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Kindergrundsicherung: "Deutschland muss besser werden" – Experte ordnet ein


Streit in der Ampel
"Manche schämen sich"

InterviewVon Lisa Becke

10.04.2023Lesedauer: 4 Min.
Interview
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Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.

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Christian Lindner Finanzminister Lisa Paus Familienministerin Streit um Kindergrundsicherung AmpelkoalitionVergrößern des Bildes
Lindner und Paus (Fotomontage): Der Finanzminister und die Familienministerin haben unterschiedliche Vorstellungen davon, wie die Kindergrundsicherung aussehen soll. (Quelle: IMAGO/Metodi PopowMontage: Uf/t-online)

Die Regierung streitet um die Kindergrundsicherung. Ein Experte äußert im Gespräch mit t-online trotzdem eine große Hoffnung.

In Zukunft sollen weniger Kinder in Deutschland in Armut aufwachsen, so hat es sich die Regierung in ihrem Koalitionsvertrag vorgenommen. Erreichen will sie das durch eine sogenannte Kindergrundsicherung. Obwohl die genauen Pläne dafür noch gar nicht vorliegen, ist zwischen den Ampelparteien bereits ein erbitterter Streit entbrannt – darüber, wie diese am Ende genau aussehen soll.

Im Gespräch mit t-online erklärt Christian Palentien von der Universität Bremen, warum bisherige Leistungen viele Familien nicht erreichen, was bei dem Streit auf dem Spiel steht und warum eine Kindergrundsicherung am Ende nicht reichen wird.

t-online: Googelt man dieser Tage Kindergrundsicherung, stößt man auf Artikel zum Streit in der Koalition. Lassen Sie uns zu Beginn darauf blicken, worum es eigentlich geht. Herr Palentien, was steht hier für die betroffenen Familien auf dem Spiel?

Christian Palentien: Die Kindergrundsicherung soll das Mittel sein, mit dem mehr Kinder aus der Armut geholt werden, so steht es zumindest im Koalitionsvertrag. Das ist ein wichtiges Ziel, denn die Situation ist so: Jedes fünfte Kind wächst in Armut auf. Dabei gibt es riesige Unterschiede in Deutschland; im Land Bremen sind besonders viele Kinder betroffen, in Bayern am wenigsten.

Um welche Familien geht es?

Es trifft vor allem drei Gruppen: Familien mit vielen Kindern, Alleinerziehende und Nicht-Erwerbstätige. Kinder sind in Deutschland – immer noch – ein großes Armutsrisiko. Je mehr Kinder jemand hat, desto höher ist das Risiko, in die relative Einkommensarmut zu rutschen.

Was bedeutet das konkret für die betroffenen Kinder?

Armut bedeutet unter anderem, dass ein Kind weniger am normalen Alltag teilhaben kann, also beispielsweise kein neues Mäppchen für die Schule bekommen oder nicht an der Klassenfahrt teilnehmen kann. Weil Kinder dadurch oft ausgeschlossen werden, kann das auch negative Auswirkungen auf die Psyche der Betroffenen haben.

Es heißt aber auch: Diese Kinder sind klar benachteiligt, was Bildungschancen angeht. Etwa, weil sie keine Nachhilfe bekommen können, wenn die Leistungen schlechter sind. Diese Kinder machen seltener Abitur oder überhaupt einen Abschluss.

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Christian Palentien (Quelle: Reiner Zensen via www.imago-images.de)

Christian Palentien

ist Erziehungswissenschaftler an der Universität Bremen. Zuletzt war er Vorsitzender der Sachverständigenkommission des 16. Kinder- und Jugendberichts der Bundesregierung. Er habilitierte zu Ursachen und Prävention von Kinder- und Jugendarmut in Deutschland.

Es gibt bereits jetzt einige Leistungen speziell für Kinder: das Kindergeld, das alle Eltern erhalten, zusätzlich den Kinderzuschlag für Menschen mit niedrigen Einkommen und Geld etwa für die Musikschule oder den Sportverein aus dem sogenannten Bildungs- und Teilhabepaket. Warum reicht das nicht?

Das allein kann für viele Kinder die Situation offensichtlich nicht grundsätzlich verbessern – sonst würden ja nicht so viele Kinder in Armut aufwachsen.

Woran liegt das?

Wir müssen feststellen, dass viele Familien bestimmte Leistungen nicht beantragen, obwohl ihnen diese zustehen. Das kann unterschiedliche Gründe haben: Manche Familien schämen sich. Andere wissen gar nicht, dass ihnen eine Leistung zusteht. Manche gehen im Zuständigkeits- und Bürokratiedschungel unter.


