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Dagestan: Gewalt gegen Juden – Putins Plan geht nach hinten los


Gewalt gegen Juden in Dagestan
Putins Plan geht nach hinten los

Von Patrick Diekmann

01.11.2023Lesedauer: 5 Min.
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Wladimir Putin: Der russische Präsident macht den Westen für antisemitische Übergriffe in Russland verantwortlich. (Quelle: IMAGO/Gavriil Grigorov)

Im Konflikt mit dem Westen wirbt Russland auch um Unterstützung von Islamisten. Die Erstürmung des Flughafens durch einen antisemitischen Mob in Dagestan zeigt, wie riskant diese Strategie ist. Verliert Putin die Kontrolle?

Es war ein wütender Mob. Hunderte Männer stürmten in der russischen Teilrepublik Dagestan am Sonntag den Flughafen der Hauptstadt Machatschkala. Die Menschen schwenkten palästinensische Flaggen, riefen antisemitische Parolen und versuchten in ein Flugzeug einzudringen, das aus Tel Aviv gelandet war und in dem keine Passagiere mehr waren.

Video | Wütender Mob stürmt Rollfeld in Russland
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Quelle: Reuters

Die Bilder der antisemitischen Menschenjagd gingen um die Welt. Insgesamt gab es 20 Verletzte, die Behörden berichten von 60 Festnahmen.

Überraschen kann all das nicht: Der Islamismus ist im Kaukasus schon lange tief verwurzelt, aber dem Kreml gelang es über viele Jahre, radikale Strömungen erfolgreich zu unterdrücken. Die aktuellen Ausschreitungen aber treffen Russland in einer Zeit, in der im Zuge des russischen Angriffskrieges in der Ukraine das bloße Hochhalten eines leeren Stücks Papier zu Protestzwecken mit einer Gefängnisstrafe geahndet werden kann. Doch selbst derlei Strafandrohungen konnten die aktuellen Krawalle in Dagestan nicht verhindern.

Mit Blick auf Russlands Präsidenten Wladimir Putin ist das vor allem eines: ein Zeichen der Schwäche.

Putin inszeniert sich international als führender Kampfer gegen den – so wie er es nennt – US-Imperialismus. Dafür setzt er sich mittlerweile auch mit Islamisten in ein Boot, was bemerkenswert ist, weil Putin in der Vergangenheit stets mit militärischer Gewalt gegen islamistische Gruppierungen vorging, um Unruhen im Kaukasus zu verhindern. Nun bindet er diese Kräfte in seine Außenpolitik ein, was die innere Sicherheit in Russland gefährdet. Ein riskanter Plan, der teilweise nach hinten losgeht.

Video | Putin erklärt antisemitische Übergriffe in Russland – und entlarvt sich selbst
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Quelle: t-online

Kreml macht westliche Geheimdienste verantwortlich

Diese Gefahr sieht offenbar auch der Kreml. Schnell wurde der Schuldige für die Eskalation benannt, der in das übliche Narrativ passt: der Westen. Die Ereignisse in Dagestans Hauptstadt seien nicht zuletzt von ukrainischem Gebiet aus inspiriert worden, "durch die Hände westlicher Geheimdienste", sagte Putin am Montagabend bei einer Sitzung zur Sicherheitslage Russlands, die in Ausschnitten im Staatsfernsehen übertragen wurde.

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow ergänzte, der Vorfall sei "größtenteils das Ergebnis einer Einflussnahme von außen". Dazu gehörten auch "Informationen von außen". Angesichts der Fernsehbilder von den "Schrecken im Gazastreifen" falle es "böswilligen Menschen" leicht, die Menschen aufzuwühlen und sie zu Taten anzustiften. Auch die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, bezeichnete die Ausschreitungen als das "Ergebnis einer geplanten und von außen gesteuerten Provokation". Dabei habe Kiew eine "direkte und entscheidende Rolle" gespielt.

Beweise dafür liefert Moskau nicht. Und wirklich logisch sind die Anschuldigungen ebenso wenig: Denn der Westen steht größtenteils vereint hinter Israel und dem Gegenschlag gegen die Hamas-Terroristen. Ein Schulterschluss mit Islamisten in Russland ergibt da eigentlich nicht viel Sinn.

In Russland aber fallen solche Widersprüche kaum auf. Schließlich befeuert der Kreml schon viele Jahre das Narrativ, dass der Westen alles dafür tue, um das Land zu destabilisieren.

Nimmt der Kreml die Gefahr der Islamisten im Kaukasus also gar nicht ernst? Ganz so einfach ist es auch wieder nicht. Denn Putin sieht es als seinen ganz eigenen Erfolg an, dass er muslimische Unabhängigkeitsbestrebungen militärisch unterdrückte – etwa in Tschetschenien.

Kadyrow droht mit Kopfschüssen

Auch jetzt dürfte es deshalb sein größtes Anliegen sein, den Kontrollverlust zu verhindern. Nicht zuletzt deshalb rief Putin am Dienstag seinen Nationalen Sicherheitsrat und die Leiter der Sicherheitsbehörden zusammen. Das signalisiert eines: Der Sturm des Flughafens ist in Moskau weit mehr als nur ein kleiner Zwischenfall. Am Kreis der Teilnehmer lasse sich ablesen, dass es um "verstärkte Maßnahmen zur Abwehr einer Einmischung von außen" gegangen sei, sagte Kreml-Sprecher Peskow der Nachrichtenagentur Interfax zufolge.

