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Antisemitismus-Forscher: "Die Radikalsten wird man nicht überzeugen können"


Antisemitismus in Deutschland
"Die Radikalsten, die Demagogen wird man nicht überzeugen können"

Ein Interview von Stefan Rook

Aktualisiert am 22.12.2017Lesedauer: 6 Min.
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Antisemitismus in Berlin: Minutenlang beschimpft ein Mann einen jüdischen Gastronomen, dessen Freundin filmt die Attacke.Vergrößern des Bildes
Antisemitismus in Berlin: Minutenlang beschimpft ein Mann einen jüdischen Gastronomen, dessen Freundin filmt die Attacke. (Quelle: Youtube/Screenshot)

Pro-palästinensische Demonstranten verbrennen israelische Fahnen, in Berlin hetzt ein 60-Jähriger vor laufender Kamera in unerträglicher Weise gegen Juden, in einer repräsentativen t-online.de-Umfrage geben über 65 Prozent der Befragten an, dass Antisemitismus in Deutschland in den letzten Jahren eher zugenommen hat.

Was ist los in Deutschland? Nimmt der offene Antisemitismus zu? Was könnten die Gründe dafür sein? Im Interview bezieht der Politikwissenschaftler Prof. Hajo Funke Stellung zu Verbreitung und Herkunft antisemitischer Tendenzen in Deutschland.

t-online.de: In Berlin hetzt ein Mann auf offener Straße auf übelste Weise gegen Juden. Er scheint sich sicher zu fühlen und stört sich auch nicht daran, dass er gefilmt wird. Nimmt der öffentliche und offen artikulierte Antisemitismus in Deutschland zu?

Prof. Dr. Hajo Funke: Solche Erscheinungen legen das nahe. Aber gestatten Sie mir, dass ich zum Video selbst etwas sage. Dieses Video zeigt ein Extrem: einen Radikal-Antisemiten, ja einen Vernichtungs-Antisemiten. Er will die Gaskammer für den oder die Juden, will sie aus dem Land haben. Hier haben wir die Form eines – wie Adorno sagt – extremen Antisemitismus.

Ist das Video ein Hinweis darauf, dass Antisemitismus in Deutschland wieder gesellschaftsfähiger geworden ist?

Nein, jedenfalls nicht in dieser Form. Diese Form liegt weit unter einem Prozent. Horst Mahler (NPD-Anwalt und veruteilter Holocaust-Leugner, d. Red.) gehört zu solchen Menschen. Wir finden es klassisch – allerdings selten so offen wie in diesem Video – bei Neonazis.

Die AfD fischt am äußersten rechten Rand. Ist sie so etwas wie der Wegbereiter dafür, dass Menschen wieder offen antisemitisch sprechen?

Alle Formen der Radikalisierung, die nach rechts führen, bringen irgendwann auch Formen des Antisemitismus mit sich. Wir haben das bei den Republikanern gesehen, die zunächst als Rechtspopulisten verharmlost worden waren. Wir haben es klassisch bei der NPD gesehen – erst recht seit 1996, als sie sich zu Neonazis radikalisiert haben – bei den Jungen Nationaldemokraten, beim Thüringer Heimatschutz und dem NSU.

Das Bundesverfassungsgericht hat die NPD zwar nicht verboten, aber die Wesensgleichheit der NPD mit dem Nationalsozialismus sehr begründet dargelegt. In diesem extremen Bereich haben wir diesen Antisemitismus. Wenn es Entfesselung von Ressentiments gibt – gegen Minderheiten, gegen Flüchtlinge, gegen Muslime – dann finden wir immer wieder an deren Rändern auch Antisemitismus.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Pegida hat sich gegen Flüchtlinge gewandt und als dann die kleine Jüdische Gemeinde in Dresden gesagt hat: "Wir verwahren uns gegen diese Verächtlichmachung und Herabwürdigung von Flüchtlingen", da wurde sie bedroht. Sie sehen daran, dass im Zweifel bei den Allerextremsten unter den Rechtsextremen der Antisemitismus mitgeführt wird. Holger Arppe (Ex-AfD-Politiker in Mecklenburg-Vorpommern, d. Red.) gehört zu diesen Extremen, Wolfgang Gedeon (AfD-Politiker in Baden-Württemberg, d. Red.) auch. Unterhalb des öffentlichen Radarschirms finden wir jede Menge solcher antisemitischer Äußerungen im rechten Teil der AfD in Mecklenburg-Vorpommern, wie ich aus Insiderberichten weiß.

