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Grüne Spitzenkandidatin in Berlin: "Wollen das eigene Auto überflüssig machen"


Grüne Spitzenkandidatin
"Wir wollen das eigene Auto überflüssig machen"


Aktualisiert am 22.08.2021Lesedauer: 7 Min.
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Bettina Jarasch bei einer Wahlkampfveranstaltung auf dem Tempelhofer Feld: Die grüne Spitzenkandidatin will Regierende Bürgermeisterin von Berlin werden.Vergrößern des Bildes
Bettina Jarasch bei einer Wahlkampfveranstaltung auf dem Tempelhofer Feld: Die grüne Spitzenkandidatin will Regierende Bürgermeisterin von Berlin werden. (Quelle: Future Image/imago-images-bilder)

Bettina Jarasch will Berlin regieren: Die grüne Spitzenkandidatin setzt im Wahlkampf vor allem auf die Themen bezahlbarer Wohnraum und Klimaneutralität. t-online hat mit ihr gesprochen.

Als die Berliner Grünen ihre Spitzenkandidatin für den Posten der Regierenden Bürgermeisterin präsentierten, war ihr Name vielen Berlinerinnen und Berlinern noch kein Begriff. Mit ihrer Forderung, Autos mit Verbrennungsmotor bis 2030 aus der Innenstadt zu verbannen, hat Bettina Jarasch inzwischen für Aufsehen gesorgt. Hinter allen Projekten, die die Grünen mit der womöglich ersten weiblichen Bürgermeisterin der Stadt angehen wollen, steckt das erklärte Ziel der Klimaneutralität. So auch auf dem angespannten Berliner Wohnungsmarkt.

t-online: Im April ist der Mietendeckel gescheitert, weil das Land bislang nicht die gesetzgeberische Kompetenz dafür hat. Nun hat das Abgeordnetenhaus den Senat aufgefordert, eine Bundesratsinitiative zu starten, durch die Länder und Kommunen Mietsteigerungen stärker regulieren können sollen. Warum halten Sie weiter an dem Vorhaben fest?

Bettina Jarasch: Ich habe mich sogar persönlich dafür eingesetzt, dass eine Öffnungsklausel für regionale Lösungen ins Programm der Grünen zur Bundestagswahl aufgenommen wird. Der Deckel ist gescheitert, weil das Gericht gesagt hat, dass die Zuständigkeit beim Bund liegt. Große Städte mit angespanntem Wohnungsmarkt brauchen aber eine Möglichkeit, die steigenden Mieten zu bremsen. Der Mietendeckel, den wir in Berlin eingeführt hatten, war eine Notbremse. Hätte das Bundesverfassungsgericht das Gesetz nicht gekippt, gäbe es einen Mietendeckel schon in vielen anderen deutschen Städten und Regionen, die einen ähnlich angespannten Mietmarkt haben wie Berlin.

Die einfachste Lösung wäre es doch, in Berlin ganz viele neue Mietshäuser zu bauen. Auch Ihre Konkurrenz propagiert den Wohnungsneubau.

Bei der Diskussion um Wohnungsneubau werden die steigenden Mietpreise häufig vergessen. Die Themen Mietenregulierung und Neubau müssen zusammen betrachtet werden. Die soziale Frage wird im Bestand gelöst.

Beim Wohnungsbau brauchen wir vor allem bezahlbaren Neubau für Menschen mit wenig Einkommen, aber auch für die sogenannte Mittelschicht, also für Menschen mit mittleren Einkommen, die inzwischen ebenfalls Probleme haben, etwas zu finden.

Wie wollen Sie es schaffen, dass auf den Bauflächen, die Berlin noch hat, auch wirklich dieser benötigte, bezahlbare Wohnneubau entsteht und keine Eigentumswohnungen, die das Problem am angespannten Wohnungsmarkt eher verschärfen?

Die entscheidenden Faktoren sind Grund und Boden sowie das Baurecht. Bei Bauland, das dem Land Berlin gehört, können wir als Landesregierung sehr viel Einfluss darauf nehmen, was – und wie – dort gebaut wird. Mit anderen Worten: Wir dürfen Bauland und -recht nicht an die vergeben, die den höchsten Preis bieten, sondern an die, die das bauen, was wir brauchen – sozialen und ökologischen Wohnneubau.

Baurecht für private Bauherren gibt es ja heute schon nur gegen die Bedingung, auch zu einem bestimmten Prozentsatz Sozialwohnungen zu errichten. Den Anteil an bezahlbaren Wohnungen auch im mittleren Segment müssen wir ausbauen. Ganz wichtig ist uns, dass wir städtische Grundstücke nicht mehr verkaufen, sondern als sogenanntes Erbbaurecht vergeben.

