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Numerus-Clausus-Urteil: "Die Gesamtproblematik wird dadurch nicht abgeräumt"


Numerus-Clausus-Urteil
"Jedes Auswahlverfahren produziert Auswüchse und Grotesken"

Ein Interview von Stefan Rook

19.12.2017Lesedauer: 5 Min.
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Medizinstudenten beobachten eine Operation in der Martin Luther Universität in Halle.Vergrößern des Bildes
Medizinstudenten beobachten eine Operation in der Martin Luther Universität in Halle. (Quelle: Carsten Koall/Getty Images)

Das Zulassungsverfahren für Medizinstudenten muss neu geregelt werden: Das bisherige System verletzt die Chancengleichheit der Studierenden und ist in einigen Bereichen mit dem Grundgesetz unvereinbar, entschied das Bundesverfassungsgericht.

Was bedeutet das für die Zukunft des Medizin-Studiums? Wir haben mit dem 2. Vorsitzenden des Ärzteverbandes Marburger Bund, Dr. Andreas Botzlar, über die Folgen des Karlsruher Urteils gesprochen.

Begrüßt der Marburger Bund die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts?

Dr. Andreas Botzlar: Es gibt nie oder nur ganz selten Dinge, bei denen man sagt, das ist zu einhundert Prozent gut oder schlecht. Von der Gesamttendenz begrüßen wir das Urteil sehr.

Aber?

Natürlich gibt es ein paar Dinge, die wir uns noch schöner vorstellen könnten. Das Gericht hat aber die Überbetonung der Abiturnote im Auswahlverfahren der Hochschulen kassiert. Bisher können ja die Universitäten 60 Prozent der Studienplätze selbst vergeben. Da scheuen viele den Aufwand, etwas zu verändern und verwenden mehr oder weniger automatisierte Verfahren, die nicht viel anderes machen, als die Abiturnote durch Bonusfaktoren wie zum Beispiel Vorkenntniserwerb um ein paar Zehntel rauf- oder runterzuschrauben. Das war es dann im Großen und Ganzen auch schon.

Das heißt?

Das bedeutet, dass nicht nur bei dem Teil der Studienplätze, die tatsächlich allein über die Abiturnote vergeben werden, sondern auch bei den anderen 60 Prozent, die eigentlich über ein Auswahlverfahren vergeben werden sollen, die Abiturnote die zentrale Rolle spielt.
Natürlich ist es nicht so – wie es in Anekdoten oft heißt: großer Arzt, schlecht in der Schule – dass man sagen kann, dass die schlechten Schüler später die guten Ärzte sind oder die, die wir jetzt haben, die alle gute Schüler waren, schlechte Ärzte sind. Aber die Abiturnote ist eben nicht das einzige Kriterium, nach dem man vorgehen sollte.

Was würden Sie sagen, macht neben der Abiturnote einen guten Mediziner aus?

Das gibt es sicherlich verschiedene Faktoren: Beispielsweise Empathie-Fähigkeit und Sozial-Kompetenz. Hinsichtlich der Studienplatzvergabe auch medizinische Vorkenntnisse aus anderen Gesundheitsberufen, soziales Engagement – letztendlich Kommunikationsfähigkeit. Medizin hat sehr viel mit der Interaktion mit anderen Menschen zu tun. Das wissenschaftliche und technische Wissen ist das eine, aber man muss auch mit den Patienten reden, um herauszufinden, was sie haben und die Theorie an die Frau oder den Mann bringen. Die meisten Behandlungskonzepte leben davon, dass der Patient mitmacht. Das dürften die Kerneigenschaften sein, die man als Ärztin oder Arzt – zumindest wenn man den Beruf so ausübt, dass man mit Patienten Kontakt hat – mitbringen sollte.

Ein weiteres Problem ist, dass man eine sehr gute Abiturnote in vollkommen medizinfremden Fächern machen kann. Müsste da nicht anders auf die Schulleistungen geschaut werden?

