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Andrea Nahles fordert neue Willkommenskultur in Deutschland


Nahles zur Rente mit 63
"Ich habe Olaf Scholz anders verstanden"

InterviewVon Sven Böll, Miriam Hollstein

Aktualisiert am 19.12.2022Lesedauer: 7 Min.
Interview
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Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.

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Als SPD-Chefin polarisierte sie. Seit August 2022 ist Andrea Nahles Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit. (Quelle: Janine Schmitz/photothek.de/imago images)

Die Rente? Quicklebendig! Faule Arbeitslose? Nur Einzelfälle! Wir sind ein attraktives Einwanderungsland? Schön wär's! Sagt Andrea Nahles im großen Interview.

Es ist kalt im Büro von Andrea Nahles. Weil die Nürnberger Zentrale der Bundesagentur für Arbeit, die sie seit wenigen Monaten leitet, große Fensterfronten hat, liegt die Innentemperatur sogar unter den für Behörden festgelegten 19 Grad. Nahles hat deshalb ein gefüttertes Jackett an.

Ihrer guten Laune tut die Kälte jedoch keinen Abbruch. Nahles hat es gerade geschafft, die als eher behäbig bekannte Bundesagentur mit ihren mehr als 100.000 Mitarbeitern zum deutschen Behörden-Vorbild zu machen: Fast 70 Dienstleistungen können nun digital beantragt werden, darunter auch das Kindergeld und das Arbeitslosengeld I. In anderen Verwaltungen kommt die Digitalisierung dagegen nicht einmal schleppend voran.

Im Interview wirkt die einstige SPD-Chefin wie früher: fröhlich, selbstbewusst und nicht um deutliche Worte verlegen (auch wenn sie hinterher nicht alle davon veröffentlicht sehen will).

t-online: Frau Nahles, die Arbeitslosigkeit geht seit Jahren zurück. Haben Sie keine Sorge, dass der Bundesagentur für Arbeit bald die Arbeit ausgeht?

Andrea Nahles: Nein, überhaupt nicht.

Weil Sie sich im Zweifel selbst Arbeit machen?

Das müssen wir nicht, weil es mehr als genug für uns zu tun gibt.

Zum Beispiel?

Wir zahlen unter anderem das Kindergeld aus und beraten Jugendliche bei der Berufswahl. Und es sind ja auch noch immer 2,4 Millionen Menschen arbeitslos. Und mehr als fünf Millionen Menschen leben in sogenannten Bedarfsgemeinschaften, weil die Kinder ja auch noch dabei sind. Diese Leute betreuen wir. Wir sind zudem wichtige Transformationsbegleiter und unterstützen Arbeitgeber wie Beschäftigte dabei. Wir administrieren die gesamte Kurzarbeit – vom Antrag bis zur Auszahlung. Damit haben wir den Arbeitsmarkt in der Pandemie massiv stabilisiert.

Am 1. Januar kommt das neue Bürgergeld. Können Sie versprechen, dass alle Betroffenen pünktlich den höheren Regelsatz ausgezahlt bekommen?

Ja.

Wer 40 Stunden pro Woche für den Mindestlohn arbeitet, hat 2080 Euro brutto im Monat. Davon bleiben einem Single rund 1500 Euro netto. Ist der Abstand zum Bürgergeld groß genug?

Diese Debatte ist irreführend. Arbeit lohnt sich immer in Deutschland. Die wenigsten Menschen verdienen ihr gesamtes Leben lang nur den Mindestlohn. Hinzu kommt: In ihren Familien sind sie Vorbilder, weil sie einer Arbeit nachgehen. Aber auch rein finanziell lohnt sich Arbeit immer: Familien, in denen mindestens ein Elternteil arbeitet, haben deutlich höhere Chancen, aus der Armut herauszukommen.

Die Arbeitslosen, die zu faul zum Arbeiten sind, gibt es Ihrer Einschätzung nach also gar nicht?

