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Ukraine-Krieg: Warum wird Putins Herrschaft nicht erschüttert?


Russlandexperten
"Sie sind gewaltbereit und pflegen einen Todeskult"

InterviewVon Florian Harms, Marc von Lüpke

Aktualisiert am 15.09.2023Lesedauer: 9 Min.
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Mitglieder Junarmija (Archivbild): Thomas Franke warnt vor der verführten Jugend Russlands.Vergrößern des Bildes
Mitglieder Junarmija (Archivbild): Thomas Franke warnt vor der verführten Jugend Russlands. (Quelle: SERGEI KARPUKHIN/Reuters)

Russlands Krieg gegen die Ukraine verläuft schlecht, die Verluste sind hoch. Warum wird Putins Herrschaft davon nicht erschüttert? Die Experten Gesine Dornblüth und Thomas Franke berichten über eine in Apathie versunkene Gesellschaft.

Im Hinblick auf Russland herrscht in Deutschland das Prinzip Hoffnung: Wladimir Putin und seine mafiöse Clique von Kleptokraten hätten den Krieg gegen die Ukraine angezettelt – aber wenn diese Leute die Macht verlören, würde alles wieder besser. Stimmt das? Gesine Dornblüth und Thomas Franke bereisen Russland seit vielen Jahren, als Journalisten verfügen sie über tiefe Einblicke in das Land und dessen Bevölkerung.

Nein, lautet ihre eindeutige Antwort. Warum die russische Gesellschaft apathisch ist, Nato-Truppen in nicht umkämpfte Gebiete der Ukraine einrücken sollten und Putin nach seinem Ende der Welt aller Wahrscheinlichkeit nach weiter Probleme machen könnte, erklären Dornblüth und Franke im t-online-Interview.

t-online: Frau Dornblüth, Herr Franke, viele Deutsche klammern sich an eine vage Hoffnung: Wenn Putin nur irgendwann abtritt, wird eine friedliche Verständigung mit Russland wieder möglich. Ist da was dran?

Gesine Dornblüth: Das ist ziemlich naiv. Einige russische Exil-Oppositionelle nähren derartige Hoffnungen, weil sie in Russland etwas verändern wollen. Sie behaupten, dass die Russen überwiegend lieber Demokratie und Pluralismus hätten. Dafür gibt es, Stand jetzt, aber keinerlei Anzeichen.

Warum?

Thomas Franke: Die russische Gesellschaft ist durch Diktatur und Gehirnwäsche deformiert – schon seit mehr als hundert Jahren. Die Geschichtsfälschungen gab es schon zu Sowjetzeiten, Putin hat sie seit 15 Jahren massiv verstärkt. Da werden systematisch Opfermythen aufgebaut und Hass auf den Westen geschürt, jegliches kritische Hinterfragen der eigenen Geschichte wird bestraft.

Was macht das mit der russischen Gesellschaft?

Franke: Große Teile der Bevölkerung sind einerseits apathisch, andererseits akzeptieren sie Gewalt. Deshalb wird noch lange nicht alles gut, wenn Putin irgendwann weg ist.

Wie äußert sich die Apathie?

Dornblüth: Das Gefühl, ohnehin nichts verändern zu können, ist beherrschend in der russischen Bevölkerung. Putin hat es aktiv befördert, indem er Wahlen manipulieren ließ. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Eine russische Bekannte erzählte mir schon 2016, dass sie niemanden kenne, der bei den Parlamentswahlen die Kremlpartei Einiges Russland gewählt habe. Trotzdem gewinnen die immer, das könne nur Fälschung sein. So verstärkt sich das Gefühl der eigenen Machtlosigkeit.

Gesine Dornblüth, Jahrgang 1969, ist Hörfunkjournalistin und promovierte Slawistin. Von 2012 bis 2017 war sie für den Deutschlandfunk Korrespondentin in Moskau. Thomas Franke, geboren 1967, ist Journalist, Autor, Regisseur und Produzent. Von 2012 bis 2017 lebte er in Moskau. Zusammen mit Gesine Dornblüth veröffentlichte Franke in diesem Jahr den "Spiegel"-Bestseller "Jenseits von Putin. Russlands toxische Gesellschaft".

Putins Regime hat nicht nur Wahlen gefälscht, sondern auch die russische Zivilgesellschaft sabotiert.