Auch darauf wurde durch das Urteil der Blick gelenkt. Das ist etwas, was im Konzert der föderalen Bildungspolitik ein Misston ist, der nicht so gerne wahrgenommen wird: Dass die Abiture in ihrer Schwierigkeit und Wertigkeit sehr viel unterschiedlicher sind, als man es wahrhaben mag. Das fängt damit an, dass je nach Bundesland der Fächerkanon und die Pflichtfächer unterschiedlich geregelt sind. Dann gibt es Länder mit und ohne Zentralabitur und auch da verschiedenste Prüfungsverfahren. Es gibt Regeln, die das berücksichtigen, doch dabei wird der Kandidat nur mit seinem Landesdurchschnitt verglichen und das wird der Sache bei weitem nicht gerecht.
Es könnte sein, dass sich die Kultusminister über den Pfad Medizinstudienplatzvergabe mehr als bisher mit der Frage auseinandersetzen müssen, wie gleichwertig oder ungleichwertig die Abiturprüfungen in den verschiedenen Bundesländern tatsächlich sind.

In dem Urteil geht es ja auch um die Wartezeiten für ein Medizinstudium. Was sind aus Ihrer Sicht zumutbare Wartezeiten? Haben Sie da eine Zahl?

Die genaue Zahl hat noch keiner. Die Richter haben gesagt, die Wartezeit muss „angemessen“ sein und darf vier Jahre auf keinen Fall überschreiten. Es scheint jedenfalls unangemessen, wenn die Wartezeit länger ist als die Regelstudienzeit. Ob man dann sagen wird zwei Drittel, die Hälfte, ein Drittel: Das ist die Kunst der Exegese der Juristen. Natürlich wird man versuchen, weiter eine möglichst lange Wartezeit als verfassungskonform in den neuen Regelungen durchzubekommen. Je mehr man das auswalzt, desto größer ist jedoch die Gefahr, dass das Gericht das danach auch wieder kassiert.
Was aber alle diese Regelungsmechanismen in gleicher Weise betrifft, ist ein ganz anderer Umstand. Wir haben eine Studienplatzkapazität wie in der Alt-Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung. Rein rechnerisch sind die rund 6000 Studienplätze, die es in den neuen Bundesländern zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung gegeben hat, durch den Rost gefallen. Wir haben ein extremes Missverhältnis von Bewerbern und Studienplätze und interessanterweise hinterher zu wenig Absolventen. Stichwort Ärztemangel, den es ja nicht erst seit gestern gibt und der sich noch weiter verstärken wird, wenn man auf die Bevölkerungsentwicklung schaut. Daher ist es längst geboten zu tun, was wir als Marburger Bund schon lange fordern, nämlich die Studienplatzanzahl um mindestens zehn Prozent zu vergrößern. Wann man dies täte, wäre das Missverhältnis zwischen Bewerbern und Plätzen nicht so riesig. Solange das aber so riesig bleibt, wird am Ende wahrscheinlich jedes Auswahlverfahren Auswüchse und Grotesken produzieren.

Was glauben Sie, wie es nach dem Urteil weitergeht? Was erwarten sie von Gesetzgebern und Universitäten?

Am besten wäre es, wenn man die verschiedenen Auswahlquoten zusammenführen würde. Abiturbestennote und die Auswahl durch die Hochschulen sollten zwei Hauptkomponenten sein, aus denen sich ein Rangplatz oder eine Bewertungsgröße ergibt. Das hat das Bundesverfassungsgericht zwar nicht zwingend so vorgegeben, wir brauchen aber wesentlich transparentere und gleichartig organisierte Auswahlverfahren an den Universitäten. Wie das dort gehandhabt wird, ist teilweise völlig willkürlich, höchst unterschiedlich und höchst unterschiedlich präzise hinsichtlich der sonstigen Eignungen. Da muss sich etwas tun und da könnte der Bund als Rahmengeber für die Hochschulen etwas vorgeben. Wie gesagt, eine Studienplatzvermehrung würde mit helfen, das Problem zu lösen. Das ist neben der Modulation der Auswahlverfahren ein Teil einer Reform und Verbesserung, die wir nötig haben.

Das Wichtige ist ja, dass wir mehr ausgebildete Mediziner brauchen. Blickt der Marburger Bund nach dem Urteil etwas optimistischer in die Zukunft?

Das Urteil ist in jedem Fall sehr hilfreich und ein Schritt in die richtige Richtung. Aber die Gesamtproblematik wird nicht allein dadurch abgeräumt, dass man das Auswahlverfahren ändert. Das ist ein wichtiger Baustein, aber ein anderer wichtiger Baustein ist die Anzahl der Studienplätze.

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