Und natürlich muss der Neubau ökologisch werden. Zement, der beim Bauen verwendet wird, ist einer der maßgeblichen CO2-Sünder und wir wollen Berlin zur klimaneutralen Stadt machen. Da müssen wir auch stärker andere Materialien wie etwa Holz einsetzen. Klimaschutz muss Priorität haben – und das hat er nur mit uns!

Und wenn das alles nicht hilft und der Wohnungsmarkt in Berlin weiterhin angespannt bleibt, dann werden die großen Wohnungskonzerne enteignet? In Ihrem Wahlprogramm steht, dass Sie sich Vergesellschaftung, wie sie die Initiative "Deutsche Wohnen und Co. enteignen" fordert, als letztes Mittel vorstellen können. Wie wollen Sie das finanzieren? Der Senat rechnet mit Kosten von bis zu 39 Millionen Euro.

Die Enteignung großer Wohnungskonzerne ist nicht nur eine finanzielle Frage, sondern vor allem eine politische. Die Vergesellschaftung dieser Unternehmen kann nur das letzte Mittel sein, wenn alle anderen Mittel erschöpft sind. Es ist derzeit noch völlig unklar, wie genau das funktionieren könnte, also vor den Gerichten Bestand hat und den Mieterinnen und Mietern in Berlin Sicherheit bringt. Da sind noch viele Fragen zu klären. Ich möchte einen anderen Weg gehen: den Druck des Volksentscheids nutzen, um mit Wohnungsunternehmen, Genossenschaften und privaten Vermietenden einen Pakt zu schließen, den Berliner Mietenschutzschirm. Sie bekommen Anreize für energetische Sanierung und Neubau – und verpflichten sich im Gegenzug verbindlich auf ein Mietmoratorium und faire Mietpreise. Aber ich nehme die Vergesellschaftung erst vom Tisch, wenn dieser Pakt tatsächlich zustande kommt und erfolgreich ist, sprich genug dauerhaft bezahlbaren Wohnraum und gemeinwohlorientierten Neubau sichert.

Sie haben schon anklingen lassen, dass Sie mehr ökologischen Neubau in Berlin wollen und die Stadt klimaneutral werden soll. Ein großer Hebel, um das umzusetzen, ist die Verkehrswende. Damit die Berlinerinnen und Berliner ihr Auto künftig stehen lassen, wollen Sie die Fahrt mit BVG und S-Bahn attraktiver machen. Wie?

Menschen steigen nicht allein wegen des Ticketpreises auf den ÖPNV um, sondern wenn dieser sie wirklich schnell, sicher und von überall an ihr Ziel bringt. Wir werden also das ÖPNV-Netz massiv ausbauen und auch die Stadtrandlagen und das Brandenburger Umland besser anbinden. Die Zusammenarbeit mit Brandenburg ist mir sehr wichtig. Ich glaube, da ist viel mehr drin als das, was wir bisher gemacht haben.

Wir wollen aber auch einen kostengünstigen ÖPNV für alle. Dafür schlagen wir eine Art Umlagefinanzierung vor, wie sie etwa in Baden-Württemberg unter dem Namen Mobilitätspass erprobt wird. Alle erwachsenen Berlinerinnen und Berliner würden beispielsweise 15 Euro im Monat zahlen und könnten dann den gesamten Nahverkehr in Berlin nutzen. Das ist unsere Idee des "Berliner Bären-Tickets". Das wäre deutlich günstiger als das jetzige Monatsticket. Das Bären-Ticket bringt also allen was, auch denen, die nur Auto fahren und nie den ÖPNV nutzen. Weil ihre Familien dann kostenlos mit Bus und Bahn fahren könnten und weil die, die ihr Auto wirklich noch brauchen, dann nicht mehr im Stau stehen.

Wie wollen Sie das finanzieren? Durch eine solidarische Abgabe von 15 Euro im Monat wird das kaum machbar sein.

Durch das Berliner Mobilitätsgesetz und den Verkehrsvertrag haben wir schon jetzt 28 Milliarden Euro für Investitionen bis zum Jahr 2035 gesichert. Davon sollen neue Strecken gebaut, aber vor allem neue S- und U-Bahn-Wagen und Elektrobusse gekauft werden. Ich setze aber auch darauf, dass wir eine grüne Regierung im Bund bekommen und möglichst auch ein grünes Verkehrsministerium. Solange der Verkehrsminister Andreas Scheuer heißt, geht das Geld aus dem Ministerium in die nächste Umgehungsstraße einer bayerischen Kleinstadt. Das sollte sich dringend ändern. Die Milliardengelder, die im Bund für Verkehr ausgegeben werden, müssen umgeleitet werden – von der Straße auf die Schiene. Und wenn Berlin die benötigten Gelder bekommt, dann sind wir bereit. Wir haben die Grundlagen bereits gelegt.

