Musik Von wegen Depri: Aimee Mann gut drauf in Berlin
Berlin (dpa) - Aimee Mann zählt zu den besten Songwriterinnen der Welt. Punkt. Sie hat in ihren Texten das komplizierte Gefühls- und Seelenleben der Intellektuellen und der Mittelschicht in den USA so intensiv seziert wie kaum ein anderer Popmusiker.
Aber Fröhlichkeit, Lockerheit und (Selbst-)Ironie würde man dieser großen Künstlerin wohl eher nicht unterstellen. Und doch schafft sie genau das bei ihrem proppevoll ausverkauften Berlin-Gig am Montagabend im Kesselhaus der Berliner Kulturbrauerei - Aimee Mann ist fröhlich, locker und (selbst-)ironisch.
Die Überraschung beginnt schon mit dem Support-Act der 2017er Tournee zum neuen Mann-Album "Mental Illness", einem der stärksten und schönsten ihrer 30-jährigen Karriere.
Beim Auftritt des wuschelköpfigen, zwischen seinen Liedern mit Handy-Unterstützung lässig Deutsch parlierenden Songwriters Jonathan Coulton steht Mann plötzlich auf der Bühne und singt mit. Auch wenn sie ihre Wertschätzung für Coulton schon öfter geäußert hat und er seine (übrigens ebenfalls hervorragende) Musik auf ihrem Label SuperEgo veröffentlichen darf - diese Duette sind keine Selbstverständlichkeit, und Aimee Manns warmherzige Bescheidenheit ist es auch nicht.
Coulton spielt dann auch beim Konzert der in ihrem bronzefarbenen Mini-Kleid immer noch sehr mädchenhaft wirkenden 57-jährigen Sängerin eine größere Gastrolle, zumal er einige "Mental Illness"-Lieder mitverfasst hat. Manns knapp 90-minütiger Auftritt ist eine Art Kurzfestival des anmutigen, edlen Songs in der Traditionslinie Beatles/Byrds/Kinks/Elvis Costello - wunderbar klischeefreie Melodien ummanteln kluge Worte, ihre dunkle Stimme ist ohnehin mit keiner anderen in der Singer-Songwriter-Szene vergleichbar.
"Viele neue langsame, traurige, deprimierende Lieder" werde sie spielen, "und davor ein paar alte langsame, traurige, deprimierende Lieder", kündigt Aimee Mann an - und kichert dabei. Ja, elegische Balladen und hochsensible Midtempo-Songs wie das grandiose Filmlied "Wise Up" (aus "Magnolia") oder das Oscar-nominierte "Save Me" sind ihr Fach, und manchmal wünscht man sich im Laufe des Abends etwas mehr Abwechslung. Was gegen Ende des Konzerts dann auch passiert, als Mann ihrer dreiköpfigen Band um den Getreuen Paul Bryan - und sich selbst - bei einigen rockigeren Stücken die Zügel freigibt.
Aimee Mann erzählt einiges über ihre Lieder, und sie tut es mit viel Humor. Die aufgeräumte Stimmung auf der Bühne und im Publikum kulminiert in der letzten Zugabe: Mann und Coulton stimmen ein "Auf Wiederseh'n" der Berliner Comedian Harmonists an - auf Deutsch natürlich und unter dem euphorischen Jubel der rund 1000 Fans.
Von wegen, diese Frau sei zu kühl, zu schlau, zu desillusioniert, um auf der Bühne so richtig frohgelaunt und "gut drauf" zu sein. Am Sonntagabend hatte bereits der 60-jährige Nick Cave mit den Bad Seeds bei einem extreme Nähe zum Publikum suchenden Auftritt in der Berliner Max-Schmeling-Halle sein Düstermann-Image grandios unterlaufen - musikalisch ganz anders und stimmungstechnisch doch ähnlich. Nun beweist also Aimee Mann, dass sie viel mehr ist als die Depri-Sängerin aus den so gar nicht Vereinigten Staaten. Beide bringen ihre Fans noch zum Staunen.