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Tagesanbruch I Erstarkende Extremisten: Der blanke Hass


Tagesanbruch
Der blanke Hass

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 22.08.2022Lesedauer: 7 Min.
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Brennendes Auto vor dem Asylbewerberheim in Rostock-Lichtenhagen Ende August 1992.Vergrößern des Bildes
Brennendes Auto vor dem Asylbewerberheim in Rostock-Lichtenhagen Ende August 1992. (Quelle: Bernd Wüstneck/dpa-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

der Hass wuchs schleichend – dann entlud er sich wie eine Explosion. Er sprang von den Tätern auf die Claqueure über, infizierte Dutzende, Hunderte, Tausende. Am Ende stand eine keifende Menge gegen ein Häuflein verschreckter Familien, die um ihr Leben fürchteten. Polizisten schauten dem gemeinen Treiben teilnahmslos zu, Politiker schwadronierten menschenverachtende Kommentare in die Kameras, wodurch sich das Pack auf der Straße erst recht ermutigt fühlte. Mitfühlende Menschen im In- und Ausland erinnerten die Szenen in Rostock-Lichtenhagen dagegen an das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte.

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Heute vor 30 Jahren begannen die tagelangen Krawalle rechtsradikaler Gewalttäter und stupider Mitläufer in der Hansestadt. 400 Neonazis und Anwohner griffen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylsuchende und das Sonnenblumen-Wohnheim für 100 vietnamesische Arbeiter an. Sie schleuderten Molotowcocktails, schwangen Knüppel, warfen Steine – und rund 3.000 Schaulustige applaudierten ihnen, hinderten die orientierungslosen Polizisten und Feuerwehrleute am Eingreifen. Schließlich zogen sich die Polizeitrupps zurück und überließen dem Mob das Schlachtfeld.

Es waren die massivsten fremdenfeindlichen Angriffe in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg, und es ist bis heute ein Wunder, dass dabei niemand schwer verletzt wurde oder ums Leben kam. Das änderte sich bald, denn auf Rostock folgten rassistische Angriffe und Morde in weiteren Städten Ost- und Westdeutschlands: drei Tote in Mölln, fünf Tote in Solingen, ungezählte Attacken in weiteren Städten mit Verletzten, Verängstigten, Vertriebenen. Mindestens 40 Asylbewerberwohnheime wurden angegriffen, in vielen Fällen unter dem Beifall der Nachbarn.

Politiker bis hinauf in die Bundesregierung instrumentalisierten die Gewalttaten eiskalt für ihre Agenda. "Wir müssen handeln gegen den Missbrauch des Asylrechts, der dazu geführt hat, dass wir einen unkontrollierten Zustrom in unser Land bekommen haben", kläffte Innenminister Rudolf Seiters auf einer Pressekonferenz in Rostock und kam mit dieser Täter-Opfer-Umkehr tatsächlich durch. Helmut Kohl behauptete ohne jeden Beweis, die Krawalle seien von der Stasi angezettelt worden; den Opfern beizustehen, hielt er nicht für nötig. Selten hat man sich für einen Kanzler so sehr fremdgeschämt.

Die kollektive Boshaftigkeit fruchtete: Angesichts der Flammen in Rostock gab die SPD ihren Widerstand gegen eine Asylrechtsänderung auf; wenige Monate später stutzte eine unrühmliche Koalition aus CDU, CSU, FDP und SPD per Grundgesetzänderung das Asyl-Grundrecht zu einem Grundrechtchen. Der knallharte Kurs diente Kommunen, Behörden und Gerichten fortan als Richtschnur. Ab jetzt war klar: Nicht die heimischen Extremisten sind das Problem, sondern die Ausländer.

So wurde ab jetzt Politik gemacht, so wurden Urteile gefällt, so entschieden Kommunalbehörden – auch in Rostock: Während man den deutschen Nachbarn des Sonnenblumenhauses als Kompensation für die "Unannehmlichkeiten" einen Monat lang die Miete erließ, erhielten die angegriffenen Vietnamesen keinen Pfennig Entschädigung. Die meisten von ihnen wurden kommentarlos abgeschoben. Die wenigen Verbliebenen tragen bis heute das Trauma mit sich herum. "Die Vietnamesen in Rostock erinnern sich immer noch an den Vorfall, aber niemand will noch einmal darüber reden", sagt Hung Quoc Nguyen, der vor der Wende als vietnamesischer Vertragsarbeiter in die DDR kam.