Es handelt sich um ein Vorurteil, weil es nur um Einzelfälle geht. Natürlich ärgern auch mich Einzelne, die unseren Sozialstaat ausnutzen. Der ist schließlich dafür da, um Menschen aus der Hilfsbedürftigkeit herauszuhelfen – und nicht dazu gedacht, dort lange zu verbleiben. Deshalb ist die Bundesagentur für Arbeit auch immer für Mitwirkungspflichten gewesen. Aber die stehen nicht im Mittelpunkt unserer Arbeit. Wir mussten nur in drei Prozent der Fälle Sanktionen verhängen.

Obwohl wir mit dem Ukraine-Krieg die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg erleben, liegt die Arbeitslosenquote nur bei rund fünf Prozent. Man könnte fast sagen: Wir haben Vollbeschäftigung.

Nein, Widerspruch!

Andrea Nahles und Olaf Scholz: Die SPD-Mitlieder haben sich mehrheitlich für eine Neuauflage der GroKo ausgesprochen.
Mit Olaf Scholz versteht sich Nahles gut. (Quelle: Axel Heimken/dpa)

Aus der großen Politik in die größte Behörde

Eine SPD ohne Andrea Nahles war lange nicht denkbar: Sie war Juso-Chefin (1995–1999), Bundestagsabgeordnete (1998–2002 und 2005–2019), Generalsekretärin (2009–2013), Bundesarbeitsministerin (2013–2017), Fraktionsvorsitzende (2017–2019) und Parteivorsitzende (2018–2019). Nach dem schlechten Abschneiden der SPD bei der Europawahl und monatelangen parteiinternen Querelen warf sie im Juni 2019 hin, gab fünf Monate später auch noch ihr Bundestagsmandat ab. Im Juni 2020 wurde sie Präsidentin der Bundesanstalt für Post und Telekommunikation. Seit 1. August dieses Jahres ist sie die Nachfolgerin von Detlef Scheele bei der Bundesagentur für Arbeit. Nahles leitet damit die größte Behörde des Bundes.

Warum?

Weil es nicht den einen deutschen Arbeitsmarkt gibt, sondern viele unterschiedliche. In Bayern kann man von Vollbeschäftigung sprechen. Aber für Nordrhein-Westfalen etwa lässt sich das so pauschal nicht sagen. Dort gibt es Boomregionen, aber eben auch das Ruhrgebiet, das noch immer unter dem Strukturwandel leidet.

Trotzdem werden überall in der Republik Leute gesucht. Fast hat man den Eindruck, jeder Arbeitgeber wolle sofort Mitarbeiter einstellen.

Wir haben überall eine Entwicklung von einem Arbeitgeber- zu einem Arbeitnehmer-Arbeitsmarkt, das stimmt. Die Chancen auf eine Beschäftigung standen selten so gut.

Wieso gibt es noch immer 2,4 Millionen Arbeitslose, wenn fast alle Arbeitgeber Mitarbeiter suchen?

Das ist einfach zu erklären: Auf eine offene Helferstelle, also eine Tätigkeit, die keine besondere Qualifikation verlangt, gibt es im Schnitt sechs Bewerber. Auf eine Fachkräftestelle – je nach Region und Branche – aber null. Die Menschen, die arbeitslos sind, bringen also häufig nicht die Qualifikation mit, die Arbeitgeber suchen. Oder anders ausgedrückt: Das matcht nicht. Besonders problematisch ist, dass dieser Missmatch zuletzt noch größer geworden ist.

Wie wollen Sie das Problem lösen?

Wir müssen gezielt Weiterbildungsangebote machen. Das sind vor allem abschlussorientierte Qualifizierungen. Aber das kann auch die Vermittlung von Grundkompetenzen sein: Einige Arbeitslose sprechen nicht gut Deutsch, andere haben Probleme mit dem Rechnen.

Sie sind also eine Art Schule?

Wenn es hilft, warum nicht? Genauso wie wir gezielt coachen.

