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München: Zugunglück in Schäftlarn – so verlief der erste Prozesstag


51 Verletzte bei S-Bahn-Kollision
"Da kommt mir der Zug entgegen, scheiße!"


19.02.2024Lesedauer: 5 Min.
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S-BahnunfallVergrößern des Bildes
Die Unfallstelle in der Nähe des Bahnhofs Ebenhausen-Schäftlarn im Februar 2022 (Archivbild). (Quelle: Matthias Balk/dpa/dpa)

Am Valentinstag vor zwei Jahren kollidierten zwei S-Bahnen auf der Höhe des Bahnhofs Ebenhausen-Schäftlarn. Der Angeklagte kann sich bis heute nicht an den Tag erinnern.

Es ist eine Gerichtsverhandlung, die unter die Haut geht. Auf der Anklagebank sitzt ein 56-Jähriger, der heute als Postbote tätig ist. Vor zwei Jahren war er noch als Triebwagenfahrer bei der Deutschen Bahn tätig. Es sei sein Kindheitstraum gewesen, einmal als Lokführer zu arbeiten, erzählt er der Richterin Nesrin Reichle vor dem Amtsgericht in München am Montagvormittag beim Prozessauftakt.

Einen anderen Traum hatte ein junger Afghane: Er wollte in Deutschland seinen Schulabschluss machen und studieren. Doch dazu kam es nie. Denn am 14. Februar 2022 saß der junge Mann in der S 7 nach München. Bei dem Zusammenstoß zweier S-Bahnen am Valentinstag 2022 gegen 16.35 Uhr mitten im Berufsverkehr kam der 24 Jahre alte Fahrgast ums Leben. Dutzende Menschen wurden teils schwer verletzt, darunter auch der angeklagte Triebfahrzeugführer und sein Kollege aus der entgegenkommenden S-Bahn.

Anklage: Vorsätzliche Gefährdung des Bahnverkehrs

Zwei Jahre nach dem Unglück in Schäftlarn muss sich der Triebwagenführer vor Gericht verantworten. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Mann neben fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung auch vorsätzliche Gefährdung des Bahnverkehrs vor. Der S-Bahn-Triebwagenführer hatte den Ermittlungen zufolge Signale missachtet. Warum, das bleibt auch nach dem ersten Prozesstag rätselhaft.

"Er war kurz vor dem Realschulabschluss", sagt die Frau im Zeugenstand, die einst die Betreuerin des jungen Mannes aus Afghanistan war. Am Sonntag vor dem schrecklichen Unfall habe sie noch mit ihm telefoniert und Pläne gemacht, wann sie sich das nächste Mal sehen würden. Am Tag des Unglücks hörte sie zufällig im Radio von dem schrecklichen Ereignis. "Ich habe sofort versucht, ihn zu erreichen." Aber da war er längst tot. Die Polizeibeamten konnten ihn nur noch aus den Trümmern hinter dem Fahrerhaus im ersten Wagon bergen, so eine Beamtin vor Gericht.

Angeklagter: "Es tut mir so leid"

Nachdem die Betreuerin des Verstorbenen aus dem Zeugenstand entlassen wurde, will der Angeklagte ihr sein Beileid ausdrücken. Weil die Mutter sowie die beiden Geschwister des jungen Mannes noch immer in Afghanistan leben, ist sie die einzige Verbindung zu ihm. Doch die Stimme des Angeklagten ist tränenerstickt, nur schwer versteht man, was er unter Schluchzern hervorbringt: "Es tut mir so leid."

Was in den Minuten vor dem Unfall am 14. Februar 2022 gegen 16.30 Uhr passiert ist, daran kann sich der 56-Jährige bis heute nicht erinnern. Er weiß nur noch, dass er sich in seiner Pause am Ostbahnhof eine Brezel kaufte und diese dann am Bahnhof in Wolfratshausen gegessen hat. Der Führer der anderen S-Bahn, Simon S., erinnert sich noch daran, wie er die S-Bahn auf sich zufahren sah und zum Fahrdienstleiter per Funk sagte: "Da kommt mir der Zug entgegen, scheiße!"

Es war eine ganz normale Schicht

In der Verhandlung vor dem Amtsgericht München sind an diesem Mittwoch weitere Zeugen geladen. Sie sollen helfen, das Puzzle, das der Angeklagte selbst nicht mehr rekonstruieren kann, Stück für Stück zusammenzusetzen. Simon S. war der zweite Triebfahrzeugführer am 14. Februar 2022. Die Schicht sei damals "völlig ohne Vorkommnisse" gewesen. Zumindest zu Beginn. Es waren zehn Minuten Verspätung, die ihm letztendlich zum Verhängnis wurden.

