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Nervenkrankheit ALS – Weiter keine wirksamen Medikamente


Gesundheit
Nervenkrankheit ALS: Mein Körper, mein Gefängnis

spiegel-online, Spiegel Online / Heike Le Ker

11.10.2011Lesedauer: 5 Min.
Stephen Hawking ist der wohl bekannteste ALS-Patient.Vergrößern des BildesStephen Hawking ist der wohl bekannteste ALS-Patient. (Quelle: Reuters-bilder)
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Die heimtückische Nervenkrankheit ALS sperrt Menschen in ihren eigenen Körper ein, bis er völlig erlahmt. Die Forschung macht zwar Fortschritte, doch bisher gibt es keine Heilung. So bleibt Betroffenen vorerst oft nur, auf Hilfe bei ihren Selbstzweifeln zu hoffen: Wie soll ich das nur ertragen?

Körperlicher Verfall bei vollem Bewusstsein

Ein Mann stolpert, vier Monate später sitzt er im Rollstuhl, und wenige Wochen danach ist er tot. Einer 66-jährigen Frau fallen ab und zu Gegenstände aus der Hand - nach zwei Jahren ist ihr ganzer Körper gelähmt, und sie stirbt. Beim Fußballspielen knickt ein 32-jähriger Sportler um und kämpft danach acht Jahre lang einen aussichtslosen Kampf gegen eine Krankheit, die einen komplizierten Namen trägt: Amyotrophe Lateralsklerose, kurz ALS. In Internetforen gibt es zahlreiche solcher Geschichten, sie alle ähneln einander, sie alle erzählen vom langsamen Verfall des Körpers, den Betroffene bei vollem Bewusstsein erleben.

Arme und Beine als erstes betroffen

Die Verbindung zwischen den Nervenzellen und den Muskeln gehen kaputt, die Muskeln bekommen keine oder zu wenig Signale aus dem Gehirn und können nicht mehr richtig gesteuert werden. Hände, Arme und Beine sind häufig zuerst betroffen, dann kommt die Stimme, später die Atemmuskulatur und der Schluckreflex. "Am Ende steht der komplette Autonomieverlust", sagt Thomas Meyer, Leiter der Ambulanz für ALS an der Berliner Charité. "Der Körper wird zum Gefängnis."

Keine wirksamen Medikamente gegen ALS

Der Maler Jörg Immendorff litt und starb an der Krankheit, gegen die es bisher keine Heilung gibt, der Physiker Stephen Hawking lebt dagegen seit Jahrzehnten damit. Betroffene, Angehörige und Ärzte stehen dem Nervenleiden oft hilflos gegenüber. Denn die Medizin kennt kein Mittel, das die Krankheit stoppen kann: Es gibt zwar eine Arznei, Riluzol heißt der Wirkstoff, die das Fortschreiten der Krankheit hinauszögern kann. Doch im fortgeschrittenen Stadium sind das drei Monate, vielleicht etwas mehr bei früherem Beginn der Behandlung. Manche hoffen, dass auch Lithium hilft, Studien haben das bisher jedoch nicht beweisen können.

"Die Betroffenen klammern sich an jeden Strohhalm"

Prominente wie Hawking und Immendorff haben der Krankheit in der Öffentlichkeit mehr Aufmerksamkeit verschafft. In den USA haben sich wohlhabende Betroffene für mehr Forschung auf dem Gebiet der ALS eingesetzt - und Geld investiert. So läuft derzeit eine von einer Pharmafirma initiierte globale Studie mit dem Wirkstoff Dexpramipexol. Er soll, ähnlich wie bestimmte Parkinson-Medikamente, die Nervenzellen schützen. "Die Betroffenen klammern sich an jeden Strohhalm", sagt Meyer, der Patienten in der sogenannten Empower-Studie behandelt. "Das Interesse an der Studie ist groß, aber wir mussten einige Patienten enttäuschen, weil sie nicht teilnehmen durften." Doch das Unternehmen will schon im Frühjahr 2012 eine Wiederholungsstudie mit höheren Dosierungen beginnen, um möglichst bald eine Zulassung beantragen zu können. Dabei ist der Absatzmarkt nicht unbedingt vielversprechend: Weltweit leiden rund 350.000 Menschen an der seltenen Krankheit.

Patienten und ihre Familien fühlen sich oft alleingelassen

Um ALS-Kranke und ihre Angehörigen zu unterstützen, hat RWE-Vorstandschef Jürgen Großmann jetzt die Initiative "Hilfe für ALS-kranke Menschen" gegründet. Der Anlass war die Erkrankung eines Mitarbeiters. Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder hat die Schirmherrschaft übernommen. Im Rahmen der Initiative wird es unter anderem ein web-basiertes Versorgungszentrum geben, bei dem die Charité mitwirkt. Ein Patientennetzwerk soll Betroffenen zudem die Möglichkeit bieten, untereinander und mit Therapeuten in Kontakt zu kommen. Denn die Patienten und ihre Familien fühlen sich oft allein gelassen mit der niederschmetternden Diagnose, wissen nicht, wohin sie sollen mit ihren Fragen und Ängsten. Auch die ALS-Forschung soll mit dem Geld der Initiative gefördert werden.

