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Clankriminalität in Berlin: Die Angst der Justiz vor den Clans


Wenn Richter Polizeischutz brauchen
Die Angst der Justiz vor den Clans


02.08.2022Lesedauer: 6 Min.
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Polizist/Staatsanwalt (Collage/t-online): Wie sicher können sich Richter und Staatsanwälte fühlen, die es mit Schwerverbrechern zu tun haben?Vergrößern des Bildes
Polizist/Staatsanwalt (Collage/t-online): Wie sicher können sich Richter und Staatsanwälte fühlen? (Quelle: Andreas Gora/Olaf Wagner/imago-images-bilder)

Der Senat hat der Clan-Kriminalität den Kampf angesagt. Im Landgericht ist davon nichts zu spüren. Es gibt Richter, die unter Polizeischutz stehen.

Die Staatsanwältin ist wütend, sehr wütend. Sie steht vor dem Gerichtssaal und wird immer lauter, irgendwann schreit sie den Fotografen neben sich an. Was ihm einfalle, sie schon wieder zu fotografieren. Sie habe ein halbes Jahr gebraucht, um ein anderes Foto von sich aus dem Internet löschen zu lassen. Man habe ihr Gesicht gesehen und ihren vollen Namen darunter gelesen. Ob er sich vorstellen könne, was das bedeute.

Das Landgericht Berlin, an einem Tag im Mai. Gleich soll hier der Berufungsprozess gegen Nasser R. beginnen. R. ist einer der gefährlichsten Clanchefs in Berlin. Ein untersetzter Mann mit der Statur eines Bodybuilders und mit kantigem Schädel. Er ist 45 Jahre alt, hat 15 Jahre seines Lebens im Gefängnis verbracht. Ob Drogen- und Waffenhandel, Verkehrsdelikte oder Körperverletzung. Sein Vorstrafenregister ist lang. Jetzt steht er wieder vor Gericht. Er soll einen Tschetschenen halb tot geschlagen haben.

Der Staatsanwältin ist eine erfahrene Kollegin. Aber in diesem Moment verliert sie die Fassung. In ihrem Gesicht steht die nackte Angst. Was sie jetzt befürchten müsse, fragt der Fotograf. Sie schaut ihn entgeistert an. Sie sagt, sie ermittle im Bereich der Organisierten Kriminalität. "Noch Fragen?"

Die Clans bedrohen Richter und Staatsanwälte in Berlin

Das Szenario wirft ein Schlaglicht auf ein Problem, das von der Justiz tabuisiert wird. Denn es berührt den Rechtsstaat an einer empfindlichen Stelle: Wie sicher können sich Richter und Staatsanwälte fühlen, die es mit Schwerverbrechern zu tun haben – insbesondere mit Mitgliedern der Clans? Die spielen in der Organisierten Kriminalität (OK) eine wichtige Rolle. In Berlin ist jeder fünfte Tatverdächtige ein Clanmitglied.

Offiziell bestätigt wird das vom Landgericht zwar nicht, aber regelmäßig stehen Richter und Ermittler unter Polizeischutz. Ein Skandal, der nur deshalb niemanden aufregt, weil sich keiner traut, ihn zu thematisieren. Derzeit, so hat es die "Bild"-Zeitung berichtet, sollen es drei Richterinnen sein. In der Antwort auf eine Anfrage von t-online ans Berliner Landeskriminalamt (LKA) ist von einer "einstelligen Zahl" die Rede.

"Rechtsstaat am Ende"

Ralph Knispel, Chef der Vereinigung Berliner Staatsanwälte, will das nicht kommentieren. Dabei ist er einer der wenigen, die sich trauen, überhaupt über das Problem zu reden. Er hat ein Buch über die Missstände in der Justiz geschrieben: "Rechtsstaat am Ende". Knispel prangert darin die Art und Weise an, in der viele Clanmitglieder vor Gericht auftreten.

Er sagt, es passiere häufig, dass sie ihn einfach duzten oder nicht ausreden ließen. Ihr Verhalten gegenüber Kolleginnen sei noch despektierlicher. Ein Stinkefinger ist im Gerichtssaal offenbar keine Seltenheit. "Manchmal reicht ja schon eine Geste, um seinem Gegenüber zu signalisieren, dass man ihn nicht ernst nimmt."