Dornblüth: Das ist ein weiterer Grund für die weitverbreitete Apathie. Die Menschen machen immer wieder die Erfahrung, dass Gewalt und Verbrechen vom Staat nicht geahndet werden. Auf ehrlichem Weg und durch zivilgesellschaftliches Engagement lässt sich entsprechend wenig erreichen. Wenn man gar den Interessen der Obrigkeit in die Quere kommt, bekommt man harte Konsequenzen zu spüren. Deshalb halten sich die meisten Menschen lieber raus. Die Russen haben Angst.

Franke: Das führt zu einer fatalen und gefährlichen Mentalität: Es gibt in Russland kein individuelles Verantwortungsgefühl für kollektives Handeln. Also genau das, was eine freie Bürgergesellschaft und eine Demokratie ausmachen. Wenn hier bei uns in Deutschland die Bundesregierung einen eklatanten Fehler begeht, fühle ich mich als Individuum davon betroffen und zu einem gewissen Maße auch dafür mitverantwortlich, den Fehler zu korrigieren. Das fehlt in Russland komplett, deswegen ist diese Gesellschaft so anfällig. Und, wie wir sehen, auch hochgefährlich.

Woher stammt die Gewaltaffinität in der russischen Gesellschaft?

Dornblüth: Es wird weitgehend akzeptiert, Gewalt als Mittel zur Durchsetzung eigener Interessen einzusetzen. Die Wahrscheinlichkeit, straffrei davonzukommen, ist hoch: Man muss nur die richtigen Leute kennen oder die Behörden bestechen. Das Regime fördert diese Entwicklung. Es hat beispielsweise vor einigen Jahren häusliche Gewalt von einer Straftat zur Ordnungswidrigkeit herabgestuft. Und es lässt zu, dass der Strafvollzug ein Bereich absoluter Rechtlosigkeit ist. Sadisten können sich dort ausleben, sie müssen nach der Misshandlung von Gefangenen keine Strafe fürchten. Ein Drittel der männlichen russischen Bevölkerung hat es bereits mit diesem System zu tun bekommen. Das schüchtert die Menschen ein und brutalisiert sie.

Der Söldnerchef Jewgeni Prigoschin rekrutierte in russischen Gefängnissen und Straflagern Kämpfer für seine Wagner-Miliz.

Dornblüth: Das ist ein gutes Beispiel für den Zustand, in dem sich das russische Justizwesen befindet. Prigoschin warb rechtskräftig verurteilte Straftäter für den Krieg gegen die Ukraine an – mit dem Versprechen, dass ihnen nach sechs Monaten an der Front die gesamte Reststrafe erlassen würde.

Falls sie die Kämpfe in der Ukraine überhaupt überleben sollten.

Dornblüth: Das berührt den dritten Bereich, der zur Verrohung der Gesellschaft beiträgt: die russische Armee. Dort quälen Dienstältere seit jeher die Jüngeren in einem Maß, das hier unvorstellbar ist, und weder Staatsanwälte noch Gerichte ahnden dies. Diese erschütternde Erfahrung prägt die gesamte russische Gesellschaft.

Seit dem Überfall auf die Ukraine haben Hunderttausende Russen ihr Heimatland verlassen. Zugleich hat das Regime die Daumenschrauben weiter angezogen. Sehen Sie nirgendwo Zeichen der Hoffnung?

Franke: Ich bin pessimistisch. Selbstverständlich gibt es einige sehr mutige Menschen wie den Politiker und Dissidenten Wladimir Kara-Mursa. Er sitzt allerdings im Gefängnis und ist offensichtlich lebensbedrohlich krank. Es könnte passieren, dass er in der Haft stirbt.

Was ist mit Alexej Nawalny?

Franke: Ich sehe Nawalny kritisch. Aufgrund seiner nationalistischen Vergangenheit und weil er sich niemals glaubhaft vom russischen Imperialismus distanziert hat. Für den Widerstand gegen das Regime hat er allerdings gute Arbeit geleistet, und seine Behandlung im Straflager ist brutal und menschenverachtend. Darüber hinaus gibt es weitere Menschen, die sich dem Regime nicht beugen wollen. Aber es sind wenige, und sie leben gefährlich. Putin hat die sowjetische Kultur des Denunziantentums wiederbelebt; überall können Spitzel sein.

Dornblüth: Niemand im freien Westen kann heute von Menschen in Russland erwarten, dass diese ihren Protest auf die Straße tragen. Die Strafen sind horrend und willkürlich, das Risiko ist gewaltig. Allein für das Hochhalten eines weißen Blattes Papier kann man festgenommen werden; schon für das bloße Andeuten einer solchen Handlung sind Leute verhaftet worden. Was mir aber zumindest etwas Hoffnung gibt, ist die Existenz unabhängiger russischsprachiger Medien, die vom Ausland aus gute Arbeit leisten.

