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Ukraine-Krieg | Stadt der Kollaborateure: "Wollten uns zu Russen umerziehen"


Unter russischer Besatzung
Wie der Bürgermeister seine Stadt Kupjansk verriet

  • Daniel Mützel
Von Daniel Mützel, Kupjansk

Aktualisiert am 03.12.2022Lesedauer: 6 Min.
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Russischer Militärkonvoi in der UkraineVergrößern des Bildes
Russischer Militärkonvoi in der Ostukraine: "Da wusste ich, Kupjansk ist verloren." (Quelle: Maximilian Clarke/SOPA Images)

Kupjansk in der Ostukraine lieferte sich den Russen kampflos aus. Nun sind sie weg und die Stadt ist gespalten: Sind die Kollaborateure Verräter oder hatten sie keine andere Wahl?

Ihor Prasolow zeigt durch das Fenster im ersten Stock der Schule "Nummer 1" von Kupjansk. Genau hier, sagt er, habe er am Morgen des 24. Februar gestanden. Prasolow sah die ukrainischen Panzer nach Norden rollen, in Richtung Russland. 20 Stück. Er hat sie genau gezählt.

Am Abend kamen sie auf derselben Straße zurück und verließen die Stadt – diesmal in Richtung Westen. "Sie hatten nicht mal gekämpft." Da wusste Prasolow, 56 Jahre alt, Sportlehrer an der Schule Nummer 1: "Die Stadt ist verloren."

Prasolow sollte recht behalten: Am 27. Februar, drei Tage nach Kriegsbeginn, trat der damalige Bürgermeister der ostukrainischen Stadt vor die Kamera. Via Livestream verkündete er den rund 30.000 Bürgern, dass ihm die russische Armee ein Ultimatum gestellt habe: Entweder gebe er die Stadt kampflos auf oder sie werde überrannt.

Hennadyj Matsehora entschied sich für die Kapitulation. Er sei überzeugt, dass dadurch "das Leben in der Stadt in keiner Weise beeinträchtigt" werde, sagte der Bürgermeister in seiner Videobotschaft. Matsehora und die Mächtigen der Stadt empfingen die russischen Eindringlinge daraufhin sogar mit einer offiziellen Delegation.

In der strategisch wichtigen Kleinstadt im Gebiet Charkiw fiel tatsächlich kein einziger Schuss, niemand starb, als die Besatzer die Stadt übernahmen.

Für viele Ukrainer ist Matsehora seitdem der Inbegriff eines Kollaborateurs, ein Feigling, der, statt zu kämpfen, den Invasoren dabei half, ihr brutales Besatzungsregime zu errichten. Doch er war nicht allein: Ein Teil der Kupjansker arrangierte sich schon bald mit der neuen Realität. Auch wenn es anfangs mutige Proteste gegen die Besatzer gab, wichen diese bald einer stillen Akzeptanz.

Bis zu dem Tag, da die Russen abzogen und Kupjansk wieder ukrainisch wurde. Seitdem ist die Stadt gespalten: Bürger, die mit den Russen kooperierten, stehen denen, die sie bekämpften, gegenüber. Auf den Straßen herrscht Misstrauen. Und auch viele andere Ukrainer schauen voller Zweifel auf die Stadt, die in ihren Augen mit dem Feind paktiert hat.

Es ist ein klassisches Dilemma in Zeiten des Krieges: Ergibt man sich kampflos und arrangiert sich mit den Besatzern, verliert man die Freiheit, aber rettet womöglich Hunderte Leben. Kämpft man stattdessen für die Freiheit, weiß man, dass es Tote geben wird. Egal, wie die Entscheidung ausfällt – sie wird alles danach überschatten. Nirgendwo zeigt sich das gerade so sehr wie in Kupjansk.

Für Andrij Besedin ist Matsehora ein Verräter. Kubjansks neuer Bürgermeister hat für seinen Vorgänger keine Sympathie: "Er lief über zum Feind und unterstützte die russischen Invasoren, wo er nur konnte." Damit habe er allein über das Schicksal einer ganzen Stadt entschieden.

