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Putin attackiert den Westen: "Die Sicherheit Europas steht auf dem Spiel"


Experte Fücks
"Damit würde sich das Blatt deutlich wenden"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 10.07.2023Lesedauer: 7 Min.
Interview
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Wladimir Putin: Der Westen muss Russland rote Linien aufzeigen, fordert Sicherheitsexperte Ralf Fücks.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Der Westen muss Russland rote Linien aufzeigen, fordert Sicherheitsexperte Ralf Fücks. (Quelle: Pavel Bednyakov/dpa)

Wladimir Putin attackiert den Westen, doch die Reaktion fällt schwach aus. Denn noch immer herrscht Furcht vor Russland. Warum sich das dringend ändern sollte, erklärt Experte Ralf Fücks.

Groß waren die Erwartungen im Westen an die ukrainische Offensive, nun herrscht angesichts der überschaubaren Erfolge Ernüchterung. So weit hätte es aber nicht kommen müssen, wenn der Westen der Ukraine mehr Waffen geliefert hätte. Doch warum herrscht hierzulande so viel Zurückhaltung gegenüber Russland? Weshalb diktiert immer noch Wladimir Putin die Spielregeln? Ralf Fücks, Sicherheitsexperte und Vordenker der Grünen, plädiert im Gespräch für mehr Entschiedenheit in der Auseinandersetzung mit Russland. Und eine zukünftige Aufnahme der Ukraine in die Nato.

t-online: Herr Fücks, der Westen hofft auf einen irgendwie gearteten Erfolg der ukrainischen Gegenoffensive. Auch weil er immer noch keine belastbare Strategie für den weiteren Umgang mit Russland entwickelt hat. Woran liegt das?

Ralf Fücks: Das ist der wunde Punkt. Der Westen hat weder seine Ziele in diesem Krieg klar definiert noch, wie er sie erreichen will. Von einer zukünftigen Politik gegenüber Russland ganz zu schweigen. Dieses Strategiedefizit ist fatal. Denn wir sind keine Beobachter dieses Konflikts, sondern Beteiligte. Ob uns das gefällt oder nicht.

Für Wladimir Putin ist der Westen der eigentliche Feind, weshalb uns der Kreml auch mit einem endlosen Strom aus Vorwürfen und Drohungen bedenkt.

Putin fordert uns permanent heraus. Der russische Krieg gegen die Ukraine ist weit mehr als ein Kolonialkrieg. Er ist ein Frontalangriff auf die Grundwerte Europas. Russland überschreitet ständig Grenzen: Es verletzt das Völkerrecht, begeht Kriegsverbrechen am laufenden Band, stationiert Atomwaffen in Belarus, kurzum: Die Sicherheit Europas steht auf dem Spiel. Dagegen leisten wir uns eine strategische Unentschiedenheit und tun immer noch so, als ließe sich dieser Konflikt auf diplomatischem Weg lösen. Die bittere Wahrheit ist: Er wird militärisch entschieden.

Weil wir der Ukraine nur so viele Waffen liefern, dass sie sich verteidigen kann, aber nicht in einem ausreichenden Maß für einen Sieg über die Invasoren?

So ist es. Ohne die westliche Unterstützung hätte sich die Ukraine nicht halten können. Insofern hat sich viel seit dem russischen Überfall vom Februar 2022 getan, gerade in Deutschland. Aber wir unterstützen die Ukraine immer noch mit angezogener Handbremse. Die ukrainische Armee kann sich unter großen Opfern behaupten und minimale Geländegewinne erzielen. Unsere Hilfe reicht nicht aus, um eine entscheidende Veränderung der militärischen Kräfteverhältnisse herbeizuführen.

Ralf Fücks, Jahrgang 1951, ist Direktor des Thinktanks Zentrum Liberale Moderne in Berlin. Zuvor war er unter anderem Senator in Bremen und 21 Jahre lang Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, die der Partei Bündnis 90/Die Grünen nahesteht. Fücks ist Autor mehrerer Bücher und auf Twitter unter @fuecks aktiv.

Mit den Worten "Zu wenig, zu spät" lassen sich die bisherigen Unterstützungsleistungen des Westens zusammenfassen. Bei der aktuellen Offensive wirkt sich die eklatante Unterlegenheit der Ukraine in der Luft katastrophal aus.

Die Situation ist paradox. Bislang wurden der Ukraine manche Waffensysteme mit Hinweis auf eine mögliche Eskalation des Konflikts verweigert. Doch gerade deshalb verlängert sich der Krieg weiter und weiter – und gibt Putin die Möglichkeit, die ukrainische Zivilbevölkerung und Infrastruktur weiter zu attackieren. Im Ergebnis zwingt der Westen die Ukraine in einen langen und blutigen Abnutzungskrieg. Die ukrainische Armee braucht dringend Munition, Minenräumgerät, Flugabwehr, Drohnen und Kampfflugzeuge. Anders lassen sich die russischen Invasoren nicht aus dem Land vertreiben. Damit würde sich das Blatt deutlich wenden.