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Aber reicht das, um etwas zu verändern?

Dornblüth: Es ist ein Anfang. Wir müssen uns bewusst machen, dass jegliche Veränderung in Russland nur von innen kommen kann. Die Exil-Medien schaffen es, in die Gesellschaft hineinzuwirken. Das Portal "verstka" berichtete im Herbst 2022 als Erstes darüber, dass massenhaft neu mobilisierte Soldaten in der Ostukraine gefallen waren. Auf einen Schlag bekam das Portal dadurch 20.000 neue Follower in den sozialen Medien.

Die werden aber wohl nicht alle Regimekritiker sein.

Dornblüth: Es waren auch Angehörige von Soldaten darunter, die einfach objektiv informiert werden wollten. Wenn diese Leute noch nicht komplett von der staatlichen Propaganda verdorben sind, lässt sich vielleicht etwas erreichen. Deswegen ist es für den Westen wichtig, diese unabhängigen Medien zu unterstützen.

Franke: Es geht doch aber nicht darum, dass die Menschen frustriert sind und sich über ihre immer schlechter werdende Situation beklagen. Leute, die Putin für einen Krieg verantwortlich machen, den sie nicht einmal Krieg nennen dürfen, gibt es viele. Die Frage ist doch eher, ob sie dieses aggressive imperialistische Verhalten Russlands infrage stellen. Und ob sie die Schuld reflektieren, die Russland mit dem Krieg auf sich lädt. Und ob sie das mit ihrem eigenen Verhalten und Denken zusammenbringen. Diese Erkenntnis sehe ich fast nirgendwo. Die Zahl derjenigen, die darüber nachdenken, dürfte sehr niedrig sein.

Dornblüth: In Russland gibt es das geflügelte Wort, dass die Leute "Watte im Kopf" haben. Den Russen ist bewusst, dass sie von den Staatsmedien belogen werden und keinen klaren Überblick über die Lage haben. Vor allem versuchen die Menschen aber nicht anzuecken, am besten gar keine Meinung zu haben. Man ist also nicht unbedingt für den Krieg, aber auch nicht unbedingt dagegen. So kann niemand das Falsche sagen.

Sie sehen also in naher Zukunft keinerlei Chance für eine friedliche Verständigung mit Russland?

Franke: Zunächst sollten wir im Westen definieren, was wir unter einem friedlichen Miteinander verstehen und unter welchen Bedingungen wir uns darauf einlassen wollen. Außerdem müssen wir die Vergangenheit aufarbeiten. Seit 1994 führte Russland Krieg in Tschetschenien, 2008 gegen Georgien, später gefolgt von dem Militäreinsatz in Syrien. 2014 eroberte es die Krim und zettelte den Krieg in der Ostukraine an. Und in all diesen Jahren pflegten wir ein sogenanntes "friedliches Miteinander" mit Russland – aber inhaltlich war es leer und verlogen.

Worüber würde es sich nun lohnen zu reden?

Franke: Wir müssen an einem gemeinsamen Bild der Vergangenheit arbeiten. Die Menschen in Russland haben keine Ahnung, wie der Zweite Weltkrieg wirklich abgelaufen ist. Sie wissen, dass Deutschland nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 schreckliche Verbrechen begangen hat. Aber sie wissen nicht, dass die Rote Armee 1939 in Polen einfiel, um das Land gemäß dem Hitler-Stalin-Pakt aufzuteilen. Die Leute bekommen von klein auf ein selektives Geschichtsbild eingetrichtert. Deshalb glauben nun auch viele die Lüge, dass in Kiew "Nazis" säßen, die vom Westen ferngesteuert würden.

Franke: Vor allem sollten die Europäer endlich selbstbewusster auftreten und konsequent handeln. Wer gegen die Spielregeln verstößt, ist eben raus. Anders als 2008 beim russischen Krieg gegen Georgien, als die Aufregung im Westen zunächst groß war, dann aber weitergemacht wurde, als wäre nichts gewesen. Wir haben gesehen, wohin dieses Verhalten führt: in die Katastrophe.

Dieses Denken aus den Köpfen zu tilgen, wird lange Zeit brauchen.

Franke: Aber nur so wird eine Wiederannäherung mit Russland gelingen. Die Menschen dort dürfen nicht einfach schulterzuckend sagen: "Politik ist Politik, da können wir sowieso nichts machen." Nein, sie müssen als Bürger und Wähler aktiv Verantwortung dafür übernehmen, was ihre Politiker anstellen. Sonst wird kein friedliches Miteinander möglich sein.