Doch nicht alle in Kupjansk haben eine so eindeutige Meinung. Auf den Straßen verurteilen viele Menschen zwar Matsehoras Entscheidung, sagen aber auch, dass er kaum eine Wahl hatte. Damals kreisten russische Kampfjets über der Stadt, während sich russische Panzerverbände vom Norden her näherten.

Tatsächlich schien die ukrainische Armee die Verteidigung der Stadt aufgegeben zu haben und ihre Kräfte weiter westlich zu konzentrieren. Denn die Trophäe des ukrainischen Nordostens hieß nicht Kupjansk, sondern Charkiw. Weil die Millionenstadt Ende Februar zu fallen drohte, sah sich die ukrainische Militärführung gezwungen zu priorisieren – und Kupjansk sich selbst zu überlassen.

Einer von uns

Ihor Prasolow, der Lehrer, ist sich sicher: "Matsehora hat wirklich versucht, die Stadt zu retten." Er steht in einer Tarnfleck-Jacke in der Turnhalle des Gymnasiums und erzählt von den zurückliegenden Monaten. Prasolow redet so schnell wie eine Maschinenpistole, holt kaum Luft, nur manchmal schweift er ab, um von den früheren Sporterfolgen seiner Schüler zu erzählen.

Es ist nicht verwunderlich, dass er Verständnis zeigt für Matsehora, der mittlerweile aus der Stadt geflohen ist und nach ukrainischen Angaben in Russland verhaftet wurde. Auch Prasolow hatte sich mit den Besatzern arrangiert, wie so viele andere in der Stadt.

Anfangs ohne es zu wollen, sagt er. Mitte Juli erhielt er einen Anruf der Schuldirektorin: Das komplette Kollegium sei gefeuert und solle sich am nächsten Tag in der Schule einfinden, sagte sie. Dort mussten die Lehrer dann ihre Entlassung unterschreiben. Sofern sie ein zweites Dokument unterzeichneten, könnten sie weiter unterrichten, wurde ihnen gesagt. Dafür müssten sie aber die neuen Regeln der Besatzer akzeptieren.

Prasolow unterschrieb, wie die meisten seiner Kollegen – 54 von 80 Lehrern.

Mehrheit wollte mit Russen zusammenarbeiten

Prasolow sagt, er habe keine Wahl gehabt: Seine Mutter habe drei Schlaganfälle erlitten, sein Vater sei fast 85 Jahre alt. Er und seine Schwester kümmerten sich um die alten Eltern. 22.000 Rubel (rund 400 Euro) Monatslohn versprachen ihm die Russen, in etwa so viel, wie er vorher verdiente.

Er habe das Geld der Russen gebraucht, sagt Prasolow. "Ich würde es heute wieder tun."

Zunächst änderte sich nicht viel. Das russische Programm sollte erst im neuen Schuljahr gelten. Anfang August bereitete eine gemeinsame Kommission der Schuldirektorin und russischer Besatzungsvertreter alles vor: Lehrpläne wurden umgeschrieben, Schulbücher aus Moskau bestellt, russischsprachige Vordrucke für Zeugnisse entworfen. Besonders motivierte Lehrer wurden zur "Fortbildung" nach Russland geschickt.

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"Sie wollten uns zu Russen umerziehen"

Die Militärverwaltung plante, das Kupjansker Schulsystem umfassend zu russifizieren. "Alle Klassen mussten bei dem Programm der Invasoren mitmachen", sagt Olena Iluschena, eine Kollegin Prasolows. Die Geografielehrerin gehörte zu jenen, die im Juli ihre Unterschrift verweigerten.

"Sie wollten uns zu Russen umerziehen. Gegenüber meinen Schülern hätte ich mir das nie verzeihen können." Iluschena verlor ihren Job. Doch darüber hinaus ließen die Besatzer sie in Ruhe.

Angst und Misstrauen in der Stadt

Nicht nur an Schulen fanden die Invasoren willige Helfer. "192 von 200 Vertretern der Stadtverwaltung kollaborierten", sagt Andrij Besedin, der neue Bürgermeister von Kupjansk. "Wasserwerke, das Stromnetz, die Eisenbahn – alles wurde den Russen sauber übergeben."