Dabei richten sich die Abwehrmaßnahmen zunächst einmal nach innen. Dagestans Gouverneur Sergej Melikow sagte, die Verantwortlichen für die Ausschreitungen würden bestraft, die Fahndung laufe. Der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow gab der Polizei gar einen Schießbefehl. Wer sich an Unruhen beteilige, werde festgenommen und eingesperrt, sagte Kadyrow der staatlichen Nachrichtenagentur Ria Nowosti zufolge bei einer Sitzung der Regionalregierung in Grosny.

Wenn sich jemand widersetze, sollten die Beamten drei Warnschüsse abgeben. "Danach, wenn der Mensch immer noch gegen das Gesetz verstößt, gebt den vierten Schuss auf den Kopf ab! Der macht das nicht wieder. Das ist mein Befehl", sagte Kadyrow nach Angaben vom Dienstag.

Putin setzt also auf Abschreckung durch die Machthaber, die die muslimisch-geprägten Regionen im Kaukasus mit Gewalt in seinem Namen unter Kontrolle halten.

Stärkung des Islamismus in Russland

Ob das ausreicht, ist unklar, denn Putin steht vor massiven Problemen. Seine geopolitischen Ziele stehen in einem Spannungsverhältnis zur inneren Sicherheit in Russland. Er sieht sich in einem existenziellen Kampf gegen die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten.

Vor allem den USA gibt er die Schuld an der Eskalation im Nahen Osten – und eben nicht der Terrororganisation Hamas. Putin erklärte am Montag: "Die Vereinigten Staaten brauchen ständiges Chaos im Nahen Osten, deshalb diskreditieren sie die Länder, die auf einen sofortigen Waffenstillstand im Gazastreifen bestehen."

Diese Haltung verärgert die israelische Führung, die nach dem Terrorangriff ihr Selbstverteidigungsrecht als nicht beachtet sieht. Putin ist kein Antisemit, er propagierte stets das friedliche Zusammenleben zwischen unterschiedlichen Religionen in Russland und pflegt eine pragmatisch-freundliche Arbeitsbeziehung zu Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu.

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Aber ebendiese Beziehung setzt er nun aufs Spiel und die Ziehkräfte der geopolitischen Folgen seines Krieges in der Ukraine ziehen ihn ausgerechnet auf die Seite der Islamisten. Putin setzt auf tschetschenische Truppen in der Ukraine und nähert sich – mangels besserer Verbündeter – immer mehr dem Mullah-Regime im Iran an. Das führt jedoch auch zu einer Stärkung des Islamismus in Russland.

Dabei sind es die kampferfahrenen Kräfte, die weiter radikalisiert und vermutlich auch durch die Kampfhandlungen traumatisiert aus der Ukraine zurückkehrten. Ihre Gewaltbereitschaft wird für Russland nun zu einem Sicherheitsrisiko.

Putins Spiel ist hochriskant

Putin tanzt also auf verschiedenen Hochzeiten, immer den großen Konflikt mit dem Westen im Blick. Deswegen ist zu erwarten, dass er seine Beziehung zu Israel ein Stück weit opfert. Er weiß, dass die israelische Führung russische Unterstützung braucht, um in Syrien weiterhin iranische Ziele angreifen zu können.

Daneben setzt der Kreml auf den Ausbau seiner Beziehungen zu Staaten im Nahen und Mittleren Osten, die sich der palästinensischen Sache verpflichtet fühlen und für die dagegen der Ukraine-Krieg eher ein europäisches Problem ist.

Trotzdem war der wütende Mob in Dagestan für Moskau ein Warnschuss. Die Wahrung des Friedens im Kaukasus wird also wahrscheinlich mehr Aufmerksamkeit vom Kreml bekommen. Als Reaktion auf die Mobilisierungsbefehle der russischen Regierung kam es schon im vergangenen Jahr in Dagestan zu Protesten. Einige Aktivisten beklagten sich darüber, dass ethnische Minderheiten zu Unrecht zum Dienst in der Ukraine eingezogen würden. Der Gaza-Krieg fügt dem Feuer weiteres Holz hinzu.

Putin kann und wird das nicht ignorieren. Aber für den Moment sieht er den Islamismus eher als eine Chance, den Westen zu destabilisieren und wie im Gaza-Krieg die westliche Aufmerksamkeit weg von den Schlachtfeldern in der Ukraine zu lenken. Das ist nicht nur ein Spiel mit hohem Risiko, sondern für Putin ist es ein Tanz auf Messers Schneide.

Verwendete Quellen
  • bbc.com: US rejects Putin claim that West organised anti-Jewish airport mob (engl.)
  • edition.cnn.com: An anti-Jewish riot in Russia’s Dagestan region shows the risks of Putin’s balancing act on Hamas (engl.)
  • zdf.de: Ein Abend voller Hass gegen Juden
  • spiegel.de: Russland macht Westen für Angriffe in Dagestan verantwortlich
  • theguardian.com: US dismisses Putin’s claim that west was behind Dagestan antisemitic riots (engl.)
  • zeit.de: Putin beruft nach judenfeindlichen Ausschreitungen Sondersitzung ein
  • stern.de: Das steckt hinter den antisemitischen Ausschreitungen im Kaukasus
  • fr.de: Russland zeigt Verständnis für Angreifer – und will die Schuldigen kennen
  • Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und afp
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