So war das damals, und so klaffen die Wunden bis heute. Erst wenn man sich all die abscheulichen Details des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen vergegenwärtigt, beginnt man zu verstehen, wie politische Eliten, Behörden und Tausende vermeintlich wohlmeinende Bürger in einen Strudel kollektiver Brutalität, Ressentiments und Ignoranz stürzen konnten. Knapp drei Jahre nach dem Mauerfall befand sich Ostdeutschland immer noch im Ausnahmezustand, viele Menschen waren verunsichert, enttäuscht, verärgert. Doch der Hass infizierte rasend schnell auch vermeintlich stabile Teile der Gesellschaft, im Osten wie im Westen.

Warum erzähle ich Ihnen das alles heute Morgen? Weil der Jahrestag der Rostocker Krawalle nicht einfach nur ein Datum im Kalender ist. Weil sich auch heute wieder Teile der Gesellschaft radikalisieren, so dass Hass und Wut schnell in Gewalt umschlagen können. Extremisten verschiedener Couleur versuchen in diesen Wochen, die Folgen des Ukraine-Kriegs, die steigenden Energiepreise und die Corona-Regeln zu instrumentalisieren, hat der Bundesverfassungsschutz erst in der vergangenen Woche gewarnt: Eine "radikalisierte Minderheit aus Rechtsextremisten, Delegitimierern, Reichsbürgern und Verschwörungsgläubigen" bringe sich gegen den Staat in Stellung und versuche, die Mitte der Gesellschaft für ihre Agenda zu mobilisieren. Unterstützt werden sie dem Geheimdienst zufolge von russischen Akteuren, die Falschinformationen über die Gasknappheit und die Preissteigerungen verbreiten, "um Angst vor einer möglicherweise existenzbedrohenden Energie- oder Lebensmittelknappheit in Deutschland zu schüren". In den kommenden Wochen werde die russische Propaganda voraussichtlich noch zunehmen "und Verschwörungsnarrative befeuern mit dem Ziel, einen Keil in unsere Gesellschaft zu treiben".

Die radikalen Szenen verschmelzen. Gegner der Corona-Regeln, Reichsbürger, AfD-Dumbatzel, selbsternannte Freiheitskämpfer und Verschwörungsapostel verbünden sich mit Esoterikern, Frustrierten und Ewigempörten und blasen zum Kampf gegen den Staat. Ihr Furor gedeiht in den Sümpfen der Radikalisierungsmaschinen Telegram, Twitter und Facebook, wo er von Agitatoren aus dem In- und Ausland geschürt wird und auch normale Menschen zu infizieren droht, die sich berechtigte Sorgen wegen der steigenden Preise machen. So kann ein Milieu entstehen, das immer schwerer durch vernünftige Argumente erreichbar ist und in dem Besonnenheit nicht mehr als Stärke, sondern als Schwäche empfunden wird.

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Die kommenden Monate werden hart. Wir werden sie als Gesellschaft am besten durchstehen, indem wir rational, gelassen und solidarisch bleiben. Nicht jeder Beschluss der Regierenden mag glücklich sein, aber das ist kein Grund, das politische System und seine Repräsentanten rundheraus abzulehnen. Demokratie lebt vom Mitmachen; wer sie verachtet, entzieht ihr die Kraft. Das muss jedem klar sein. Zugleich dürfen die Wähler aber nun von den Regierenden und Gesetzgebern erwarten, dass diese das Land aufrichtig, sorgsam und verantwortungsbewusst durch die Krise steuern. Dass sie die Schwächsten der Gesellschaft im Blick haben, ohne dabei die breite Masse über Gebühr zu belasten. Und dass sie ihr Mundwerk im Griff haben, statt sich unter dem Krisendruck zu populistischem Geschwätz hinreißen zu lassen. Typen wie Rudolf Seiters haben in der deutschen Politik nichts mehr verloren.


Spekulationen nach dem Attentat

In Moskau herrscht Aufregung: Seit am Samstagabend die Tochter des Putin-Ideologen Alexander Dugin bei einer Autoexplosion nahe der russischen Hauptstadt getötet wurde, blühen die Spekulationen über Hintergründe und Drahtzieher des mutmaßlichen Mordanschlags. Naheliegend ist, dass der neofaschistische Hardliner Dugin, der zuvor mit seiner Tochter ein patriotisches Festival besucht hatte und ursprünglich gemeinsam mit ihr wegfahren wollte, das eigentliche Ziel des Attentats war.

