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Nach Zwischenfällen in Berlin und Bark: Steht die Pflege vor dem Abgrund?


Tagesanbruch
Vor dem Abgrund

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 26.04.2024Lesedauer: 7 Min.
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Karl Lauterbach will das Pflegesystem umbauen.Vergrößern des Bildes
Karl Lauterbach will das Pflegesystem umbauen. (Quelle: Hannes P. Albert/dpa)

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Krisen gibt es allerorten. Von oben (Klima) bis unten (Artensterben), vom Osten (Ukraine) bis zum Westen (Trump), vom Supermarkt (Preise) bis zum Wohnzimmer (Heizung) ist gefühlt alles aus dem Lot. Jeder Mensch erlebt Krisen anders, manche ängstigen sich, andere nehmen sie als Herausforderung, den Dritten sind sie egal.

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Eine Krise jedoch geht alle etwas an. Weil ihr niemand entfliehen kann. Ich möchte Ihnen in den folgenden Zeilen von dieser Krise erzählen, und damit Sie hinterher nicht völlig frustriert sind, verspreche ich: Am Ende gibt es einen Lichtblick. Aber vorher nehme ich Sie an zwei bestürzende Orte mit.

Der erste heißt Lichtenberg und ist ein Stadtteil von Berlin. Dort steht ein Seniorenpflegeheim, wie es hierzulande viele gibt. In diesem Heim rückten vergangene Woche spätabends Polizei und Feuerwehr an. Eine Pflegerin hatte die Einsatzkräfte alarmiert: Weil es nach ihrer Schicht niemanden gab, an den sie die Betreuung der 140 Bewohner übergeben konnte. Es war einfach keiner mehr da, und es kam auch niemand. Also wählte sie den Notruf. Damit nicht genug. In der folgenden Nacht starb im selben Heim eine Seniorin. Aber niemand bemerkte es. Keiner da.

Der zweite Ort heißt Bark und liegt in Schleswig-Holstein. Auch dort steht ein Seniorenheim. Auch dort rief ein verzweifelter Pfleger die Feuerwehr, vorgestern war das. Sein Problem: Er sollte sich allein um 45 Senioren kümmern, von denen mehrere erkrankt waren. Einige lagen bereits in ihren Exkrementen. Allein kam der Pfleger einfach nicht hinterher. Schlussendlich war er so verzweifelt, dass er durchdrehte und selbst ins Krankenhaus musste. Dann war gar niemand mehr für die Alten da; die Heimleitung reagierte nicht auf den Hilferuf. 80 eiligst angerückte Feuerwehrleute mussten sich um die Senioren kümmern. "Ich bin seit 13 Jahren ausgebildeter Pfleger, aber so etwas habe ich noch nie erlebt", meinte der entgeisterte Betreuer. Er wurde entlassen.

Zwei Einzelfälle? In dieser drastischen Form womöglich schon. Was das grundsätzliche Problem angeht, jedoch mitnichten. Vielerorts in Deutschland sind Pflegekräfte am Rande des Nervenzusammenbruchs: gestresst, überlastet, verzweifelt. Viele schmeißen den Job hin, weil sie die Situation einfach nicht mehr ertragen. So kommt es, dass irgendwann niemand mehr da ist, der sich kümmern kann.

"Fachkräftemangel" ist ein bürokratischer Begriff, und wie das so ist mit bürokratischen Begriffen: Er geht bei den meisten Menschen zum einen Ohr hinein und zum anderen gleich wieder hinaus. Was dieses Wort wirklich bedeutet, begreifen sie erst, wenn sie selbst von den Folgen betroffen sind – und das werden früher oder später alle 83 Millionen Menschen hierzulande in der einen oder anderen Form erleben. Ob sie beim Facharzt monatelang auf einen Termin für eine wichtige Behandlung warten müssen, weil der Doktor leider keine Laborassistentin findet. Ob sie beim Klinikaufenthalt nach einer Operation sofort ins Mehrbettzimmer verfrachtet werden, weil auf der Intensivstation leider die Pflegerinnen fehlen (und glauben Sie bloß nicht, dass eine private Zusatzversicherung Sie rettet: Wenn niemand da ist, der Ihnen eine Premiumbehandlung angedeihen lassen kann, bekommen Sie Schema F wie alle Kassenpatienten). Oder ob Sie nach einem langen Leben in einem Pflegeheim darben, weil dort einfach niemand mehr ist, der sich aufmerksam um Sie kümmert. Ja, all das ist Realität im Deutschland des Jahres 2024, und es wird immer ärger.