Könnte eine russische Niederlage in der Ukraine solche Veränderungen einleiten?

Dornblüth: Es wird keine Reformen, geschweige denn eine Demokratie geben, solange Russland nicht eine Niederlage erfährt, die es auch deutlich als solche empfindet. Russland muss militärisch verlieren. Bis dahin sollten Deutschland und die Europäische Union die Diskussion mit den reformorientierten Kräften außerhalb Russlands führen und diese Leute nach Kräften unterstützen.

Allzu selbstbewusst ist man zumindest in der Bundesregierung nicht. Das Kanzleramt schielt bei jeder Waffenlieferung an die Ukraine auf den Kreml, weil es fürchtet, dass Putin den Konflikt weiter eskaliert.

Franke: Wir lassen Putin weiterhin die Spielregeln bestimmen. Das ist das Hauptproblem in diesem Konflikt. Ich sage Ihnen etwas: Wären Nato-Truppen einen Tag nach dem russischen Überfall auf Einladung Kiews in die West-Ukraine einmarschiert, wäre der Krieg sehr wahrscheinlich sofort zu Ende gewesen. Putin scheut die direkte Auseinandersetzung mit der Nato. Sein Regime besteht aus Feiglingen.

Es ist aber anders gekommen.

Franke: Es ist noch nicht zu spät, die Nato-Staaten könnten viel mehr tun. Sie müssen nun in die Offensive gehen und die russische Regierung vor sich hertreiben. Dann könnte die Ukraine das besetzte Territorium schneller zurückerobern.

Dornblüth: Die Ukraine muss mit allen Mitteln unterstützt werden, die nur irgendwie mobilisiert werden können. Zum einen militärische wie Taurus-Marschflugkörper, Kampfjets und weitreichende Waffensysteme. Zum anderen diplomatische wie der Versuch, mehr Staaten einzubinden, die sich bislang neutral verhalten oder gar zu Russland halten. Es ist falsch, sich von der Angst leiten zu lassen, dass Putin den Konflikt eskalieren könnte. Das tut er doch schon längst! Putin versteht nur Stärke, er wird jede Schwäche ausnutzen.

Franke: Nato-Truppen sollten schnellstmöglich in jene ukrainischen Gebiete einrücken, in denen nicht gekämpft wird. So kann der Krieg schnell gestoppt werden. Gleichzeitig sollte die Nato den ukrainischen Luftraum sperren.

Fürchten Sie denn keine atomare Eskalation zwischen Russland und der Nato?

Franke: Das Risiko scheint mir sehr gering. Es wäre auch Russlands Ende. Und bisher zeigt sich, dass dieses Regime feige ist. Es vergreift sich nur an Schwächeren, an Staaten, die keine Atomwaffen haben. Im Kreml weiß man, dass man der Nato hoffnungslos unterlegen ist. Man wird schnell klein beigeben. Putin muss bereits in Nordkorea Munition für veraltetes Kriegsgerät kaufen.

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Was würde passieren, falls Putin stirbt oder die Macht verliert?

Dornblüth: Es ist wie bei der Mafia: Wenn der Pate abtritt, gibt es ein Hauen und Stechen. Die Gewalt innerhalb des Regimes und in der Gesellschaft würde zunächst wohl zunehmen. Es gibt mehr als ein Dutzend bewaffnete Gruppen, die teils mächtigen Oligarchen unterstehen. Auch Ramsan Kadyrow aus Tschetschenien hat viele Männer unter Waffen. Der Staat hat sein Gewaltmonopol quasi aufgegeben. Das macht die Lage so gefährlich.

Franke: Hinzu kommt Putins gefährliches Vermächtnis: die Jugendarmee Junarmija. Das sind mehr als eine Million junge Menschen, überwiegend bewaffnet und einer Gehirnwäsche unterzogen. Sie sind gewaltbereit und pflegen einen Todeskult, die Älteren kämpfen bereits in der Ukraine. Das russische Mafiaregime wird den Frieden in Europa noch viele Jahre lang bedrohen.

Das klingt wirklich düster.

Franke: Wir müssen endlich der Realität ins Auge blicken, statt uns weiter selbst etwas vorzugaukeln. Nur dann gibt es irgendwann die Chance für ein wie auch immer geartetes friedliches Zusammenleben mit Russland.

Frau Dornblüth, Herr Franke, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Gesine Dornblüth und Thomas Franke via Videokonferenz
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