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Nato: Deutschland verspielt Vertrauen als Führungsmacht


Ehemalige Nato-Chefstrategin
"Selbst wenn Putin morgen tot umfallen sollte"

InterviewVon Miriam Hollstein

Aktualisiert am 28.04.2023Lesedauer: 7 Min.
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Russlands Diktator Wladimir Putin (Archivbild).Vergrößern des Bildes
Russlands Diktator Wladimir Putin (Archivbild). (Quelle: Matthew Stockman)

Deutschland will Führungsmacht sein, verspielt aber allerorten Vertrauen. Was Kanzler Scholz anders machen müsste, erklärt Nato-Expertin Stefanie Babst.

Russland gebärdete sich immer aggressiver, doch in Deutschland nahm kaum jemand diese Bedrohung wahr. Bis russische Truppen im Februar 2022 die Ukraine überfielen. War es Leichtsinn, war es Ignoranz? Stefanie Babst diente früher der Nato als Chefstrategin, im t-online-Interview analysiert die Expertin die Fehler der deutschen Regierung. Und erklärt, was die Bundesrepublik nun tun muss, um ihrem Führungsanspruch in Europa endlich gerecht zu werden.

t-online: Frau Babst, die deutsche Politik hat den Angriff auf die Ukraine lange nicht sehen wollen. Wie erklären Sie sich diese Blindheit?

Stefanie Babst: Dafür gibt es viele Gründe, aber es hat auch mit der begrenzten Wahrnehmung in dem Berliner Politikbetrieb zu tun. Viele Entscheidungsträger orientieren sich stark an der medialen Aufmerksamkeit und übersehen dabei wichtige Entwicklungen. Mit Blick auf Russland überwog offensichtlich die Haltung: Es kann nicht sein, was nicht sein darf.

Ist das in anderen Ländern anders?

Ich bin mit vielen Politikern in anderen Ländern im Austausch. Dort wurde die drohende Gefahr eines russischen Angriffskrieges deutlich ernster genommen als in Deutschland. Noch im Januar schloss der Bundeskanzler Waffenlieferungen an die Ukraine aus; auch an Nord Stream 2 hielt er bis zuletzt fest. Dabei war spätestens Weihnachten klar, dass Putin eine ernsthafte militärische Drohkulisse aufgebaut hatte. Das hat mich ziemlich wütend gemacht.

Welche Anzeichen hatte es gegeben?

Sehr viele. Bereits im Oktober begannen die USA, ihre Verbündeten regelmäßig über den militärischen Aufmarsch Russlands entlang der Grenze zur Ukraine zu informieren. Putin ließ beispielsweise Pontonbrücken bauen und größere Blutreserven anlegen. Die Einsatzbereitschaft der Truppen wurde sukzessive erhöht. Das waren alles klare Signale. Während dieser Zeit war man hier aber primär mit den Koalitionsverhandlungen beschäftigt.

Anfang Februar ist Bundeskanzler Olaf Scholz noch einmal nach Kiew und Moskau gereist, in der Hoffnung, vermitteln zu können.

Ich habe in diesen Monaten oft mit meinen früheren Nato-Kollegen gesprochen. Sie alle waren sich sicher: Hier betreibt Moskau nur ein diplomatisches Ablenkungsmanöver, um den Schein der Verhandlungsbereitschaft zu wahren. In Wirklichkeit schloss es die letzten Vorbereitungen für einen militärischen Angriff ab.

Was hätten Sie von der Bundesregierung erwartet?

Ich hätte erwartet, dass die Bundesregierung konkrete Pläne entwickelt hätte, wie man im Falle eines Angriffs auf die Ukraine reagieren würde. Aber das Gegenteil war der Fall: In der Nato bezweifelten deutsche Vertreter noch wenige Tage vor Kriegsbeginn, dass Putin bald den Angriffsbefehl geben würde.

Von Russland, aber auch Teilen der deutschen Friedensbewegung wird das Argument angeführt, der Krieg sei eine Reaktion auf die Nato-Osterweiterung. Mit dieser habe der Westen ein Versprechen von 1990 gebrochen, die Nato nicht auszudehnen.

