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Historiker Plokhy: "Putin hat die 'Russische Welt' zerstört"


Historiker Plokhy
"Putins Lügengebilde ist zusammengebrochen"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 26.06.2023Lesedauer: 7 Min.
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Wladimir Putin: Russlands Krieg gegen die Ukraine habe die "Russische Welt" zerstört, sagt Historiker Serhii Plokhy.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Russlands Krieg gegen die Ukraine habe die "Russische Welt" zerstört, sagt Historiker Serhii Plokhy. (Quelle: Ramil Sitdikov /Reuters)

An der Ukraine ist die russische Armee bislang gescheitert, woher nimmt das Land die Widerstandskraft? Diese Frage beantwortet Historiker Serhii Plokhy. Und erklärt, von welchem historischen Fehler Wladimir Putin profitiert.

Lange hielt die Welt Russland für geradezu übermächtig, die Ukraine wurde unterschätzt. Doch das Land hat dem russischen Angriff widerstanden. Serhii Plokhy ist in der Sowjetunion aufgewachsen, heute ist er einer der wichtigsten ukrainischen Historiker. Im Gespräch erklärt der Harvard-Forscher, woher die Ukraine ihre Stärke bezieht, warum sich ein historischer Fehler bis heute rächt und Wladimir Putin gerade das zerstört, was er eigentlich beherrschen will.

t-online: Professor Plokhy, im Februar 2022 rechnete die Welt mit einer schnellen Einnahme Kiews durch russische Truppen, nun will die ukrainische Armee die Invasoren mit einer Offensive weiter aus dem Land treiben. Wie war dieser Erfolg möglich?

Serhii Plokhy: Die Ukraine hat ihre wahre Stärke in dem Augenblick offenbart, in dem der Überfall begann. Tatsächlich nahmen verschiedenste Geheimdienste zunächst an, dass der Krieg gegen die Ukraine lediglich eine Frage von Tagen und Wochen sei. Sie dachten, Russlands Sieg sei sicher. Es reicht aber nicht aus, nur Panzer und Gewehre zu zählen, sondern auch die Kultur und Gesellschaft eines Landes muss berücksichtigt werden.

Im Gegensatz zu Russland, das mit ungebrochener Aggressivität seine imperialistische Politik verfolgt, hat die Ukraine in den letzten Jahrzehnten einen grundlegenden Wandel erfahren.

Einen bis dahin wenig beachteten Wandel. Die Prognose zukünftiger Entwicklungen ist allerdings stets schwierig. Nehmen wir das Beispiel Afghanistan: Die Vereinigten Staaten haben über Jahre viele Milliarden in die afghanische Armee gepumpt, nur hat sich diese im August 2021 angesichts der siegreichen Taliban über Nacht in Nichts aufgelöst. Es war also schwer vorherzusagen, was einige Monate später im Falle der Ukraine geschehen würde.

Sie haben gerade mit "Der Angriff. Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen für die Welt" ein Buch über den fortwährenden russisch-ukrainischen Konflikt veröffentlicht. Welchen Rat hätten Sie als Historiker gegeben?

Die Ukraine blickt auf eine lange Geschichte effektiven Widerstands zurück. Während der sogenannten Russischen Revolution 1917 befand sich die größte Armee innerhalb der Ukraine, später gab es in der Westukraine einen langanhaltenden nationalistischen Widerstand gegen das Sowjetregime.

Serhii Plokhy, 1957 im sowjetischen Gorki (heute Nischni Nowgorod) geboren, lehrt ukrainische Geschichte an der amerikanischen Harvard University und ist Direktor des Harvard Ukrainian Research Institute. Plokhy hat zahlreiche Bücher zur Ukraine und zu Russland veröffentlicht, darunter im Jahr 2022 "Das Tor Europas. Die Geschichte der Ukraine". Kürzlich erschien mit "Der Angriff. Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen für die Welt" sein neuestes Buch.

Diese Liste ließe sich für das 21. Jahrhundert mit den prowestlichen Protesten der Orangenen Revolution 2004 und dem Euromaidan von 2014 fortsetzen.

So ist es. Beide sind Meilensteine der Transformation der ukrainischen Gesellschaft, den Euromaidan bezeichnen wir in der Ukraine als Revolution der Würde. Die Ereignisse sind aber auch Bausteine für die Demokratie in der Ukraine und eine Absage an eine autoritäre Herrschaft ebenso wie an russische Einflussnahme. Verändert hat sich auch die ukrainische Armee, mit Walerij Saluschnyj wird sie aktuell von einem Offizier geführt, der keinen Tag in der sowjetischen Armee gedient hat. Saluschnyj steht stellvertretend für eine neue Generation von ukrainischen Soldaten, die nach den Standards der Nato ausgebildet worden sind.