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t-online.de hat eine repräsentative Umfrage durchgeführt. Die Frage war: Hat der Antisemitismus in Deutschland in den letzten Jahren eher zu oder abgenommen? Der Stand vom 13.12.2017: 65 Prozent der Teilnehmer haben gesagt, Antisemitismus "hat eher oder deutlich zugenommen".

Das muss man ernst nehmen, aber es muss nicht stimmen. Der Bundestag hat eine unabhängige Expertenkommission eingesetzt, die 2016 einen Bericht hergestellt hat. Da können wir insgesamt einen Abwärtstrend in der Entwicklung antisemitischer Einstellung zwischen 2002 und 2016 fast unter die Hälfte des Ausgangswertes des Jahres 2002 beobachten. Das sagen seriöse Studien wie die Heitmeyerstudien, die Friedrich-Ebert-Studie oder die Leipziger Studie.

Wichtig ist, die Facetten zu unterscheiden. Grob gesagt, gibt es drei Formen:
(1) den klassischen Antisemitismus: Juden hätten immer noch zu viel Einfluss; dem stimmen voll und ganz nur noch weniger als 5 Prozent zu; in abgeschwächter Form allerdings noch bis zu 30 Prozent.
(2) den sogenannten sekundären Antisemitismus – meines Erachtens ein Antisemitismus aus Erinnerungsabwehr. Diese Menschen wollen mit der Geschichte nichts zu tun haben und unterstellen den Juden, dass sie aus ihrer Verfolgung Vorteile ziehen oder durch ihr Verhalten sogar an Verbrechen mitschuldig seien. Dies teilen in meist abgeschwächter Form bis zu ein Viertel der Befragten.
(3) den israelbezogenen Antisemitismus. Hier handelt es sich um Menschen, die meinen, dass bei der Politik, die Israel macht, sie gut verstehen, dass man etwas gegen Juden generell hat. Es sind bis zu 40 Prozent, die dem in meist abgeschwächter Form zustimmen.
Verbunden ist bei dem israelbezogenen Antisemitismus eine Relativierung und Verharmlosung des Nationalsozialismus oder die Vorstellung "das ist typisch jüdisch".

Von rechter und linker Seite gibt es vermehrt Kritik an Israel. Wann wird Ihrer Meinung nach hier die Grenze zum Antisemitismus überschritten?

Es gibt berechtigte Kritik an Politik. An der Politik Trumps und an der Politik des gegenwärtigen Ministerpräsidenten Netanjahu und an anderen. Das muss nicht notwendig mit Antisemitismus verbunden sein. Kritik an der Politik Israels darf nicht verbunden werden mit der generellen Kritik an Juden – dann ist sie antisemitisch. Wird sie nicht damit verbunden und wird nicht zugleich der Nationalsozialismus damit relativiert, dann ist es kein Antisemitismus. Es gibt auch Antizionismus, der kein Antisemitismus ist.

Die Kritik an der Haltung Trumps und Netanjahus wurde in der Abstimmung von zwei Dritteln der Vereinten Nationen geteilt – und in Deutschland von der Regierung bis zu Daniel Barenboim. Das hat mit Antisemitismus nichts zu tun. Manche sagen das, aber dann haben sie nicht verstanden, was Antisemitismus ist.