Erstens: Es gab dieses Versprechen nie. Und zweitens: Ich war 20 Jahre lang in der strategischen Nato-Russland-Partnerschaft involviert. Ich habe selbst etliche Nato-Russland-Projekte unterstützt und geleitet. Und daher kann ich mit Sicherheit sagen: Es gab ehrliche Angebote an Russland, auf Augenhöhe mit der Nato eine stabile Partnerschaft zu entwickeln. Selbst nachdem Russland Georgien militärisch angegriffen hatte, blieb die westliche Kritik an Russland begrenzt. Für meinen Geschmack ging man damals allzu schnell wieder zur Tagesordnung über.

Hätte man die sicherheitspolitischen Interessen Russlands trotzdem vorher stärker in den Blick nehmen müssen?

Kein Land dieser Welt hat das Recht, über kleinere Länder zu bestimmen. Und es hat schon gar kein Recht, diese militärisch anzugreifen, wenn sie sich aus freien Stücken einem Bündnis wie der Nato anschließen wollen. Oder gar ihre nationale Identität und Staatlichkeit auszulöschen, wie Putin das gegenwärtig in der Ukraine versucht.

Die Nato hat eine direkte Kriegsbeteiligung in der Ukraine stets ausgeschlossen. Sie halten das für eine falsche Entscheidung. Warum?

Die Nato hätte gut daran getan, gegenüber Russland das Prinzip der strategischen Ambiguität anzuwenden.

Was ist darunter zu verstehen?

Man lässt die andere Seite bewusst im Unklaren darüber, welche nächsten Schritte man gehen wird. Anstatt sofort einen Ausschlusskatalog zu präsentieren, was man auf keinen Fall machen wird. Aber die USA haben eine direkte Nato-Beteiligung zugunsten der Ukraine sofort ausgeschlossen, statt Moskau gegenüber eigene Bedingungen zu stellen. Sie haben Putin damit die Eskalationsinitiative überlassen.

Nun, Olaf Scholz hat die Methode sehr wohl versucht. Er drohte Putin im Fall eines Angriffs der Ukraine vage mit "schweren Konsequenzen", die dann freilich nie kamen. Das war genauso erfolglos.

Man sollte sich immer ein Spektrum an Handlungsmöglichkeiten offenhalten. Das bedeutet aber nicht, dass man sich nicht selbst ein klares strategisches Ziel setzt. Leider aber haben weder Deutschland noch die Nato bis dato ein solch klares strategisches Ziel gegenüber Russland formuliert.

Sollte die Ukraine zügig in die EU oder die Nato aufgenommen werden?

Ja. Die Ukraine braucht eine kurz- oder mittelfristige Beitrittsperspektive. Und in einer Vorstufe benötigt die Ukraine glaubhafte militärische Sicherheitsgarantien seitens des Westens.

Wie sollten diese aussehen?

Sollte die Ukraine einen Waffenstillstand verhandeln müssen, ohne dass sie zu diesem Zeitpunkt ihr gesamtes Staatsgebiet zurückerobern konnte, bräuchte sie natürlich Hilfe, sich weiter gegen russische Angriffe zu verteidigen. Selbstverständlich würde Putin versuchen, die restliche Ukraine weiter zu destabilisieren. Eine westliche militärische Präsenz in der Ukraine könnte zum Beispiel die Grenze gegen erneute russische Aggression absichern und eine abschreckende Wirkung auf Moskau haben.

Und das wäre dann die Nato?

Oder eine freiwillige Gruppe von Nato-Staaten und anderen Ländern, die die Ukraine unterstützen, wie Australien, Japan oder Südkorea. Eine Nuklearmacht sollte schon mit dabei sein, denn mit Russland haben wir einen nuklear bewaffneten Gegner.

Aber genau das ist doch die Gefahr: Riskieren wir damit nicht eine nukleare Eskalation, die letztlich auch Europa treffen könnte?