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Gemeinsam mit Brandenburg und der Deutschen Bahn haben wir das Projekt "i2030" entwickelt. Es wird also schon jetzt an Strecken geplant, die sich durch die gesamte Metropolregion teilweise bis zur polnischen Grenze erstrecken. Damit können wir uns schnell bewerben, wenn die Gelder für neue Streckenverbindungen im Bund bereitgestellt werden. Das würde auch der Entwicklung im ländlichen Raum in Brandenburg einen großen Schub geben. Menschen mit Job in Berlin bieten sich im Umland dadurch auch neue Wohnmöglichkeiten. Die neuen Bahnstrecken bieten dann neue Möglichkeiten für den Pendelverkehr.

Berlinerinnen und Berliner sollen das Auto also stehen lassen und auf den ÖPNV oder das Rad umsteigen. Im Berliner Straßenverkehr kommt es aber auch immer wieder zu schweren Radunfällen. Das wird sich auch durch einen Ausbau des ÖPNV nicht verhindern lassen.

Ja, wir brauchen in Berlin mehr geschützte Radwege und Kreuzungen. Wir dürfen aber auch die schwächsten Verkehrsteilnehmer nicht vergessen: Gesicherte Fußgängerüberwege sind ebenso wichtig. Wir Grünen sind sehr ungeduldig, was die Entwicklung angeht. Durch die Pop-up-Radwege haben wir einen echten Schub in der Umsetzung neuer Radwege bekommen. Die sieht man überall in der Stadt – und sie werden verstetigt. Dieses Tempo will ich halten. Auch durch provisorische Lösungen.

Indem wir die Zuständigkeiten für Radwege neu aufteilen, wird auch die Umsetzung in Zukunft leichter werden. Für alle Hauptverkehrsstraßen ist in Zukunft das Land verantwortlich, für die Radwege auf Nebenstraßen die Bezirke. Somit bündeln wir die Kompetenzen an den richtigen Stellen. Und wir können noch schneller werden.

Viele Fahrradunfälle geschehen aber auch, weil Fahrzeuge auf Radwegen parken. Muss dann nicht auch bei der Polizei und den Ordnungsämtern angesetzt werden? Die müssten die Gefährdung doch erkennen und beheben, bevor etwas passiert.

Polizei und Ordnungsämter haben viele verschiedene Aufgaben. Die Kontrolle von Zweite-Reihe- und Radweg-Parkern hatte in der Vergangenheit nicht immer Priorität. Das muss sich ändern. Ich freue mich daher auch, dass sich der Innensenator und die Verkehrssenatorin (Anm. d. Red.: Andreas Geisel, SPD und Regine Günther, Grüne) zusammengetan haben und das Zuparken von Radwegen nun viel schärfer kontrolliert wird – bis es wirklich allen klar ist, dass das nicht geduldet wird.

Die Initiative "Berlin autofrei" setzt sich für eine – wie der Name schon sagt – (fast) autofreie Innenstadt ein. Erreichen will die Initiative das mit Verboten. Was ist Ihr Ansatz?

Wir werden das Autofahren nicht verbieten, wir wollen Angebote schaffen, um das eigene Auto überflüssig zu machen. Aber wir arbeiten natürlich auch an Lösungen für den Wirtschaftsverkehr. Händlerinnen und Händler in der Innenstadt müssen weiter mit Waren beliefert werden. Anstatt in zweiter Reihe aus einem Lkw auszuladen, machen wir Parkbuchten für den Lieferverkehr frei, indem insgesamt weniger Autos unterwegs sind. Und zugleich werden wir die Lieferungen so weit wie möglich auf die Schiene oder Wasserstraßen verlegen und für die letzte Meile fördern wir Lastenräder.

Freie Flächen können dann entsiegelt werden. Wir können Parkplätze zu Parks machen. Das Mehr an Grünflächen bietet "Kiezoasen". Eine autoärmere Innenstadt bietet so eine bessere Lebensqualität für alle, die in Berlin wohnen, und vor allem mehr Kühlung bei Hitze und mehr Versickerung bei Starkregen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Am 26. September wählen die Berlinerinnen und Berliner neben dem Deutschen Bundestag auch das Berliner Abgeordnetenhaus sowie die Bezirksverordnetenversammlungen. Für einen Überblick über die Positionen und Ziele der Berliner Parteien hat t-online Interviews mit den jeweiligen Spitzenkandidaten für die Abgeordnetenhauswahl geführt. Jeden Sonntag finden Sie ein weiteres Gespräch auf t-online.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Bettina Jarasch
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