Durch Soziale Medien und Onlinemedien werden antisemitische Vorfälle schnell bekannt, verbreitet und intensiv diskutiert. Besteht die Gefahr, dass über Antisemitismus zu viel berichtet wird?

Nein, man muss diese Debatten führen. Je genauer und differenzierter sie geführt werden, desto besser. Das entwaffnet die, die sagen, "Ach, man darf ja gar nichts sagen".

Die Kritik an Trumps Entscheidung, Jerusalem zur Hauptstadt Israels zu erklären, ist eine begründete Kritik. Vor allem unter der Perspektive, dass man eigentlich an einem Friedensprozess arbeitet. Die eine Sache ist ein politischer Prozess, ein Friedensprozess oder eben ein Eskalationsprozess, den man nüchtern untersuchen muss und bewerten darf. Etwas anderes ist es, wenn man das zum Anlass zu einer generellen Kritik an Juden und an Israelis nimmt. Diese Differenzierung macht einen fundamentalen Unterschied. Wenn der die Debatte prägt, ist es eine gute, aufklärende Debatte, eine, die differenziert und erschwert zu sagen "Nein, alle sind…".

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Wie kann man dem Antisemitismus oder den antisemitischen Tendenzen entgegenwirken?

In dem Fall des Extrem-Antisemitismus wie in dem Video aus Berlin haben sie keine Chance, der ist überzeugt – ein radikaler Überzeugungstäter. Da ist das Wichtigste, ihm nicht zu viel Einfluss zu gewähren, soweit man das mit rechtsstaatlichen Mitteln kann oder ihn sogar wegen Volksverhetzung einzudämmen. Das ist ein klarer Fall von Volksverhetzung. In vielen anderen Fällen – auch bei jenen, die aus islamischen Ländern kommen – kann man reden und überzeugen. Es gibt viele Gruppen, die das tun. Sawsan Chebli hat gesagt, wir sind auf einem guten Weg, wenn wir mit den aus diesen Ländern Kommenden reden und sagen: Da gibt es eine Differenzierung. Wir Deutschen brauchen angesichts unserer Geschichte erst recht diese Differenzierung.

Glauben Sie, dass ein bundesweiter Antisemitismusbeauftragter helfen würde?

Ja, natürlich. Gerade im Sinne dieser Differenzierung. Was ist Antisemitismus? Woher kommt die emotionale Qualität des Antisemitismus? Was gehört zu einer vernünftigen Auseinandersetzung mit Politik und was kann und muss als antisemitisch kritisiert werden? Auch die emotionalen Ursachen müssen erforscht werden, das geschieht in Studien immer noch zu wenig. Wie entsteht Rechtsextremismus? Wie kann man ihn abschichten: Die Allerradikalsten, die Agitatoren, die wird man nicht überzeugen können. Da ist es wichtig, politisch gegenzuhalten oder sie gegebenenfalls auch rechtlich im Sinne der Volksverhetzung zu belangen. Viele andere lassen sich aber auch durch bessere Erfahrungen in ihrem Leben, durch Kommunikation, durch Ernst-Nehmen und Kritik davon abbringen.

Man könnte sagen: aufklären, ernst nehmen und miteinander reden?

Ja und zugleich selber, wenn auch nicht von oben herab, die eigene Position klar machen.

Prof. Dr. Hans-Joachim "Hajo" Funke ist Politikwissenschaftler. Er lehrte von 1993 bis zur Emeritierung 2010 am Institut für Politische Wissenschaften der Freien Universität Berlin. Sein Schwerpunkt liegt auf Untersuchungen zu Rechtsextremismus und Antisemitismus in Deutschland.

Weiterführende Informationen:
Bundesinnenministerium: Antisemitismus in Deutschland – aktuelle Entwicklungen
Hajo Funke und Walid Nakschbandi: "Deutschland – Die herausgeforderte Demokratie"
Hajo Funke: "Gäriger Haufen. Die AfD nach der Bundestagswahl" (erscheint Januar 2018)

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