Die Kollegen ließen sich davon aber nicht irritieren. Als Staatsanwälte sind sie öffentliche Personen. Und als solche müssten sie es sich auch gefallen lassen, dass sie fotografiert werden und ihr Bild im Internet lande. Ein Unbehagen wie im Fall der Staatsanwältin, die deshalb mit einem Fotografen in Streit geriet, reiche aber nicht aus, um Polizeischutz zu beantragen. Der wird maßgeschneidert auf die Person des Schutzsuchenden. Das Angebot reicht vom regelmäßigen Anfahren des Wohnsitzes bis zu ständiger Begleitung.

Zuständig dafür ist eine eigene Dienststelle beim Landeskriminalamt. Eine Einrichtung, die es in dieser Form nur in Berlin gibt. Sie analysiert die Persönlichkeit desjenigen, von dem die Bedrohung ausgeht. Clanmitglieder seien besonders gefährlich, sagt Knispel. Erstens seien sie besonders gewalttätig. Und zweitens fehle ihnen der Respekt vor dem Rechtsstaat. Von einer "Paralleljustiz" sprechen Mathias Rohe und Mamoud Jaraba.

Der Staat, Dein Feind und Helfer

Die Mehrheit der in den achtziger Jahren aus dem Libanon nach Berlin eingewanderten Clans lebe nach dem "Gewohnheitsrecht", nicht nach deutschen Gesetzen, schreiben die Wissenschaftler in einer Studie für den Berliner Senat. Wie im Libanon werde der Staat auch hierzulande als Feind wahrgenommen, auch wenn er sie finanziell unterstütze. Nur vereinzelt gelinge es Mitgliedern, aus dem Gefängnis ihrer Kultur auszubrechen. "Je jünger sie sind, desto schwieriger wird es für sie, daraus auszubrechen, denn sie kennen nichts anderes."

Die Studie datiert von 2016. Seither ist der Kampf gegen die Clankriminalität in Berlin ganz oben auf die Agenda der Polizei gerutscht. Straftaten der Clans werden jetzt in einem eigenen Lagebild erfasst. Die Justiz hat 77 Immobilien beschlagnahmt, bei denen der Verdacht besteht, dass sie mit illegal erwirtschaftetem Vermögen finanziert wurden. Mit regelmäßigen Razzien in Shisha-Bars signalisieren die Polizisten: Die Straße gehört uns, nicht Euch.

Warum immer mehr Zeugen einknicken

Doch im Gerichtssaal ist dieser Kampf offenbar noch nicht angekommen. Im Gegenteil. Knispel sagt, er habe den Eindruck, die Clans seien noch respektloser geworden. Viele können sich prominente Anwälte leisten. Immer häufiger erlebe er es, dass Zeugen in der Hauptverhandlung plötzlich einknickten und ihre vorher bei der Polizei protokollierten Aussagen änderten oder völlig zurückzögen.

Oft stammen sie selbst aus dem Milieu der Clans, und im Gegensatz zu dem Rapper Bushido, der seit zwei Jahren gegen seinen ehemaligen Geschäftspartner Arafat Abou-Chaker prozessiert, bekommen sie keinen Polizeischutz. Dass sie in der Hauptverhandlung wieder zurückruderten, wundert Knispel nicht. Über die Motive kann er aber nur spekulieren. Mal seien sie bedroht worden, mal hätten verfeindete Clans das Problem untereinander gelöst, mit sogenannten "Ausgleichszahlungen".

Es ist ein Trend, den auch Kollegen bestätigten. Das bereitet Knispel Sorge. Clanmitglieder, die den Gerichtssaal als Unschuldige verlassen, obwohl die Beweislage gegen sie vor dem Widerruf der Zeugenaussagen erdrückend war, untergraben das Vertrauen in den Rechtsstaat. So steht es auch in seinem 2021 erschienenen Buch. Darin beschreibt er auch einen persönlichen Vorfall mit einem Clanchef im Gerichtssaal.

Es war 2019. Das Landgericht Berlin hatte gerade den 19-jährigen Sohn des berüchtigten Clanchefs Issa Remmo mangels Beweisen vom Vorwurf des Mordes an Ali O. freigesprochen, auch er Mitglied eines Clans. Knispel hatte angekündigt, in Revision zu gehen.