Coaching klingt harmlos. Vermutlich ist es das aber nicht.

Nehmen wir folgendes Beispiel: Ein Arbeitgeber hat sich überzeugen lassen, einen Arbeitslosen zu beschäftigen. Weil dieser aber lange arbeitslos war, tut er sich manchmal schwer, wieder in den Arbeitnehmer-Rhythmus zu kommen. Der Arbeitgeber kann sich aber nicht darum kümmern, dass er auch tatsächlich jeden Tag erscheint. Das übernehmen wir dann.

Coaching heißt also: Sie stehen morgens vor der Tür?

Die Leute werden – wenn es sein muss – morgens abgeholt, damit sie pünktlich zur Arbeit kommen.

Und das funktioniert?

Das ist erfolgreich. Dazu gibt es auch entsprechende Forschungsergebnisse. Und es hat Potenzial nach oben. Hinzu kommt: Wenn Arbeitgeber sich auf nicht optimale Kandidaten einlassen, machen sie häufig bessere Erfahrungen als erwartet. Das haben wir gerade erst am Beispiel von Einstellungsverhalten von Arbeitgebern bei Hauptschülern feststellen können. Hier gibt immer noch Vorurteile, die wir überwinden müssen.

Müssen Arbeitgeber flexibler werden?

Sie sollten zumindest mehr Menschen, die ihre Anforderungen nicht perfekt erfüllen, eine Chance geben. Es gibt nach unserer Wahrnehmung hier aber auch Bewegung in die richtige Richtung.

Aber es liegt ja nicht nur an den Arbeitgebern. Beispiel Pflegebranche: Seit Langem bemüht sich die Regierung um ausländische Kräfte, gekommen sind in den vergangenen Jahren aber nur wenige Tausend.

Unsere Möglichkeiten, Pflegekräfte aus dem Ausland zu gewinnen, sind eigentlich sehr gut. Das Problem ist aber, dass es sehr viele Hürden gibt.

Welche?

Es beginnt schon damit, dass die Menschen in ihrem Heimatland Deutsch lernen müssen. Es gibt aber nicht überall Deutschlehrer. Und dann müssen Interessenten den Kurs selbst bezahlen, das können sich manche schlicht nicht leisten. Wir konkurrieren dabei mit englischsprachigen Ländern, eine Sprache, die viele bereits in der Schule lernen. Und schließlich dauert es oft Monate, bis man einen Termin beim Konsulat für ein Visum bekommt. Und die Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse bei uns gleicht noch immer einem Hindernislauf.

Das alles wird seit Jahren beklagt.

Wenn man darauf schaut, wie viele Hürden wir den Leuten in den Weg stellen, müssen wir feststellen, dass wir mit langjährigen Einwanderungsländern noch nicht konkurrieren können.

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Was würde die Chefin der Bundesagentur Andrea Nahles der früheren Arbeitsministerin Andrea Nahles raten, um diese Probleme endlich zu lösen?

Ich gebe überhaupt keine Ratschläge, weder an mich in vorherigen Positionen noch an aktuelle Arbeitsminister. Für mich ist entscheidend: Der Spirit Einwanderungsland ist in Deutschland noch nicht da. Es kommen ja nicht Fachkräfte zu uns, sondern Menschen. Und deshalb brauchen wir auch die Bereitschaft, sie eben nicht nur als Fachkräfte zu sehen, sondern als Menschen willkommen zu heißen. Sonst wird es nicht gelingen.

Woran machen Sie das fest?

Im vergangenen Jahr kamen gut 1,1 Millionen Menschen zu uns. Eigentlich eine tolle Zahl. Da könnten wir richtig stolz drauf sein. Dummerweise sind gleichzeitig 750.000 Leute wieder ausgewandert. Und viele nennen vor allem zwei Gründe für ihren Schritt.

Und zwar?