In der Gegenwart behauptet Wladimir Putin, dass es gar keine ukrainische Nation gäbe. Zu Zeiten der Sowjetunion, in der Sie geboren wurden, war das anders. Bitte berichten Sie aus dieser Zeit.

Die Ukrainer waren in der Sowjetunion nach den Russen die zahlenmäßig größte Ethnie. Wir waren eine Art Juniorpartner der Russen, die das Imperium repräsentierten. Obwohl mit Nikita Chruschtschow und Leonid Breschnew Männer aus der Ukraine die Sowjetunion während des Kalten Kriegs über Jahrzehnte beherrscht haben. Als in Saporischschja aufgewachsener Ukrainer kann ich sagen, dass ich persönlich keine besondere Form von Diskriminierung in diesen Zeiten erfahren habe. Allerdings habe ich hauptsächlich Russisch gesprochen, genauso wie damals ein großer Teil der Menschen in der ukrainischen Sowjetrepublik. Allzu großes Interesse an der ukrainischen Geschichte und Kultur konnte allerdings zu Problemen mit der Staatsmacht führen.

Das Ukrainische war trotzdem keineswegs vergessen.

Niemals. Meine Großeltern sprachen eine Form des Ukrainischen, Wolodymyr Selenskyj ist eigentlich russischsprachig. Nun verwendet auch er das Ukrainische. Wichtig ist die Tatsache, dass die ukrainische Identität niemals allein an die ukrainische Sprache gekoppelt gewesen ist. Das hat enorme Bedeutung für diesen Krieg, denn Putin macht es sich ziemlich einfach: Wenn jemand Russisch spricht, dann ist er Russe. Und dessen Loyalität hat in dieser Denkweise allein Russland zu gelten. Damit begeht Putin einen ziemlichen Fehler.

Für die Ukraine ist dieser Konflikt ein Unabhängigkeitskrieg, ein Kampf um ihre schiere Existenz. Russland hingegen führt einen imperialen Krieg zur Restauration seines Imperiums. Beides sind Phänomene, die wir zumindest im Europa des 21. Jahrhunderts für überwunden gehalten hatten.

So ist es. Was Putin macht, ist eigentlich altmodisch. Er hält sich für den selbsternannten Bewahrer und Erneuerer des Russischen Reichs. Wie sich auch ein großer Teil der russischen Eliten definiert.

Wobei Putin das Gegenteil erreicht. Russen und Ukrainer seien "eins" lautet seine Behauptung, beide Teil einer "Russischen Welt". Der erbitterte Widerstand der Ukrainer ist der Gegenbeweis.

Putin leistet der ukrainischen Nationswerdung einen gewaltigen Beitrag, ja. Denn ein Ergebnis dieses Kriegs ist schon jetzt klar: Putins Lügengebilde, dass die Ukraine keine Nation sei, ist zusammengebrochen. Ebenso hat er die "Russische Welt" zerstört. Die russische Propaganda behauptet, dass die Ukrainer von einer Clique von "Nazis" rund um Wolodymyr Selenskyj manipuliert worden seien. Die Tatsache, dass Hunderttausende russische Soldaten in der Ukraine kämpfen und viele bereits gefallen sind, wird in Russland hoffentlich berechtigten Zweifel an derartigen Behauptungen des Kremls aufkommen lassen. Das ist meine Hoffnung.

Als "Kleinrussen" wurden die Ukrainer zu Zeiten der Zaren bezeichnet, nun wird diskutiert, wie weit sich das Land "entrussifizieren" kann und sollte. Das fängt beim Komponisten Pjotr Tschaikowsky an, dessen Werke seit dem Überfall 2022 auf Wunsch des ukrainischen Kulturministers besser auch nicht mehr im Westen gespielt werden sollten.

Immerhin wird in der Ukraine öffentlich über diese Fragen diskutiert – das ist der entscheidende Punkt. Selbst in einer Zeit, in der Bomben auf ukrainische Städte fallen. Das ist bemerkenswert. Und die Diskussion ist schwierig. Nehmen wir den Schriftsteller Nikolai Gogol …

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… der im 19. Jahrhundert mit "Die toten Seelen" eines der berühmtesten Werke in russischer Sprache veröffentlicht hat …

… und der als Ukrainer auch für das Russische Imperium eine bedeutende Figur gewesen ist. "Selten nur fliegt ein Vogel bis über die Mitte des Dnipro", hat Gogol einst geschrieben. Heute ist der Fluss umkämpft. Leider.