Wahrscheinlich gibt es Dutzende ALS-Ursachen

Die Wissenschaftler melden unterdessen neue Erkenntnisse: Im August 2011 berichtete ein Team um Han-Xiang Deng von der Northwestern University in Chicago im Fachblatt "Nature" über die Entdeckung eines wichtigen Abbau- und Reparaturproteins, das im zentralen Nervensystem von ALS-Patienten nicht richtig funktioniert. Dadurch sammeln sich fehlerhafte Eiweiße in den Zellen an. Sie bilden seilartig gedrehte Ablagerungen, die letztlich zum Tod der Neuronen führen, so dass die Steuerung der Muskeln versagt. "Vermutlich gibt es nicht die eine Ursache der ALS, sondern eher Dutzende", meint Thomas Meyer. "Bereits vor zwei Jahren wurde ein anderes Eiweiß entdeckt, das ebenfalls am Krankheitsprozess beteiligt ist."

Begleitumstände konnten verbessert werden

Weil die Suche nach einer wirksamen Arznei so schwierig ist, konzentrieren sich Betroffene und Mediziner darauf, die Begleitumstände der Krankheit zu verbessern. So bekommen die Patienten spezielle Nahrung, denn wer weniger Gewicht verliert, lebt länger. Auch die nächtliche Unterstützung bei der Atmung hilft den Betroffenen: "Eine gute Maskenbeatmung, die nachts eingesetzt wird, kann das Leben um ein Jahr verlängern", sagt Meyer. Hinzu kommen sogenannte umfeldverbessernde Maßnahmen: der Rollstuhl, das Pflegebett, die Kommunikation mit Augenbewegungen und manchmal auch Direktverbindungen zwischen Gehirn und Computer.

Abbruch der Beatmung ist die häufigste Todesursache

Doch während die kompensierenden Techniken immer besser werden, bleibt für Meyer eine zentrale Frage offen: "Wer kann das aushalten? Wer erträgt es, bei wirklich allem von Hilfe abhängig zu sein?" Die Antwort geben die Betroffen meist mit einer finalen Entscheidung: "Sie sehen die Gefangennahme im eigenen Körper kommen", so Meyer. "Die Mehrheit verzichtet daher auf eine lebensverlängernde Beatmungstherapie." Eine Entscheidung, die der Arzt verstehen kann. Zwar hat eine im Deutschen Ärzteblatt veröffentlichte Untersuchung von Wissenschaftlern um Dorothee Lule vom Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie an der Universität Tübingen gezeigt, dass viele ALS-Patienten trotz der emotionalen Belastung durch die Diagnose und der fortschreitenden Lähmungen ihre Lebensqualität subjektiv für gut halten. Doch in der Langzeitbeatmung sind viele frustriert, berichtet Meyer: "Die Haupttodesursache von beatmeten ALS-Patienten ist der Abbruch der Beatmung auf Wunsch der Betroffen, weil sie demoralisiert sind."

Einschlafen im Kohlendioxid-Rausch

Wenn das Beatmungsgerät abgestellt wird, kann die geschwächte Atemmuskulatur der Betroffenen das anfallende CO2 nicht ausreichend schnell aus dem Körper befördern. Die Kranken geraten in einen Schlafzustand, den die Mediziner Kohlendioxid-Narkose nennen. "Nur 20 Prozent brauchen medizinische Hilfe in ihren letzten Stunden, was nicht gleichzusetzen ist mit Sterbehilfe", sagt Meyer. "80 Prozent der ALS Patienten versterben ruhig, sie schlafen einfach ein." Daran aber hegen andere Fachleute schwere Zweifel. "Die Geschichte vom friedlichen Einschlafen trifft auf einige zu, aber längst nicht auf alle", sagt Niels Birbaumer, Leiter des Instituts für Medizinische Psychologie an der Uni Tübingen. Das hätten nachträgliche Befragungen von Angehörigen ergeben. "Einige sagen die Wahrheit und berichten, dass der Tod alles andere als friedlich war. Die Leute sind qualvoll erstickt."

Gelähmte nicht weniger glücklich als Gesunde?

Birbaumer, einer der Pioniere auf dem Gebiet der Computer-Hirn-Schnittstellen, glaubt auch nicht, dass Gelähmte grundsätzlich weniger glücklich sind als gesunde Menschen. Auf standardisierten Fragebögen zur Lebensqualität der Patienten zeigten sich stets enorme Unterschiede - je nachdem, wer die Bögen ausgefüllt habe. Während Angehörige und Freunde überzeugt seien, der Betroffene durchleide Höllenqualen, äußerten sich die Patienten selbst recht zufrieden. Einige Ergebnisse deuteten gar darauf hin, dass die Lebensqualität mit der Zeit besser werde. Etwa nach einem halben Jahr, so Birbaumer, hätten sich viele vollständig Gelähmte an ihre neue Situation gewöhnt. "Alle Untersuchungen zur Lebensqualität nach der Beatmung zeigen, dass die Lebensqualität durchschnittlich ist", sagt Birbaumer. "Damit ist sie genauso gut wie bei Gesunden."

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
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