Die russische Armee fand alles vor, was sie brauchte, um ihre Kontrolle über die Stadt zu festigen. Und nicht nur dort: Über das Schienennetz versorgte die Militärverwaltung ihre Verbände in der Region mit Nachschub. Kupjansk wurde schnell zum Transportknoten für die russische Kriegsmaschine im Gebiet Charkiw. "Wer dort arbeitete, wusste, was er tat", sagt Besedin.

Doch anders als in anderen Städten töteten die Russen in Kupjansk nicht systematisch. Zwar wurden auch Menschen gefangen genommen, bedroht und gefoltert, doch gezielte Tötungen wie in Butscha gab es keine.

Besedin kam erst am 10. September in die Stadt und merkte schnell: Sie ist gespalten – und zutiefst verunsichert. Wer sich der Zusammenarbeit mit den Russen verweigert hatte, traut den Kollaborateuren bis heute nicht über den Weg und umgekehrt.

Die Verwaltung lag völlig brach, die meisten Mitarbeiter, die mit den Russen kooperiert hatten, waren geflohen. Besedin wurde im Oktober als neuer Bürgermeister eingesetzt. Seitdem versucht er, die Versorgung der Stadt wieder zum Laufen zu bringen und das Vertrauen der Bürger zurückzugewinnen.

Erst die Befreiung brachte die Bomben nach Kupjansk

Was die Lage erschwert: Kupjansk blieb während der Besatzung fast unversehrt: Was die russische Armee in Irpin oder Mariupol anrichtete, kannte man in Kupjansk nur aus den Nachrichten – sofern welche durchdrangen. "Die Häuser waren alle intakt", erzählt Besedin.

Doch mit der erfolgreichen ukrainischen Gegenoffensive Anfang September startete die russische Armee einen brutalen Terrorkrieg gegen die Zivilbevölkerung. Die Granaten flogen einen Tag, nachdem sie sich zurückgezogen hatte. Zuerst nahm sie die kritische Infrastruktur ins Visier: die Kanalisation, Heizkraftwerke, das Stromnetz.

Seitdem leidet Kupjansk unter russischem Dauerbeschuss: Täglich feuern Grad- und Uragan-Raketenwerfer ("Hurrikan") auf die Stadt. In einem Vorort nordöstlich der Stadt lässt sich die Vernichtungswut der Kremltruppen im Detail beobachten: Eine ganze Siedlung wurde von russischen Bombern dem Erdboden gleichgemacht. Manche Häuser sind nur noch Steinhaufen, dazwischen ragen verkohlte Bäume in den Himmel. Eine apokalyptische Szenerie.

"Heute sind 70 Prozent unserer Energieversorgung zerstört", sagt Besedin. "Racheakte" seien das. "Russland will nicht, dass die Ukraine erfolgreich ist."

"Die ist längst in Russland"

Zwei Monate nach der Befreiung leckt Kupjansk noch immer seine Wunden. Von außen bedroht der russische Beschuss die Stadt, von innen treibt das Misstrauen die Menschen auseinander. Der Kampf gegen die Verräter in den eigenen Reihen wird die Kleinstadt noch lange beschäftigen.

Das ukrainische Recht sieht eigentlich harte Strafen gegen Kollaborateure vor. Matsehora, der frühere Bürgermeister, wurde in Abwesenheit wegen Hochverrats angeklagt. Doch das Gesetz hat Grauzonen, und ob jeder Helfershelfer hinter Gittern landet, darf bezweifelt werden.

Sportlehrer Prasolow jedenfalls hofft auf Milde. Er wurde bereits vom ukrainischen Inlandsgeheimdienst SBU an einem geheimen Ort verhört. "Viel konnte ich ihnen nicht sagen." Schlimmer sei es im Privaten: Manche Kollegen schicken ihm Nachrichten und nennen ihn einen Verräter.

Dabei habe er die Besatzer nur ein einziges Mal an seiner Schule gesehen, sagt Prasolow: "Zum Start des neuen Schuljahrs Anfang September, als Separatisten aus Luhansk mit Sprengstoffhunden durch die Klassenzimmer zogen."

Er sei nur ein kleiner Fisch gewesen, organisiert habe das Ganze die Schuldirektorin. Nach der könne der SBU allerdings lange suchen, sagt er und grinst.

"Die ist längst in Russland."

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