Letzten Endes sind es aber doch die russischen Nuklearwaffen, vor denen in den westlichen Regierungszentralen Furcht herrscht. Womit wir Putin die Eskalationsdominanz überlassen.

Das ist der entscheidende Fehler. Wir müssen Putin rote Linien setzen – und nicht umgekehrt. Könnte Russland Atomwaffen einsetzen, um einen Zusammenbruch der Front zu verhindern? Das ist nicht wahrscheinlich, aber ignorieren können wir dieses Risiko selbstverständlich nicht. Die Konsequenz daraus darf aber doch nicht sein, dass wir Putin fortwährend beschwichtigen. Nein, die einzige Antwort besteht in glaubwürdiger Abschreckung. Es war deshalb ein Riesenfehler, dass der Westen nicht auf die Sprengung des Kachowka-Staudamms reagiert hat. Wir signalisieren Putin damit, dass er die Gewalt immer noch steigern kann.

Nun sind Deutschland und Europa weder mächtig noch nimmt Putin uns sonderlich ernst.

So ist es. Aus Washington muss deshalb eine unmissverständliche Ansage an Putin kommen, dass jeder Einsatz von Massenvernichtungswaffen katastrophale Folgen für Russland haben wird. Stärke demonstrieren – das ist die einzige Sprache, die der Kreml versteht.

Nun rührt die von Ihnen erwähnte "Halbherzigkeit" bei der Waffenhilfe für die Ukraine auch aus einer anderen Furcht heraus: und zwar vor einem Kollaps des atomar schwer bewaffneten Russlands, dem das Chaos folgen könnte.

Es herrscht viel Fantasie, was alles in einem solchen Fall geschehen könnte: Machtvakuum, Chaos, ein Bürgerkrieg in diesem riesigen Land mit einem Berg von Atomwaffen. Sehr wahrscheinlich wird Putin eine militärische Niederlage in der Ukraine politisch nicht lange überstehen. Aber das bedeutet noch lange nicht den Zusammenbruch des russischen Staates. Auch das Szenario eines gewaltsamen Auseinanderbrechens Russlands in eine Vielzahl ethnischer Nationalstaaten ist wenig realistisch. Am ehesten werden sich einige Republiken im Kaukasus abspalten.

Im früher nach Unabhängigkeit strebenden Tschetschenien sorgt der Putin-treue Ramsan Kadyrow für Friedhofsruhe.

Im überwiegenden Teil Russlands gibt es zwar den Wunsch nach mehr Selbstverwaltung und regionaler Autonomie, aber nicht nach Eigenstaatlichkeit, zumal es fast überall einen starken russischen Bevölkerungsanteil gibt. Ein chaotisches Auseinanderbrechen Russlands ist kaum zu befürchten. Putin bedient dieses Szenario aber gern, weil es seinen Zwecken dient.

Im Westen wurde Putin auch lange geschätzt, weil er als Garant für Sicherheit und Ordnung angesehen worden ist.

In Deutschland ist der Mythos weit verbreitet, dass Russland nur mit starker Faust regiert werden könne. Das ignoriert, welchen Modernisierungsschub Russland seit Beginn der Neunzigerjahre erfahren hat. In den großen Städten hat sich eine moderne Mittelschicht herausgebildet, ebenso Anfänge einer demokratischen Zivilgesellschaft. Millionen von Menschen haben sich in lokalen Bürgerinitiativen, im Umweltschutz oder sozialen Projekten engagiert, waren in der alternativen Kulturszene aktiv oder sind als unabhängige Kandidaten bei Wahlen angetreten. Vergessen Sie nicht die landesweiten Netzwerke von Michail Chodorkowski und Alexei Nawalny, auch wenn sie gegenwärtig nicht mehr aktiv sind.

Nun befindet sich Chodorkowski im Exil und Nawalny im Straflager, Andersdenkende gehen in Russland ein großes persönliches Risiko ein.

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Ja, eine große Zahl von kritischen Menschen hat Russland seit Kriegsbeginn verlassen, die Daheimgebliebenen sind aufgrund der massiven Repression kaum noch sichtbar. Ich hänge auch keineswegs der Illusion an, dass nach einem Scheitern des Putin-Regimes eine "lupenreine Demokratie" entstehen wird. Aber wir sollten die Möglichkeit eines anderen Russlands nicht abschreiben. Die Rebellion der Wagner-Söldner unter Jewgeni Prigoschin zeigte Verwerfungen innerhalb des Regimes auf. Auch die ökonomischen Eliten, die ihr Privatvermögen und teils auch ihre Familien im Westen haben, hegen kein Interesse daran, dass Russland zum Vasallen Chinas wird. Putin führt das Land in den Abgrund – diese Ansicht ist weit verbreitet.

