaue noch mal nach, fast 25 Jahren an der Macht, hat selbstverständlich dafür Sorge getragen, dass seiner fünften Amtszeit niemand und nichts im Wege steht. Seine drei Mitbewerber Wladislaw Dawankow (Vizechef der Duma), Leonid Slutski (Vorsitzender der ultranationalistischen Liberaldemokratischen Partei) und Nikolai Charitonow (Kandidat der Kommunistischen Partei) sind nicht nur komplett chancenlos, sondern ohnehin auf Kreml-Linie getrimmt. Kritiker wie der Kriegsgegner Boris Nadeschdin oder die Journalistin Jekaterina Duntsowa wurden gar nicht erst als Kandidaten zugelassen. Den wichtigsten Oppositionellen Alexej Nawalny hat Putin umbringen lassen.

Russischen Medienberichten zufolge peilt der 71-Jährige bei der Wahl ein Ergebnis um die 80 Prozent an. Damit würde er sogar sein bestes Resultat von 76,69 Prozent bei der Abstimmung 2018 übertreffen. Um dieses Ziel zu erreichen, sind ihm alle Mittel recht. So werden von der Regierung abhängige Wähler wie beispielsweise Beamte unter Druck gesetzt, eine gewisse Zahl an Personen zu den Wahllokalen "mitzubringen".

Besonders perfide: Auch in den völkerrechtswidrig besetzten Gebieten der Ukraine soll unter hanebüchenen Umständen "abgestimmt" werden, etwa an durchsichtigen Boxen neben bewaffneten Soldaten. Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa waren bei dieser Demokratie-Simulation übrigens nicht erwünscht. Stattdessen wurden deutsche AfD-Abgeordnete als Claqueure herangekarrt. Unterm Strich unterscheidet sich Putins Russland kaum noch von Nordkorea.


Drei raffen sich auf

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Zuletzt stotterte er heftig, der viel beschworene deutsch-französische Motor Europas: Nach einer denkwürdigen Ukraine-Konferenz in Paris schloss Emmanuel Macron unabgestimmt die Entsendung von Bodentruppen nicht aus, woraufhin Olaf Scholz ihm öffentlich widersprach. Ein fatales Bild der Uneinigkeit, das wohl allenfalls in Moskau positiv aufgenommen wurde. Wenn heute der französische Präsident, der deutsche Kanzler und der polnische Regierungschef Donald Tusk in Berlin zusammenkommen, geht es also vor allem darum, Geschlossenheit bei der weiteren Unterstützung der Ukraine zu demonstrieren und persönliche Eitelkeiten zurückzustellen. Das 1991 als Weimarer Dreieck gegründete, lange ungenutzte Dialogformat zwischen den drei Ländern könnte dafür genau der richtige Rahmen sein.


Wichtige Bilanz

Eine vorläufige Auswertung der Denkfabrik Agora Energiewende im Januar las sich auf den ersten Blick sehr gut: Demnach sind die Treibhausgasemissionen im vergangenen Jahr in Deutschland stark zurückgegangen, im Vergleich zu 1990 sogar um ganze 46 Prozent. Allerdings relativierten die Experten ihre frohe Botschaft sogleich: Nur rund 15 Prozent seien dauerhafte Einsparungen, der Rest sei zum Teil durch konjunkturbedingte Produktionsrückgänge bedingt. Zudem habe es in den kritischen Bereichen Verkehr und Gebäude kaum Veränderungen gegeben. Wie die endgültige Emissionsbilanz für 2023 ausfällt, erklären Wirtschaftsminister Robert Habeck und der Präsident des Umweltbundesamts, Dirk Messner, heute Morgen in Berlin.


Ohrenschmaus

Das Wochenende naht. Yippie!


Lesetipps

Sitzt Putin wirklich fest im Sattel? Keineswegs, sagt Catherine Belton, die beste westliche Kennerin des Kreml-Regimes. Der Diktator könnte einen Fehler begangen haben, erklärt sie im Gespräch mit meinem Kollegen Marc von Lüpke.



Bei Behörden in Schleswig-Holstein sind zahlreiche Schusswaffen verschwunden. Unser Rechercheur Carsten Janz kennt die Hintergründe.


Zum Schluss

Wer nur Schwarz und Weiß sieht, neigt zur Überreaktion.

Ich wünsche Ihnen einen weitsichtigen Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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