Putin setzt die Angst vor dem Atomkrieg ja als gezielte politische Strategie gegen uns ein. Eine angstgetriebene Politik hilft uns als Antwort auf das Putin-Regime nicht weiter.

Sie glauben also nicht, dass Putin Atomwaffen einsetzen würde?

Die russische Regierung weiß sehr genau, mit welcher Reaktion sie rechnen müsste, sollte sie eine taktische Nuklearwaffe zünden. Das haben ihr die Amerikaner und die Nato sehr deutlich mitgeteilt. Ich bin überzeugt, dass Putin die Botschaft verstanden hat.

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Stefanie Babst, hier bei einem Auftritt bei "Anne Will" (Quelle: IMAGO/Jürgen Heinrich)

Die gebürtige Kielerin Stefanie Babst ist promovierte Politologin und ehemalige Chefstrategin der Nato, für die sie insgesamt 22 Jahre tätig war. Sie warnte früh vor einem Angriff Russlands und vor der drohenden Erstarkung Chinas. Seit 2020 arbeitet sie freiberuflich als Politikberaterin und Publizistin. Soeben ist bei dtv ihr Buch "Sehenden Auges" erschienen, in dem sie analysiert, wie der Westen in die Kriegssituation steuerte und warum ein Kurswechsel nötig ist.

Wie gespalten ist die Nato in der Ukraine-Frage?

Ich beobachte seit einiger Zeit eine zunehmende Gruppenbildung im Bündnis: Da sind die gegenüber Moskau sehr kompromisslosen Osteuropäer, die baltischen Länder und eine sehr ambitionierte polnische Regierung. Da sind Spanien, Italien und Portugal, für die die Bedrohungen aus dem Mittelmeerraum und Afrika immens wichtig sind. Da sind Ungarn und die Türkei, die nach wie vor enge Beziehungen mit Russland haben. Da ist ein französischer Präsident, der immer wieder sehr problematische Äußerungen zu Russland und China von sich gibt. Und da sind die USA, die bald in einen Präsidentschaftswahlkampf eintauchen werden.

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Verspielt Deutschland gerade seinen Führungsanspruch in Europa?

Einen strategischen und militärisch untermauerten Führungsanspruch zu erheben ist gegenwärtig nicht sehr glaubwürdig. Wo führt Deutschland denn?

Bei den Minsk-Verhandlungen zum Beispiel, mit denen der Krim-Konflikt zunächst befriedet wurde.

Das war nicht eben das Paradebeispiel für eine gelungene Konfliktprävention. Deutschland hat bei einigen seiner Verbündeten viel an Glaubwürdigkeit eingebüßt, weil es so lange an Nord Stream 2 festgehalten hat und die Bundeswehr über Jahre unterfinanziert und vernachlässigt hat.


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"Ich sehe einen starken Führungsanspruch in Polen."


Nato-Expertin Stefanie Babst


Wie könnte Bundeskanzler Scholz das Vertrauen zurückgewinnen?

Aus Deutschland müssten schon auch konkrete Vorschläge zu den wichtigsten strategischen Fragen kommen: Wie will man langfristig mit Russland umgehen? Was müssen wir tun, um unserem Ziel eines 'Europe whole, free and at peace' näherzukommen, so wie es der ehemalige US-Präsident Bush 1987 einmal ausgedrückt hat? Wie schnell sollen die ost- und mitteleuropäischen Staaten in die EU aufgenommen werden? Wie können wir Großbritannien wieder sicherheitspolitisch enger an die EU heranführen? Denn ohne Großbritanniens militärischen Beitrag wird eine europäische Autonomie wohl schwer vorstellbar. Und natürlich müssten wir auch Zweifel ausräumen, die bei denjenigen Verbündeten aufgetaucht sind, die mit Russland eine Grenze teilen: Wäre Deutschland im Ernstfall bereit, unser Land mitzuverteidigen?

Wenn dies nicht gelingt, wer könnte in der Nato die Lücke füllen, die Deutschland hinterlässt?