Unklar ist dagegen, wer dahinterstecken könnte. Während russische Nationalisten und prorussische Kräfte in der Ukraine sofort "die Terroristen des ukrainischen Regimes" hinter der Tat vermuteten und auch das russische Außenministerium ins selbe Horn stieß, entgegnete ein Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, im Gegensatz zu Russland sei die Ukraine kein Terrorstaat. In Kiew spricht man stattdessen von Machtkämpfen zwischen verschiedenen politischen Fraktionen in Russland. Laut einem bekannten Kremlkritiker habe eine russische Untergrundgruppe den mutmaßlichen Anschlag für sich reklamiert. Die Lage ist weiterhin unübersichtlich.

Anzunehmen ist, dass die Kreml-Propaganda das Attentat für ihre Zwecke ausschlachten wird. Die Chefredakteurin des staatlichen Senders RT forderte Putin bereits zu Vergeltungsaktionen auf: "Kiew wird beben", geiferte sie. Kein gutes Omen für die nächsten Tage.


Putins perfides Spiel

Der Kreml zieht die Daumenschrauben weiter an: Der Energiekonzern Gazprom will die Gas-Pipeline Nord Stream 1 von Ende August an nochmals drei Tage lang komplett abschalten – erneut aus fadenscheinigen Gründen. Falls die Staatsfirma den Hahn anschließend nicht wieder aufdreht, sind die Lebensader der deutschen Wirtschaft und die Versorgung Tausender Haushalte akut bedroht. Putin spielt weiter mit der deutschen Angst.


Scholz und Habeck in Kanada

Stabil, demokratisch und ressourcenreich: Kanada ist in diesen Zeiten ein gefragter Partner. Kein Wunder also, dass Kanzler Olaf Scholz und Wirtschaftsminister Robert Habeck in Begleitung von deutschen Wirtschaftsbossen zu einem dreitägigen Besuch ins nördliche Nachbarland der USA aufgebrochen sind. Mit Premierminister Justin Trudeau wollen sie eine verstärkte Zusammenarbeit im Klima- und Energiebereich vereinbaren, es geht um Wasserstoff und Flüssiggas.

Nebenbei ist es natürlich interessant, das Zusammenspiel des derzeit nicht so beliebten Kanzlers mit seinem populären Vize zu beobachten: Stimmt die Chemie, wer profiliert sich? Unsere Chefreporterin Miriam Hollstein ist dabei und berichtet auf t-online für Sie. Und unser Amerika-Korrespondent Bastian Brauns hat sich vom kanadischen Außenpolitiker Peter Boehm erklären lassen, was dessen Land für Deutschland tun kann.


RBB kriselt weiter

Erst trat sie zurück, dann wurde sie von ihrem Amt abberufen, nun geht es um die Details der Vertragsauflösung: Heute kommt der Verwaltungsrat des Rundfunks Berlin-Brandenburg zu einer Sondersitzung zusammen, um über die fristlose Kündigung des Dienstvertrags der ehemaligen Intendantin Patricia Schlesinger zu entscheiden. Darüber hinaus will das Gremium mit einem weiteren Beschluss sicherstellen, dass Frau Schlesinger keine Ruhegeldzahlungen erhält, die ihr nach Ende ihrer Amtszeit eigentlich zustehen. Was freilich nichts daran ändert, dass vor allem die Kontrollorgane des Senders einer Neuorganisation bedürfen.


Was lesen?

Immer mehr Milchbauern geben auf. Nicht so Katharina Leyschulte: Die junge Landwirtin melkt gegen den Trend an – ganz ohne Bio. Meine Kollegin Theresa Crysmann hat sie besucht.


Statt das Fischsterben in der Oder zügig aufzuklären, wirft die polnische Regierung Nebelkerzen – und beschuldigt Deutschland, "Fake News" zu verbreiten. Die "Süddeutsche Zeitung" hat die Details.


Nicht nur in Deutschland ist es viel zu trocken, auch in China kämpft man mit der Dürre. Dort sollen nun Wolken geimpft werden, um sie zum Regnen zu bringen. Die Technik wird auch hierzulande eingesetzt, berichtet meine Kollegin Sonja Eichert.


Was amüsiert mich?

Die Ampelleute haben eine pfiffige Krisenstrategie.

Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Wochenbeginn. Morgen kommt der Tagesanbruch von Camilla Kohrs, von mir lesen Sie am Mittwoch wieder.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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