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Das politische Jahr 2017: Die Sehnsucht nach dem Neustart


Neue politische Welten
Nach diesem Jahr ist vieles anders


Aktualisiert am 27.12.2017Lesedauer: 5 Min.
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FDP-Chef Christian Lindner: Er färbte die FDP neu.Vergrößern des Bildes
FDP-Chef Christian Lindner: Er färbte die FDP neu. (Quelle: Michael Kappeler/dpa)

Sondierungen: gescheitert. Merkel: angezählt. Die Grünen: auf dem Weg zur Revolution. Dieses Jahr hat viel verändert. Und das letzte Wort hat jemand, der alle überraschte.

Dieser Artikel ist Teil unseres Jahresrückblicks. Hier finden Sie alle unsere Jahresrückblicke und Ausblicke auf 2018.

Die beiden Politiker, die einem am meisten über die deutsche Politik 2017 erzählen, sind ein Franzose und ein Österreicher. Emmanuel Macron und Sebastian Kurz haben die politischen Systeme ihrer Länder durcheinandergewirbelt und Linken wie Rechten den Kopf verdreht. Auch in Deutschland.

Sie verkörpern die Sehnsüchte, die dieses Jahr der Polit-Romantik geprägt haben. Die Sehnsucht nach Differenz, die nur eine Variante der großen Sehnsucht des Jahres ist: der nach Veränderung.

Ohne diese Sehnsüchte zu verstehen, lässt sich die deutsche Politik 2017 nicht begreifen: Nicht der Erfolg der AfD. Nicht der steile Aufstieg und steilere Absturz der SPD. Nicht die Wiedergeburt der FDP, nicht der Streit in der Union, nicht die sich anbahnende Revolution bei den Grünen. Und vor allem nicht die historisch komplizierte Regierungsbildung.

Die Welt liegt in Trümmern

Eine Bundestagswahl und drei Landtagswahlen waren für das Jahr 2017 angesetzt und die verbreitete Haltung lautete: Der Wahlkampf würde langweilen. Asymmetrische Demobilisierung durch die Union würde auf die uninspirierte Kampagne einer zusammengeschrumpften SPD treffen, mit dem unbeliebten Sigmar Gabriel an der Spitze. Am Ende gewänne Merkel. Alles wie immer, also.

Dabei schien im Rest der Welt gar nichts mehr wie immer: Donald Trump wurde als US-Präsident vereidigt. Die Welt, wie wir sie kannten, schien in Trümmern zu liegen. Immerhin stand noch eine Präsidentschaftswahl in Frankreich an und die rechtsextreme Marine Le Pen hatte Chancen, zu gewinnen. Mit der AfD wurde eine Partei stärker, deren Spitzen immer wieder Grenzen überschritten, bis hin zum Lob der Wehrmacht durch Alexander Gauland.

Die alte Politik hatte hierhin geführt – eine neue Politik schien notwendig.

Hoffen auf die Wiederkehr der Volkspartei

In diese Stimmung hinein verkündete Gabriel, er werde auf die Kanzlerkandidatur verzichten. Martin Schulz solle Parteichef werden und Kanzlerkandidat. Da stand die SPD in Umfragen gerade bei etwa 21 Prozent.

Schon nach der Wahl Trumps hatten sich auffällig viele Menschen entschieden, in die SPD einzutreten, um die repräsentative Demokratie zu stärken. Als nach der Nominierung von Schulz die Umfragewerte der SPD leicht stiegen, lancierte die Partei geschickt die Nachricht, sie verzeichne wieder Rekord-Eintritte. Mit dem Ergebnis, dass die Umfragen weiter stiegen und noch mehr Neumitglieder beitraten. Der Schulz-Hype war geboren.

Getrieben war er von der Angst vor Trump, Le Pen und der AfD, aber auch von der Sehnsucht nach einer Alternative: zur Union, zu Merkel, zur großen Koalition, zur vermuteten Langeweile der Bundestagswahl. War es möglich, dass die Volkspartei zurückkehrt?

Erst als die Angst vor den Rechten nachließ, weil Marine Le Pen die Präsidentschaftswahl gegen Emmanuel Macron verlor, und als Schulz vom Hoffnungsträger zum bekannten Wahlkämpfer geschrumpft war, begannen die Umfragewerte der SPD zu sinken. Jeder verlorene Prozentpunkt weckte Zweifel, dass die SPD eine Machtalternative bot.

Der vereinigende Anpacker steigt auf

Mit Macron war aber ein neues Modell aufgestiegen: der moderne Macher. Charismatisch, unideologisch, zentristisch. Jemand, der die alten Parteistrukturen überwand, der die Sozialdemokratie irrelevant machte und seine eigene Partei begründete, die er als Bewegung verkaufte: nach ihm benannt und auf ihn zugeschnitten wie seine Anzüge.

Er wurde zur Chiffre für moderne Politik. Zur Projektionsfläche von Hoffnung und Kritik. Die Sehnsucht nach einem Neuanfang wurde plötzlich nicht mehr nur von Angst getrieben, sondern von einer Verheißung.