Sie beklagen, dass sie unterhalb ihrer Qualifikation arbeiten, weil ihre Berufsabschlüsse nicht anerkannt werden. Außerdem hätten sie gern ihre Familie bei sich, die darf aber nicht kommen. Also gehen sie. Wenn wir die Zahl der Auswanderer reduzieren würden, könnten wir einen Teil unseres Fachkräfteproblems lösen. Das ist die einfachste Methodik.

Welche Möglichkeiten sehen Sie noch?

Es gibt total interessante Trends – etwa bei älteren Arbeitnehmern. Die Menschen gehen im Schnitt mit 64 in den Ruhestand, genießen eine Weile ihre Auszeit, sind dann aber häufiger als früher offen, zumindest wieder in Teilzeit zu arbeiten. Wenn wir da flexibler würden, könnten wir die Quote derjenigen, die im Alter noch weiterarbeiten, deutlich steigern. Und damit auch den Fachkräftemangel lindern. Wir sollten die Lebensarbeitszeit an die Biografien der Menschen anpassen.

Sie meinen die Abschaffung der starren Altersgrenze beim Renteneintritt?

Mir geht es hier nicht darum, eine Rentendebatte loszutreten. Da würde sich auch die Vorsitzende der Deutschen Rentenversicherung, Gundula Roßbach, sehr wundern. Ich spreche über Lebensläufe.

Was meinen Sie damit genau?

Wir sehen doch schon jetzt verschiedene Phasen: Wenn man jung ist und keine Familie hat, arbeitet man vielleicht auch mal mehr als 40 Stunden pro Woche. Wenn man dann kleine Kinder hat, möchte man auch mehr Zeit für die Familie haben. Sind die Kinder aus dem Haus, kann man möglicherweise wieder mehr arbeiten. Für all diese unterschiedlichen Bedürfnisse sollte es Angebote geben. Denn je mehr Menschen arbeiten, desto stabiler ist die Rente.

Andrea Nahles zitiert Norbert Blüms "Die Rente ist sicher"?

Erinnern Sie sich doch an die Prognosen von einst, dass die Rente bald tot sein würde. In Wahrheit ist die Rente quicklebendig. Und warum sind die düsteren Vorhersagen nicht eingetreten? Weil wir mehr Frauen und mehr Ältere in Arbeit gebracht haben. Und weil wir mehr Zuwanderung hatten – vom Jugoslawienkrieg Anfang der neunziger Jahre bis zur Flüchtlingswelle 2015. Deshalb bin ich optimistisch: Wir können die Rente dauerhaft stabilisieren, wenn wir qualifizierte Zuwanderung gezielt steuern und die Erwerbsbeteiligung derjenigen, die schon bei uns leben, steigern.

Und wie?

Nehmen Sie die Frauen. 70 Prozent von ihnen sind erwerbstätig, aber die Hälfte von ihnen arbeitet nur 20 Stunden pro Woche. Wenn Arbeitgeber zum Beispiel fragen würden, was sie tun müssen, damit die Frauen 30 statt 20 Stunden arbeiten, oder wir auch flächendeckend gute Betreuungsangebote schaffen, könnten wir die Zahl deutlich steigern. Und hätten einige Probleme weniger.

Apropos weniger Probleme: Olaf Scholz hat gerade die Rente mit 63 in Frage gestellt. Die war Ihr Herzensprojekt als Arbeitsministerin.

Ich habe Olaf Scholz anders verstanden. Er will, dass die Menschen ihre Regelaltersrente erreichen und nicht schon vorher aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand gehen. Das ist auch die Position der Bundesagentur für Arbeit.

Sie sind 52 Jahre alt, also weit vom Ruhestand entfernt. Können Sie sich eine Rückkehr in die Politik vorstellen?

Nein. Ich habe mich in meinem neuen Job verpflichtet und die Bundesagentur für Arbeit verdient es, dass ich mich ihr mit voller Kraft widme.

Bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter?

Ich habe alles dazu gesagt.

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Nahles.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Andrea Nahles in Nürnberg
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