Issa Remmo flippt aus

Plötzlich sprang der für seine cholerischen Wutanfälle gefürchtete Remmo auf und ging auf Knispel los. "Herr Staatsanwalt, ich kenne Sie – und alle, die mit Euch arbeiten! Ich weiß genau, wer das war! Herr Staatsanwalt, das macht man nicht! Sie wissen das von Anfang an! Ich bin ein sauberer Mensch! Ich habe Respekt für dieses Land, aber für dich absolut gar nicht, Herr Staatsanwalt. Ich schulde keinem Menschen was!“

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Nein, sagt Knispel heute. Angst habe er damals keine gehabt. "Es waren noch etliche Meter Platz zwischen ihm und mir." Justizwachmeister hätten den Clanchef festgehalten. Und nach einigen Wochen und einem Ordnungsgeld von einigen hundert Euro sei der Clanchef bei ihm erschienen, um sich persönlich bei ihm zu entschuldigen.

"Deutschlands härtester Oberstaatsanwalt"

Knispel sagt, er habe die Entschuldigung angenommen, auch wenn er das Verhalten "völlig inakzeptabel" finde. Aber er hat auch ein dickes Fell. "Deutschlands härtester Oberstaatsanwalt", so hat ihn ein Boulevardblatt mal genannt. Er ist seit über 30 Jahren beim Landgericht.

Er stand schon selbst unter Polizeischutz, nicht nur einmal, sagt er. Warum, darüber will er schon aus taktischen Gründen nicht reden. "Das liegt schon längere Zeit zurück und hatte nichts mit Clankriminalität zu tun." Damals, räumt er ein, habe er sich außerhalb des Gerichtes häufiger umgeschaut.

Überhaupt gebe es ein paar Grundregeln, die seine Zunft beachten müsse. Niemals die Wohnanschrift verraten zum Beispiel, und eine Auskunftssperre im Einwohnermeldeamt beantragen.

Drohkulisse vor dem Landeskriminalamt

Ein hundertprozentiger Schutz ist aber auch das nicht. Es gibt Geschichten von Justizangestellten, die nach der Arbeit abgefangen und verfolgt wurden.

Vor dem Landeskriminalamt (LKA) am Tempelhofer Damm, so erfährt man bei der Gewerkschaft der Polizei (GdP), postierten sich immer mal wieder Tatverdächtige, um Beamte einzuschüchtern, die als Zeugen in Prozessen gegen sie aussagen müssen. "So etwas macht was mit einem", sagt GdP-Sprecher Benjamin Jendro.

Überhaupt: die Polizei. Ralph Knispel sagt, als Oberstaatsanwalt sei er in der glücklichen Lage, im Ernstfall Polizeischutz beantragen zu können. Doch Polizisten hätten dieses Privileg nicht. Dabei seien sie den Anfeindungen von Clanmitgliedern noch unmittelbarer ausgesetzt.

"Du Schwuchtel, geh erst mal ins Fitnesscenter!"

GdP-Sprecher Benjamin Jendro kann ein Lied davon singen. Er sagt, seine Kollegen würden regelmäßig beschimpft, vor allem bei Hausdurchsuchungen oder wenn sie als Zeugen vor Gericht aussagen. "Du Schwuchtel, geh erst mal ins Fitnesscenter" sei noch eine der harmloseren Begrüßungen. Regelmäßig wurden Kollegen von den Angeklagten auch bedroht. "Ich weiß, wo Du wohnst. Grüß Deine Kinder von mir!"

Ein Kontaktbeamter, der seit 30 Jahren Streife in Neukölln fahre, komme damit in der Regel zurecht. Der kenne die Leute und tausche auch mal einen flapsigen Spruch mit ihnen aus. Aber für einen Berufsanfänger sei es mitunter hart. "Wenn der jemanden festnehmen muss, kommen gleich Familienangehörige aus Nachbarhäusern angerannt, und er steht da allein vor einer Gruppe von 20, 30 Leuten."

Die Grenzen des Rechtsstaats

Nach guter PR für Nachwuchs klingt das nicht. Was muss passieren, damit Polizisten, Richter und Staatsanwälte ihren Job wieder machen können, ohne Angst haben zu müssen, dass ihr Foto mit ihrem Namen im Internet landet? Ralph Knispel sagt: "Es gibt nur einen Weg, das ist die konsequente Anwendung des geltenden Rechts."

Er klingt wie das sprichwörtliche Pfeifen im Walde, als müsse er sich selbst Mut zusprechen. Der Kampf gegen die Clankriminalität, er hat begonnen. Doch Deutschlands härtester Staatsanwalt macht sich keine Illusionen darüber, dass Polizeischutz für seine Zunft auf absehbare Zeit überflüssig werden könnte. Er sagt: "Es gibt Personenkreise, die werden wir nicht erreichen."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen im Landgericht
  • Interview mit Ralph Knispel
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