In Österreich schaute sich Sebastian Kurz seinen Teil ab: Er übernahm die konservative Volkspartei, ließ sich zum Parteichef wählen und freie Hand zusichern. So machte er aus der schwarzen ÖVP die türkisfarbene Liste Sebastian Kurz. Zur selben Zeit begann die neue Partei, in den Umfragen zu steigen. Im Herbst gewann Kurz die Nationalratswahl.

Inhaltlich blieb er auf Kurs: Er wollte der rechtsextremen FPÖ durch Kritik an Einwanderung Wähler abspenstig machen. Irgendwann spotteten Medien, egal was man Kurz frage, er spreche immer über Migration.

In Deutschland registrierte man genau, was in den Nachbarländern passierte. Vor allem in der Union, bei der FDP und bei den Grünen.

Eine Kopie, zwei Kopien, drei Kopien

Kurz Erfolg bestärkte die Anti-Merkelianer in der Union in ihrem Bemühen, die Unions-interne Opposition zu geben. Irgendetwas musste sich ändern und vor allem nach Wandel aussehen. Tatsächlich hatte Merkel die Flüchtlingspolitik ja schon extrem verschärft. Am Ende des Jahres kürte die CSU Markus Söder zum kommenden bayerischen Ministerpräsidenten. Nicht aus inhaltlichen Gründen, sondern vor allem, um etwas anders zu machen.

Christian Lindner verpasste der FDP neue Farben, sprach nur noch von „Freien Demokraten“ und kaum noch von „Liberalen“, ließ sich selbst in schwarz-weiß auf Plakate drucken und verkaufte die Botschaft, er habe sich und die Partei ganz neu aufgestellt. Politische Coming-of-Age-Biographie inklusive.

Bei der Bundestagswahl kam die FDP aus der außerparlamentarischen Opposition auf mehr als 10 Prozent. Eine glückliche Fügung half dabei: Im Frühjahr fanden Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein statt. Dort führen Lindner und Wolfgang Kubicki die Partei an – die beiden einzigen bundesweit bekannten liberalen Politiker. Ihre Wahlerfolge bereiteten das Comeback in Berlin vor.

Die Grünen schließlich reagierten auf das Gefühl, etwas verändern zu müssen, mit einer Urwahl der Spitzenkandidaten. Das Ergebnis: Gegen die übliche Flügel-Arithmetik führten mit Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir zwei Realos den Wahlkampf an.

Nach der Wahl bringt sich nun Robert Habeck als neuer Parteichef in Stellung. Ein charismatischer Quereinsteiger, der ankündigte, die Flügel-Logik überwinden zu wollen. Eine selbst-erklärt post-ideologische Realo-Doppelspitze mit Annalena Baerbock scheint möglich. Habecks Plan? Die Grünen zu einer “attraktiven Bewegungspartei” machen. Klingt sehr nach: Macron und Kurz.

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Besser nicht regieren, als falsch

Die Sehnsucht nach Veränderung verhinderte schließlich sogar, dass sich eine Regierung bildete: Zum ersten Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte verhielten sich Parteien so, als sei es eine Last, regieren zu müssen. Die SPD beeilte sich, sich in die Opposition zu erklären, um die Möglichkeit zu bekommen, sich von der Union abzugrenzen. Nur nicht noch eine Große Koalition! Die SPD, so die Befürchtung, würde weiter schrumpfen. Deshalb: Mach kaputt, was dich kaputt macht!

Eine Mehrheit der Deutschen goutierte diesen Schritt. Eine neue, ungewöhnliche und damit aufregende Alternative stand bereit: Die Jamaika-Koalition aus Union, FDP und Grünen. Die war schon deshalb attraktiv, weil sie nicht die Große Koalition ist.

Doch die FDP ließ die Gespräche scheitern und alles lief auf eine Große Koalition zu. Plötzlich wurden auch abseitige Alternativen debattiert: Eine Minderheitsregierung? Die würde, meinten viele, das Parlament revitalisieren – als sei es ausgemacht, dass es überhaupt wiederbelebt werden muss.

Über Neuwahlen wurde ganz beiläufig gesprochen. Ungeachtet des Aufwands, der Kosten, der demokratietheoretischen Probleme. Selbst die Variante, die geschäftsführende Regierung als informelle Große Koalition für ein Jahr im Amt zu lassen, wurde auf dem SPD-Parteitag von Delegierten diskutiert. Selbst eine Rumpfregierung, die keine neuen Projekte mehr anstößt, verlockte mehr als die Aussicht auf mehr vom selben.

Lieber nicht regieren, als so wie bisher?

Das letzte Wort spricht der Anti-Macron

Dass die Große Koalition nun trotzdem wahrscheinlich ist, liegt vor allem an einem Mann: dem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier. Zu Beginn des politischen Jahres wurde er gewählt und dann entweder vergessen oder dafür kritisiert, dass er sich zu wenig einbringe. Ein Mann, dem man eher zutraute, sich nach einer Partei zu benennen als eine Partei nach sich. Ein Anti-Macron.

Und doch derjenige, der im Macron-Kurz-Neustart-Jahr das letzte Wort sprach. Noch vor seiner Weihnachtsansprache.

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