Als eine Art "Erbe" der Sowjetunion verfügte die Ukraine über große Mengen an Atomwaffen, auf die sie allerdings 1994 mit Abschluss des Budapester Memorandums verzichtet hat. Der US-Politologe John J. Mearsheimer hatte zuvor darauf hingewiesen, dass allein "ukrainische Atomwaffen" als "Abschreckungsmittel gegen russische Aggressionen" geeignet seien.

Die Ukraine war die drittgrößte Atommacht der Welt. Wenn sie ihre Nuklearwaffen behalten hätte, dann sähe die Situation für Putin anders aus. Er würde sich hüten. Das Interesse der USA bestand damals allerdings in der Verhinderung einer Proliferation von Atomwaffen. Entsprechend waren sie bereit, die Ukraine für deren Aufgabe finanziell zu entschädigen und ihre territoriale Integrität mittels des Budapester Memorandums zu garantieren.

Mit Putins Überfällen auf die Ukraine von 2014 und 2022 zeigt sich allerdings, dass die russische Unterschrift auf dem Memorandum nicht einmal die sprichwörtliche Tinte dafür wert gewesen ist.

Der Abtransport der ukrainischen Atomwaffen gen Russland war eine überaus heikle Angelegenheit. Denn bereits zu diesem Zeitpunkt machte Moskau gegenüber Kiew Gebietsansprüche geltend. Auch da ging es um die Krim. 1997, ein Jahr nachdem die letzte Nuklearwaffe die Ukraine verlassen hatte, schlossen Kiew und Moskau einen Freundschaftsvertrag, der allerdings erst nach zwei Jahren vom russischen Parlament ratifiziert worden ist. Weil Nationalisten und Populisten ihn blockiert haben.

Faktisch hinterließ die ukrainische Aufgabe der Atomwaffen also eine klaffende Sicherheitslücke in diesem geopolitischen Raum.

Das Budapester Memorandum war nicht mehr als ein Lippenbekenntnis, weil es keine belastbaren Garantien für die Ukraine enthielt: Damals entstand ein großes Machtvakuum, es war eine grobe Fahrlässigkeit der USA und insgesamt ein gewaltiger Fehler. Hier finden wir auch einen der Hauptgründe für den heutigen Krieg.

Video | Datenanimation zeigt Verluste – Russland kehrt Trend um
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Quelle: t-online

Wo wir gerade bei westlichen Fehleinschätzungen sind. 1993 ließ der russische Präsident Boris Jelzin während einer Verfassungskrise das Parlament in Moskau von Panzern beschießen, der Westen ließ ihn kritiklos gewähren.

Jelzin stellte die Geschehnisse gegenüber dem damaligen US-Präsidenten Bill Clinton als einen Sieg der Demokratie dar. Tatsächlich war es ganz im Gegenteil ein Großangriff auf eben diese. Russland wurde von Jahr zu Jahr autokratischer. Jelzin galt in der Wahrnehmung der Vereinigten Staaten irrtümlich als ein Garant von Demokratie, aber auch der Ordnung. Schauen Sie sich doch einmal die russischen Bösewichte der James-Bond-Filme der Neunzigerjahre an: So erhält man eine Ahnung, wie groß die Furcht vor einem außer Kontrolle geratenen Russland war. Alles andere als eine schöne Vorstellung, zugegeben.

Ebenso wenig wie die Erkenntnis, dass für die russischen Eliten auch noch im 21. Jahrhundert imperiales und nationalistisches Gedankengut als Begründung für einen Angriffskrieg dienen.

Das Ende des Kalten Krieges führte zu einer Expansion des Westens. Das machte Putin ziemlich betroffen. Nun hat sein Krieg gegen die Ukraine dem Westen zu einem Comeback verholfen, die Rede, die US-Präsident im März vergangenen Jahres in Warschau gehalten hat, dokumentiert dies eindrücklich. Die Leugnung der Realität, das magische Denken, das der Westen so lange gegenüber dem immer aggressiver auftretenden Russland praktiziert hat, dürfte vorbei sein. Magisches Denken ist überaus menschlich, aber es kann schlimme Folgen haben.

Nun läuft die ukrainische Offensive – wird das Land optimistisch bleiben, auch wenn der große Erfolg ausbleiben sollte?

Im Krieg kann alles Mögliche passieren. Allerdings wird die ukrainische Armee weiterhin vorsichtig agieren, bislang ist auch vieles in ihrem Sinne gelaufen. Das Ende dieses Konflikts ist allerdings noch offen. Fest steht hingegen, dass sein Ausgang die Zukunft unserer Welt prägen wird.

Professor Plokhy, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Serhii Plokhy via Videokonferenz
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