Das Statistische Bundesamt zählt hierzulande fünf Millionen pflegebedürftige Menschen. Täglich werden es mehr, die Gesellschaft altert. Gleichzeitig sinkt die Zahl der Betreuer rapide. Immer weniger Arbeitnehmer wollen sich den schlecht bezahlten Knochenjob in Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen antun. Das Einstiegsgehalt einer Pflegefachkraft nach der Ausbildung liegt bei unter 3.000 Euro monatlich; Überstunden bleiben oft unbezahlt. Bundesweit sind 12.000 Stellen unbesetzt. Noch viel mehr Stellen werden gar nicht mehr ausgeschrieben, weil die Arbeitgeber die Suche aufgegeben haben. So werden in den kommenden 25 Jahren bis zu 690.000 Pflegekräfte fehlen, melden die Statistiker vom Bundesamt. Ja, das ist ein langer Zeitraum, und es ist irgendwie auch nur eine Zahl. Ihre Bedeutung jedoch ist brutal. "Notstand" ist ein zu kleines Wort für das, was da auf uns zukommt. Es ist eine Katastrophe.

Und der Lichtblick, wo ist der Lichtblick, Herr Harms?, rufen Sie nun womöglich, weil sie morgens nicht nur schlechte Nachrichten lesen möchten. Moment, gestatten Sie mir bitte erst noch diese Bemerkung: Wenn Sie den Tagesanbruch aufmerksam verfolgen, dann wissen Sie, dass meine Kolleginnen und ich die demokratischen Parteien allesamt nach denselben Maßstäben zu beurteilen versuchen. Deshalb kritisieren wir SPD und CDU mal harsch und ein anderes Mal loben wir sie; bei CSU, FDP, Grünen und Linken machen wir es ebenso. Fakten und ihre Einordnung geben den Ausschlag, nicht persönliche Präferenz.

Dies vorausgeschickt, stelle ich fest: Die CDU-geführten Bundesregierungen der vergangenen Jahre haben das Pflegesystem verantwortungslos heruntergewirtschaftet. So gesehen waren die Merkel-Jahre ein herber Rückschlag für das Land – allerdings unter willfähriger Mithilfe anderer Parteien. Die Gesundheitsminister Ulla Schmidt (SPD), Philipp Rösler (FDP), Daniel Bahr (FDP), Hermann Gröhe (CDU) und Jens Spahn (CDU) werden in den Analysen künftiger Historiker viel Platz beanspruchen. Schließlich ist es nicht einfach zu beschreiben, wie ein so reiches Land wie Deutschland eine der wichtigsten staatlichen Aufgaben derart verbocken kann. Gesundheit und Pflege müssten eigentlich ganz oben auf der staatlichen Agenda stehen. In den vergangenen Jahren rangierten sie unter ferner liefen. Lobby-Hörigkeit, Profitgier, Ignoranz, mangelnde Weitsicht, fehlende Prioritäten: Eine Menge Gründe dürften die Geschichtsschreiber auflisten. Leider hilft uns das dann auch nicht mehr.

Der Lichtblick, Herr Harms, wo bleibt der Lichtblick?! Ja doch, Sie haben ja recht. Also bitte: Es ist noch nicht alles zu spät. Das deutsche Pflegesystem steht am Abgrund, aber bis zum Absturz sind es noch ein paar Schritte. Wir müssen sie nicht gehen. Und wenn man dem gegenwärtigen Gesundheitsminister zuhört, der zwar für seine Schrulligkeit gelegentlich Spott erntet, aber für einen Minister außergewöhnlich viel Fachwissen besitzt, hat er nicht vor, diese Schritte zu gehen. Stattdessen will Karl Lauterbach eine Brücke über den Abgrund bauen, und zwar gemeinsam mit Innenministerin Faeser, Familienministerin Paus, dem Bundeskanzler und den Fraktionen von SPD und Grünen im Bundestag (die FDP interessiert sich eher für die Interessen von Großklinikinvestoren und Privatversicherungen).