Am Ostbahnhof habe Simon S. bereits drei Minuten Verspätung gehabt. Wegen eines Haltes auf der Strecke kamen sieben weitere dazu. Dadurch wurde die Zugkreuzung, die normalerweise am S-Bahnhof Icking stattfindet, auf den S-Bahnhof Ebenhausen-Schäftlarn verlegt. Beiden Fahrern war bekannt, dass die Strecke nach dem S-Bahnhof Ebenhausen-Schäftlarn nach München eingleisig ist. Hier hätte der Angeklagte stehen bleiben und warten müssen. Stattdessen fuhr er weiter.

14 Knochenbrüche und drei OPs

Trotz mehrerer automatisch ausgelöster Zwangsbremsungen, die der Angeklagte erkannt und selbstständig aufgehoben hatte, fuhr er mit seiner S-Bahn an den "Halt" zeigenden Signalen vorbei. Sein Kollege Simon S. erhielt ebenfalls das "Halt-Signal" und brachte seine S-Bahn zum Stehen. Nur ein paar Sekunden später habe er dann den Zug auf sich zufahren sehen, wie er vor Gericht aussagte. Der Angeklagte versuchte zu diesem Zeitpunkt noch, seine mit 67 km/h schnelle S-Bahn mit einer Schnellbremsung zu stoppen. Am Ende konnte er sich gerade so aus der Führerkabine retten und dem Tod ganz knapp entkommen.

Auch Simon S. hat die Kollision überlebt. "Ich hatte großes Glück", sagt er zu Richterin Nesrin Reichle. Trotz seiner 14 Knochenbrüche und drei OPs gehe es ihm heute wieder gut. Alles sei verheilt, nur ein leicht krummer Finger erinnere ihn noch an den Unfall. Rund fünf Monate war er danach krankgeschrieben. Heute arbeitet er nur noch in Teilzeit bei der Bahn. Nebenbei studiert er. Er wolle sich eine Alternative aufbauen. Auch bei seinem Kollegen entschuldigt der Angeklagte sich unter Tränen. Der antwortet beim Verlassen des Gerichtssaals: "Ich bin mir sicher, du hast es nicht absichtlich gemacht."

51 Fahrgäste wurden bei dem Aufprall verletzt

51 weitere Fahrgäste wurden bei dem Zusammenprall leicht bis schwer verletzt. Laut Angaben einer Polizeibeamtin vor Gericht spreche man dann von Schwerverletzten, wenn sie länger als 24 Stunden stationär aufgenommen wurden. Die Liste ihrer Verletzungen in der Anklageschrift der Staatsanwältin ist lang: Prellungen, Hämatome, Schleudertraumata, Frakturen, Platzwunden und Schnittwunden sind darunter. Auch der Angeklagte selbst hat sich einige Verletzungen zugezogen.

"Mir hat von Kopf bis Fuß alles weh getan", sagt der Angeklagte zur Richterin, als sie ihn fragt, wie es ihm nach dem Unfall ging. Seine Hüfte war gebrochen, sein Körper voller Hämatome und Prellungen. Vier Wochen nach dem Unfall war er stationär in einer psychosomatischen Klinik. Danach suchte er sich einen Psychotherapeuten, nimmt Psychopharmaka. Bis heute leide der Angeklagte unter Konzentrationsstörungen.

"Für mich war er ein Musterschüler"

Immer wieder beteuert er vor Gericht, dass er sich nicht erklären könne, was an diesem Tag passiert sei. Nach den Befragungen der Zeugen, darunter ein Fahrdienstleiter sowie der Teamleiter des Angeklagten, wird deutlich: Der Angeklagte hätte sich nicht einfach über die Gefahrenbremsung hinwegsetzen, sondern den Fahrdienstleiter kontaktieren sollen. Laut Angaben des Angeklagten habe er jedoch Hemmungen gehabt, dies zu tun.

Auffällig geworden sei der Angeklagte zuvor nie. "Es war eine Bilderbuchausbildung", sagt sein Ausbildungsleiter über den Quereinsteiger, der zuvor im Metallgewerbe tätig war. "Er war einer der Klassenbesten und unter den Top 3", sagt der Zeuge weiter aus. "Für mich war er ein Musterschüler."

Schaden in Höhe von 7 Millionen Euro

Für den Angeklagten war es sein Traumjob. "Es gibt nichts Schöneres, als mit der S-Bahn zu fahren und die Stadt aufwachen zu sehen", sagt er voller Leidenschaft vor Gericht aus. Doch nur knapp ein Jahr nach seiner Ausbildung kam es zur Kollision. Insgesamt entstand dabei ein Schaden in Höhe von geschätzten sieben Millionen Euro.

Laut Anklage der Staatsanwaltschaft hat sich der 56-Jährige der vorsätzlichen Gefährdung des Bahnverkehrs, der fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Körperverletzung strafbar gemacht. Die Verhandlung wird am Mittwoch, dem 21. Februar, fortgesetzt. Ein Urteil wird für den 7. März erwartet.

Verwendete Quellen
  • Reporter vor Ort
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