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101-Jährige aus Charkiw: Erst Krankenschwester an Sowjetfront – jetzt auf der Flucht


101-Jährige aus Charkiw
Erst Krankenschwester an der Sowjetfront – jetzt auf der Flucht

Von Marie Illner

Aktualisiert am 25.04.2022Lesedauer: 3 Min.
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Die 101-jährige Tamara Butenko: Sie ist derzeit in Mülheim untergekommen.Vergrößern des Bildes
Die 101-jährige Tamara Butenko: Sie ist derzeit in Mülheim untergekommen. (Quelle: privat)

Tamara Butenko floh mit 100 Jahren aus der Ukraine nach Mülheim an der Ruhr. Krieg ist für sie keine neue Erfahrung: Schon im Zweiten Weltkrieg arbeitete die gebürtige Russin als Krankenschwester an der Front. t-online hat mit ihr über ihr bewegtes Leben gesprochen.

Wenn man Tamara Butenko nach der Ukraine fragt, dann erzählt sie von einem Land, in dem das Essen ein Gedicht ist. Sie spricht von ihrer Wohnung, in der sie zuletzt mit ihrer Tochter lebte und von einem Land, das ihr viel geschenkt hat: Ehemann und Kinder. "Es ist die Erde, wo alles wächst, was ich eingepflanzt habe", sagt sie.

Doch es ist auch das Land, aus dem Butenko nun fliehen musste, weil Bomben fliegen. In der umkämpften Frontstadt Charkiw konnte sie nicht bleiben. In den Medien ist jetzt nicht von Charkiws orthodoxen Kathedralen, Kunstausstellungen und klassizistischen Fassaden die Rede, sondern von toten Zivilisten, russischen Großoffensiven und verminten Wohngebieten. Wenn Butenko daran denkt, muss sie weinen.

Von Charkiw nach Mülheim: Flucht mit 100 Jahren

Das Letzte, was sie von ihrer Heimat hörte, waren Warnschüsse am Bahnhof von Lwiw, nahe der polnischen Grenze, die an den Zug geklammerten Menschen galten. Mehr als einen Tag dauerte die Flucht nach Mülheim, wo Butenko jetzt bei Verwandten lebt. Viel Medienrummel hat es dort schon gegeben: Nicht nur aufgrund des hohen Alters der Ukrainerin, sondern auch, weil sie in ihrem Heimatland keine Unbekannte ist.

Dass sie in ihrem Leben noch einmal fliehen würde, hat sich die 101-Jährige nicht vorstellen können. "Ich wollte niemals weg, ich wollte zu Hause bleiben. Ich bin jetzt nur nach Deutschland gekommen, damit meine Tochter und Enkelin in Sicherheit sind", sagt sie. Ende März feierte Butenko in Mühlheim ihren 101. Geburtstag – mit Torte, Liedern und ihrer Familie.

Als Krankenschwester an der Front

Hätte man ihr die Umstände und das hohe Alter als junge Frau geschildert, sie wäre wohl ungläubig gewesen. "Ich lebe so lange, weil ich nur liebevolle Menschen um mich herum habe", sagt sie. Weitere Geheimnisse für das hohe Alter: "Ich bin sehr aktiv, nehme fast keine Tabletten. Außerdem bin ich viel an der frischen Luft und mache Rätsel", sagt sie.

Mit ihren 101 Jahren erlebt Butenko Krieg allerdings nicht zum ersten Mal: 1941 arbeitete sie im Zweiten Weltkrieg als Krankenschwester an der Front, bekam dafür sogar sowjetische Auszeichnungen. "Es waren schwere Zeiten, wir haben sehr viel gelitten", erinnert sich Butenko, die in Russland geboren wurde und seit 1960 in der Ukraine gelebt hat.

Eine Zeit geprägt von Angst

Für die Arbeit als Krankenschwester brachten ihr Soldaten das nötige Handwerkszeug bei, denn Butenko ging als freiwillige Sanitärlehrerin im 425. Artillerie-Regiment an die Front. "Ich habe die Soldaten vom Feld gezogen, Verbände angelegt und weiter versorgt", erinnert sich die Frau mit den kurzen weißen Locken.

Eine Zeit geprägt von Angst. "Ich war an Charkiws Befreiung und der Kesselschlacht von Tscherkassy beteiligt, musste selbst aber 1944 nach einer schweren Verwundung demobilisiert werden", berichtet Butenko. Nach dem Krieg arbeitete sie als Direktorin der technischen Kommunikationsschule und sammelte 45 Jahre Unterrichtserfahrung.

Butenko hat über die Zeit an der Front ein Buch geschrieben. "Es heißt 'Durch den Krieg', die eine Hälfte ist auf Russisch und die andere Hälfte auf Deutsch", erklärt sie. Genau wie jetzt hätten damals zwei Völker sehr gelitten. "Was damals Russen und Deutsche waren, sind heute Russen und Ukrainer", sagt sie.

Damals hat Butenko helfen können, Brücken zu bauen. "Ich habe für Russland gekämpft, dort bin ich geboren. Aber die Ukraine ist meine zweite Heimat und ich liebe dieses Land und seine Menschen", sagt sie über ihre jetzigen Emotionen. In ihrem Ruhestand hat sie sich selbst mit 100 Jahren noch sozial engagiert, zum Beispiel als Vorsitzende des Rates der Frontfrauen in Charkiw.

Hoffen auf Kriegsende

"Ich war jeden Tag beschäftigt mit Arbeiten für das Museum, Bücher und Veteranen", sagt Butenko. Sie hofft, all das bald wieder tun zu können und in die Ukraine zurückkehren zu können. "Ich glaube daran, dass bald alles aufhört. Ich möchte dort sein, wo mein Mann beerdigt wurde."

Dass der Krieg wie ein Alptraum vorübergeht, ist ihre Hoffnung. Wie eine Zukunft aussehen kann, das kann sich aber auch Butenko nicht vorstellen. "Putin wird nicht aufgeben", ist sie sich sicher. Eins weiß sie allerdings: Original ukrainischen Borschtsch, den will sie noch einmal essen – selbst gekocht, in einem friedlichen Charkiw.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
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