Ich sehe einen starken Führungsanspruch in Polen, das auch bereit ist, diesen militärisch und finanziell kräftig zu untermauern und das traditionell eine enge Sicherheitspartnerschaft mit Washington pflegt.

Die deutsche Regierung hat angekündigt, das Zwei-Prozent-Ziel der Nato endlich erfüllen zu wollen, also zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts in Verteidigung zu investieren. Ist das glaubwürdig?

Ich begrüße diese Absicht natürlich, aber habe ich Zweifel, dass sie auch wirklich umgesetzt wird. Dass in Deutschland eine Koalition regiert, in der es wenig Interesse gibt, sich mit dem Thema Verteidigung zu beschäftigen, ist dabei nicht gerade hilfreich. Der neue Verteidigungsminister unternimmt die richtigen Schritte zur Reform der Bundeswehr, aber von wem im Kabinett erhält er die notwendige politische Unterstützung? Es wäre schön, wenn dort zehn Boris Pistoriusse säßen!

Wie geht es mit der Ukraine weiter? Ihr Ex-Chef, Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat gesagt: "Kriege werden am Verhandlungstisch entschieden." Dem widersprechen Sie in Ihrem Buch.

In der Geschichte gibt es genügend Beispiele, die zeigen, dass Konfliktparteien oftmals bis zur Aufgabe kämpften, bevor Verhandlungen beginnen konnten. Das Naziregime musste erst vollständig kapitulieren, bevor es wieder Frieden in Europa geben konnte. Russlands Vernichtungskrieg gegen die Ukraine gehört in meinen Augen in eine ähnliche Kategorie. Putin geht es um die Zerstörung des unabhängigen ukrainischen Staates. Am liebsten möchte er die Ukraine in ein 'Ground Zero' verwandelt sehen. Sollte Russland sich damit durchsetzen können, wäre das ein Fanal für andere gewaltbereite Regime auf dieser Welt: seht, Krieg lohnt sich wieder zur Durchsetzung der eigenen Interessen. Das müssen wir um jeden Preis verhindern.


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"Selbst wenn Putin morgen tot umfallen sollte, würde eine andere Figur aus dem System seinen Platz einnehmen"


Nato-Expertin Stefanie Babst


Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Russland selbst ohne Putin kein verlässlicher Partner sein wird, solange der "Putinismus" dort weiterlebt.

Selbst wenn Putin morgen tot umfallen sollte, würde eine andere Figur aus dem System seinen Platz einnehmen. Das System basiert darauf, dass eine Clique aus ehemaligen FSBlern, Mitgliedern des russischen Geheimdienstes, sich die Macht teilt. Korruption, Kleptokratie und die Bereitschaft, jegliche Opposition brutal auszuschalten, sind seit 20 Jahren im System fest verankerte Instrumente. Es wird eine lange Zeit dauern, bis sich der Putinismus verändern wird.

Wie sollte der Westen sich verhalten?

Wir brauchen eine klare, langfristig angelegte und wohldurchdachte Eindämmungsstrategie. Einen langen politischen Atem, Mut und Entschlossenheit. Solange Russland gewaltbereit ist, sich nicht an die Regeln des Völkerrechts hält und eine revanchistische Politik verfolgt, müssen wir es mit all den Instrumenten, die wir haben, in seinem Aktionsradius beschränken und international isolieren. Die damit verbundenen Botschaften lassen sich in wenigen Worten zusammenfassen: Wir sind nicht bereit, Europa in einen rechtsfreien Raum zu verwandeln, in dem sich brutale militärische Gewalt durchsetzt. Wir werden unsere freiheitlichen Demokratien verteidigen. Und wir werden die Vernichtung unseres europäischen Nachbarn, der Ukraine, nicht tatenlos hinnehmen, sondern helfen, sie zu verteidigen. Wenn Putin annimmt, dass wir im Westen nicht politisch durchhaltefähig sind, werden wir ihm das Gegenteil beweisen.

Verwendete Quellen
  • Videointerview mit Stefanie Babst
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