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Kinder sind in Deutschland – immer noch – ein großes Armutsrisiko.


Christian Palentien


Darauf verweist die FDP in der gegenwärtigen Debatte: dass vielen Menschen schon damit geholfen sei, wenn die unterschiedlichen Leistungen zu einer zusammengefasst würden. Sie sieht in der Kindergrundsicherung deshalb vor allem eine Verwaltungsreform.

Es ist sinnvoll, die Leistungen zu bündeln – das wird die Situation definitiv verbessern. Denn wir können davon ausgehen, dass die Gelder dann mehr der betroffenen Familien erreichen als bislang.

Reicht das aus? Die Grünen – deren Vorzeigeprojekt die Kindergrundsicherung ist – wollen die Leistungen nicht nur zusammenführen, sondern sie darüber hinaus für Kinder in einkommensarmen Familien erhöhen. Das allerdings blockiert FDP-Finanzminister Christian Lindner und verweist darauf, dass nicht genügend Geld da sei.

Natürlich ist es so: Man kann die Kindergrundsicherung für die einkommensarmen Familien noch besser machen, indem man mehr Geld gibt. Ich will aber dafür plädieren, die Vereinheitlichung der unterschiedlichen Leistungen nicht zu unterschätzen.

Also sollen sich die Grünen nicht so anstellen und sich mit der Zusammenführung der Leistungen zufriedengeben?

Jedenfalls ist das ein erster guter Schritt. Ist das erst einmal getan, kann auch in Zukunft noch an der Höhe geschraubt werden. Der Punkt aber, die Zahlungen mehr vom Einkommen der Eltern abhängig zu machen, ist richtig. Beim Kindergeld etwa ist das derzeit nicht der Fall. Das erhalten alle Eltern, selbst wenn sie beispielsweise mehr als 100.000 Euro im Jahr verdienen.

Wäre das ein Hebel, wie man mehr Geld für bedürftige Familien bereitstellen könnte – indem man beim Kindergeld der gut Verdienenden kürzt?

Man muss es ja nicht von vornherein kürzen. Sinnvoll finde ich die Idee, allen Familien einen Betrag zur Verfügung zu stellen, hiervon ist dann ein Sockelbetrag steuerfrei. Gut verdienende Eltern müssen das Geld dann am Jahresende mitversteuern.

Am Ende wird wohl – wie so oft – ein Kompromiss stehen: Die Kindergrundsicherung kommt, aber mit weniger Budget, als die Grünen es sich wünschen. Worauf muss die Regierung Ihrer Meinung nach besonders achten?

Am wichtigsten ist, dass die Leistung am Ende tatsächlich so einfach zugänglich wird, wie es Familienministerin Lisa Paus von den Grünen verspricht. Dass das in der Praxis funktioniert, wird nicht einfach. Es darf kein kompliziertes Antragsverfahren werden, mit dem sich die Familien herumschlagen müssen.

Wenn das umgesetzt werden kann, habe ich wirklich die Hoffnung, dass sich durch die Kindergrundsicherung mehr Kinder aus dem Kreislauf der Vererbung von Armut befreien können.

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Was meinen Sie damit?

Bislang ist es so: Sind Eltern benachteiligt, wirkt sich das mit großer Wahrscheinlichkeit auf die Kinder aus, die das dann wiederum an ihre Kinder weitergeben. Gelingt es nun durch die Kindergrundsicherung tatsächlich, dass ein Kind mehr teilhaben und am Ende einen besseren Bildungsabschluss erreichen kann, kann das dazu führen, dass es diesen Kreis durchbricht. Wenn diese Person dann später selbst einmal Kinder bekommt, hat das mit großer Wahrscheinlichkeit auch dort einen positiven Effekt.

Wenn wir das Ziel haben, Kinderarmut effektiv zu bekämpfen: Reicht die Kindergrundsicherung – in welcher Form sie denn auch kommen mag – dann aus?

Nein, auch der Faktor der Arbeit ist in dem Zusammenhang wichtig. In der Zeit, in der eine alleinerziehende Mutter ihr Kind beaufsichtigen muss, kann sie nicht arbeiten und Geld verdienen. Die Person ist also eher in Teilzeit beschäftigt, obwohl sie auch Vollzeit arbeiten würde – einfach deshalb, weil sie keine Möglichkeit hat, das Kind betreuen zu lassen. Hier muss Deutschland viel besser werden.

Verwendete Quellen
  • Telefonisches Gespräch mit Christian Palentien am 3. April 2023
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