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Ukrainische Familie in Frankfurt: "Tägliche Bilder schocken uns nicht mehr"


Russischer Überfall
"Die täglichen Bilder aus der Ukraine schocken uns nicht mehr"

Von Stefan Simon

Aktualisiert am 27.08.2022Lesedauer: 4 Min.
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Geflüchtete in Irpin, der Heimat von Yana Doodka (Archivbild): Zurück in die Ukraine möchte die Familie wieder, so bald wie möglich. (Quelle: IMAGO/Mykhaylo Palinchak)

Viele Familien flohen seit dem Kriegsbeginn in der Ukraine nach Deutschland. Die Schrecken in ihrer Heimat haben vor allem die Kinder schwer traumatisiert.

Auf den Tag genau vor sechs Monaten, am 24. Februar, flüchten die Doodkas aus ihrer Heimat. Yana verlässt mit den beiden Kindern die Stadt Irpin, ihre Schwiegermutter Valentyna den kleinen Ort Bila Tserkva, der rund 90 Kilometer entfernt von Kiew liegt. Die Ehemänner von Yana und Valentyna müssen an der Grenze zurückbleiben, die Frauen und Kinder fliehen nach Deutschland in die Nähe von Frankfurt am Main. Dort, wo Valentynas Tochter Anna seit ein paar Jahren lebt.

t-online hat Anfang März über die Fluchtgeschichte der Doodkas berichtet (mehr dazu lesen Sie hier). Ihre Geschichte zeigte schon zu Beginn der Fluchtbewegungen aus der Ukraine, wie der Krieg eine Familie entzweit. Nun leben die Doodkas seit sechs Monaten in Deutschland. Was hat sich seither bei ihnen getan? Und wie geht es ihnen ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn?

Valentyna und Yana können aus Zeitgründen nicht an dem Gespräch teilnehmen. "Wir feiern heute Abend den Geburtstag von meiner Mutter", erzählt Anna. Ihr Mutter Valentyna wird 61 Jahre alt. Es ist das erste Mal, dass sie ihren Geburtstag nicht mit ihrem Ehemann Volodymyr feiern kann. Dennoch, ein wenig Ablenkung vom Krieg in der Ukraine tut den Frauen gut. An den Krieg haben sie sich schon längst gewöhnt, erzählt Anna.

Die Spuren des Krieges sitzen nicht mehr so tief

"Es ist noch immer schwer zu verstehen, einerseits, weil wir dachten, dass der Krieg nur ein paar Tage dauern wird und jetzt sind es bereits sechs Monate. Aber wir bleiben immer stark." Man habe sich in der Zeit daran gewöhnt. Der Krieg sei für sie zur Normalität geworden. Auch hätten sich die Verhaltensweisen geändert, erzählt Anna. "Wir agieren und interagieren anders. Wir sind nicht mehr täglich geschockt über die Bilder, die wir aus der Ukraine sehen."

Die Spuren des Krieges sitzen bei Annas Mutter Valentyna nicht mehr so tief wie in den ersten Monaten. Anfangs benötigte sie Schlaftabletten. Doch nun kann sie mittlerweile besser schlafen. "Es geht ihr physisch besser, aber psychisch ist es schwer", erzählt Anna. Das habe auch viel damit zu tun, dass Valentyna, Yana und die Kinder in einem Dorf, rund 70 Kilometer entfernt von Frankfurt lebten und dort relativ isoliert seien. Doch das ändert sich bald, denn ab 1. Oktober ziehen sie nach Frankfurt in eigene Wohnung.

Richten sich die Doodkas also darauf ein, ein neues Leben in Deutschland zu beginnen? Nein. "Der Plan ist", so Anna, "dass sie maximal bis März bleiben. Ob das realistisch ist, weiß ich nicht. Mein Bruder hält es ohne Yana und seine Kinder nicht mehr aus. Er sagte, dass es im Westen des Landes sicherer sei. Auch meine Schwägerin will nach Hause, aber die Sicherheit geht vor."

Die Hoffnung also, dass der Krieg in den nächsten Monaten endet, sie bleibt. Anna setzt große Hoffnungen in das Ölembargo der EU. Russland könnten damit im nächsten Jahr 120 Milliarden Euro an Einnahmen entgehen. Sie hofft, dass Putin dadurch Probleme bekommen wird, den Krieg zu finanzieren. Sicher ist, dass Moskau durch die Sanktionen und den sukzessiven Wegfall etablierter Transportwege erhebliche logistische Probleme hat.

Anna Doodka berät traumatisierte ukrainische Familien

Anders als Valentyna und Yana lebt Anna Doodka schon eine Weile in Deutschland. Seit Beginn des Ukraine-Kriegs spendet sie, sammelt Gelder und übersetzt für ukrainische Familien, etwa bei Gesprächen mit der Schulleitung. Ihr monatliches Budget liegt bei 50 Euro. "Meistens helfe ich Familien, wenn jemand in den Krieg eingezogen wird. Dann sammeln wir zum Beispiel für die Ausrüstung", erzählt Anna.

Die 32-jährige Psychologiestudentin arbeitet zudem im Ukrainischen Koordinationszentrum in Frankfurt als Praktikantin. Dort führt sie in psychologischen Sprechstunden auch Gespräche mit ukrainischen Eltern und deren Kindern. "Oft sind bei uns Personen, die schon vor dem Krieg eine Diagnose hatten oder deren Zustand sich seit Beginn des Krieges verschlechterte. Da kommt vieles zusammen: Angststörungen, Essstörungen oder Schlafprobleme. Derzeit haben wir fünf Anmeldungen von Kindern", sagt Anna.

An einen Fall kann sie sich noch gut erinnern: "Das Kind ist schwer traumatisiert. Es hat in Kiew gelebt und mitbekommen, wie das Nachbargebäude bombardiert wurde. Seitdem hat es epileptische Anfälle und benötigt eine Traumabehandlung. Dann gibt es Kinder, die sich wegen der Sprache isoliert fühlen. Sie können nicht mit anderen Kindern kommunizieren, wobei das in dem Alter sehr wichtig ist. Es können langfristige Folgen entstehen, wie Depressionen."

Rund die Hälfte aller Kriegsflüchtlinge sind Kinder

Bis zum 23. August 2022 wurden 967.546 Geflüchtete aus der Ukraine im deutschen Ausländerzentralregister (AZR) registriert. Frauen machen unter den Erwachsenen ein Viertel aus. 36 Prozent sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, darunter die meisten im Grundschulalter. Etwa 4,3 Millionen Kinder mussten aus den Kriegsgebieten der Ukraine fliehen, 1,8 Millionen in andere Länder, schätzte das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF Ende März. Rund die Hälfte der Kriegsflüchtlinge aus dem Land sind Kinder und Jugendliche.

Zerrissene Familien, traumatisierte Kinder – der Ukraine-Krieg hat sich schon lange in Deutschland manifestiert. Wie viele Familien allein hierzulande durch den Krieg getrennt und psychisch angeschlagen sind, kann wohl niemand genau sagen. Genauso wenig, wie lange der Krieg noch anhalten wird und welche Langzeitfolgen bei ukrainischen Familien bleiben.

Verwendete Quellen
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