Nun liegen die Beziehungen des Westens zu Russland weitgehend auf Eis. Gibt es Hebel, um einen Wandel im Land zu befördern?

Der stärkste Hebel für einen politischen Wandel in Russland ist eine militärische Niederlage in der Ukraine. Darüber hinaus sollten wir die Lockerung ökonomischer Sanktionen an Fortschritte in Sachen Rechtsstaatlichkeit und Gewaltverzicht gegenüber Nachbarstaaten knüpfen.

Wir sollten also der Ukraine Waffen in einem Umfang liefern, der ihr einen Sieg ermöglicht?

Unbedingt. Selbst ein Teilerfolg Putins in der Ukraine wäre ein Desaster. Die Folge wäre eine permanente Krisenhaftigkeit an der europäischen Ostflanke. Für die Ukraine wäre es eine schreckliche Bürde, als territorial amputierter Staat mit einer demoralisierten Gesellschaft aus diesem Krieg hervorzugehen. Putins neoimperiales Ressentiment erhielte neues Futter. Deshalb ist es so wichtig, dass der Westen gegenüber Russland entschieden auftritt. Es geht um weit mehr als nur die Ukraine.

Eine Aufnahme der Ukraine in die Nato wäre ein starkes Zeichen. Danach sieht es allerdings kaum aus auf dem kommenden Gipfeltreffen des Bündnisses.

Die Verpflichtung auf einen Nato-Beitritt der Ukraine wäre genau das richtige Signal an Moskau. Wir räumen dem Kreml bei dieser Frage schon wieder eine Art Vetorecht ein. Russland kann in alle Unendlichkeit hinein Grenzstreitigkeiten provozieren, um Staaten in seiner Nachbarschaft an einem Nato-Beitritt zu hindern. Wir müssten gerade umgekehrt klarstellen, dass der Kreml die Westintegration der Ukraine nicht verhindern kann. Egal, ob das Putin passt oder nicht.

Das wird aller Wahrscheinlichkeit in nächster Zukunft so nicht eintreten.

Das hängt davon ab, ob unsere Regierungen den Ernst der Lage begreifen. Es geht nicht allein darum, die nationale Existenz der Ukraine zu erhalten. Es geht auch nicht um bloße Sicherheitspolitik. Nein, Russland, China und andere Staaten attackieren das westliche Gesellschaftssystem insgesamt, das auf Freiheitsrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit aufbaut. Wir stecken mitten in einer weltweiten Auseinandersetzung zwischen liberalen Demokratien und autoritären Regimes.

Und auch in unseren Gesellschaften, wenn wir die Russlandverehrung etwa bei der AfD betrachten.

Es ist kein Zufall, dass die AfD und Teile der Linkspartei auf einem Pro-Putin-Kurs segeln und gegen Waffenlieferungen an die Ukraine opponieren. Moskau ist ihr ideelles Hauptquartier. Der Ausgang des Krieges in der Ukraine wird sich auch auf die politische Auseinandersetzung im Westen auswirken.

Nun spielt Putin auf Zeit im Wissen, dass die US-Präsidentschaftswahlen mit der Wahl eines Republikaners das Blatt grundlegend ändern könnte.

Je näher die Präsidentschaftswahlen rücken, desto weniger können sich die Europäer im Windschatten der USA verstecken. Wir sind jetzt gefordert, etwa im Hochfahren der Kapazitäten unserer Rüstungsindustrie. Die "Zeitenwende" steckt irgendwo auf halbem Weg fest, uns läuft derweil die Zeit weg.

Die von Ihnen beschriebene Konfrontation zwischen liberalen Demokratien und autoritären Regimen erinnert an die Zwanziger- und Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts. Gibt es Lehren von damals zu beherzigen?

Beschwichtigungspolitik ist definitiv keine gute Lösung. Wir befinden uns wieder in einer Situation, in der es ums Ganze geht: Die Zukunft Europas, die internationale Ordnung, die elementaren Prinzipien der freiheitlichen Demokratie und des friedlichen Zusammenlebens auf unserem Globus stehen auf dem Spiel. Diese Dringlichkeit ist noch nicht wirklich angekommen. Jede Zögerlichkeit und Halbherzigkeit hilft nur den Gegenkräften. Wladimir Putin und Xi Jinping sind sich in ihrer Verachtung der liberalen Demokratien einig, sie teilen den Glauben, dass der Westen im Niedergang sei. Die Ukraine ist ein Test, ob sie recht haben.

Herr Fücks, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Ralf Fücks via Videokonferenz
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