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Karl Lauterbach zieht seine Reformen im Gesundheitswesen mit bemerkenswerter Konsequenz durch. Mit dem Pflegekompetenzgesetz macht er den Beruf schlagartig attraktiver. Dank des Pflegestudiumstärkungsgesetzes bekommen Auszubildende eine bessere Bezahlung. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz lockt vor allem Migranten aus Lateinamerika in deutsche Pflegeeinrichtungen. Und parallel zur Krankenhausreform soll das Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz den lähmenden Bürokratismus in vielen Arztpraxen beenden.

Über die mitunter absurden Namen deutscher Gesetze kann man lachen, na klar. Aber wenn sich hinter den Wortungetümen eine Brücke verbirgt, die Millionen Menschen über den Abgrund führt, darf es ein erleichtertes Lachen sein.


Ohrenschmaus

Ja, stark muss man sein! So wie diese Frau.


Zitat des Tages

"Europa kann sterben. Das hängt einzig und allein von unseren Entscheidungen ab. Aber diese Entscheidungen müssen jetzt getroffen werden."

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron fordert eine europäische Verteidigungsstrategie mit einer gemeinsamen Rüstungsindustrie und einer EU-finanzierten Aufrüstung. Außerdem will er Schlüsselindustrien subventionieren und in allen EU-Ländern dieselben Regeln für Bauern durchsetzen. Seine gestrige Rede an der Pariser Universität Sorbonne hallt in den Hauptstädten der Union wider.


Gesagt, getan

Frankreich geht voran, Deutschland folgt: Gemeinsam unterzeichnen der französische Verteidigungsminister Sébastien Lecornu und sein deutscher Amtskollege Boris Pistorius heute in Paris eine Absichtserklärung für den gemeinsamen Bau eines Kampfpanzers. Das als "Main Ground Combat System" bezeichnete Waffensystem ist als Nachfolger der Leopard- und Leclerc-Panzer beider Länder gedacht, soll deren Fähigkeiten bei weitem übertreffen und im Laufe des kommenden Jahrzehnts einsatzfähig sein.


Kampf fürs Klima

Es war eine Einigung nach Ampel-Art: Erst stritten die Koalitionspartner monatelang über eine Reform des Klimaschutzgesetzes, die die Sektorenziele für den CO2-Ausstoß aufhebt und nur noch die Gesamtbilanz in den Blick nimmt. Dann drohte FDP-Verkehrsminister Volker Wissing, dessen Ressort die bisherigen Ziele reißen würde, effektheischend mit Wochenend-Fahrverboten. Letzte Woche schließlich gaben die Grünen ihren Widerstand auf – und bekamen im Gegenzug das Plazet der FDP für ihr Paket zur Solarförderung. Ein klassischer Deal. Heute will die Koalition ihr Doppelpaket durch den Bundestag bringen. Dabei steht die Ampel auf Grün: Das Bundesverfassungsgericht hat den Widerspruch eines CDU-Abgeordneten gestern Abend zurückgewiesen.


Das historische Bild


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Die Wohnungsnot in Deutschland hat das Potenzial, die Gesellschaft zu spalten, sagt Vonovia-Chef Rolf Buch. Warum deshalb die Mietpreisbremse nicht mehr für Reiche gelten sollte und wo er dieses Jahr doch noch Wohnungen bauen will, hat er meinem Kollegen Florian Schmidt und mir erklärt.



Schadet der Skandal um Maximilian Krah der AfD? Gut möglich. Allerdings nicht, weil der Spitzenkandidat eine Vorliebe für Diktatoren hat – sondern aus einem anderen Grund, meint mein Kollege Johannes Bebermeier.


Zum Schluss

Die AfD hat einen klaren Kurs.

Ich wünsche Ihnen einen kunterbunten Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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