Nach Pannenwahl Was passiert, wenn Berlin neu wählen muss?
Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.In Berlin drohen Neuwahlen. Gelten dann die Entscheidungen des bisherigen Senats noch? Wer darf wählen? Ein Experte beantwortet die wichtigsten Fragen.
Nach der Pannenwahl im vergangenen Jahr berät der Berliner Verfassungsgerichtshof aktuell, ob komplette Neuwahlen nötig sind. In einer ersten, vorläufigen Einschätzung geht das Gericht davon aus, dass die Wahlen für das Abgeordnetenhaus ungültig waren. Welche Folgen hätte es, wenn das Gericht bei dieser Einschätzung bleibt?
Im Interview beantwortet Wilko Zicht die wichtigsten Fragen dazu. Er ist Mitglied der Grünen und ehemaliges Mitglied der Bremischen Bürgerschaft. Außerdem ist er Experte für Wahlrecht und Redakteur beim Portal wahlrecht.de.
t-online: Wenn die Wahl für ungültig erklärt wird: Gelten die seitdem getroffenen politischen Entscheidungen dann noch?
Wilko Zicht: Der Verfassungsgerichtshof hat bereits via Pressemitteilung verkündet: Die seit der ungültigen Wahl getroffenen Entscheidungen des Abgeordnetenhauses hätten weiter Bestand. Das gilt auch für Entscheidungen des Senats.
Was würde für die Zeit bis zu Neuwahlen gelten?
Bis zum Abschluss der Wiederholungswahl dürfte das Abgeordnetenhaus weiter seine Aufgaben wahrnehmen. Daher wird es vermutlich Druck geben, dass sich das Abgeordnetenhaus selbst auflöst. Denn eine Wiederholungswahl würde nur für den Rest der Wahlperiode, also nur noch für dreieinhalb Jahre gelten.
Um zu vermeiden, dass bereits in dreieinhalb Jahren eine erneute Wahl anstünde, könnte sich das Abgeordnetenhaus selbst auflösen. In diesem Fall würde eine komplette Neuwahl für fünf Jahre angesetzt werden, auch für alle Bezirksverordnetenversammlungen. Welche von beiden Optionen in Berlin geschehen wird, ist noch nicht klar.
Welche Vorbereitungen würden auf die Berliner Behörden und Bürger bei einer etwaigen Neuwahl zukommen?
Keine außergewöhnlichen. Einige Fristen werden etwas enger gehalten sein, es wird daher wohl weniger Zeit für die Briefwahl geben. Ansonsten werden das ganz normale Wahlen.
Was gilt für Menschen, die in dieser Zeit in einen anderen Bezirk oder ganz aus Berlin weggezogen sind?
Bei Wiederholungswahlen, die bis zu sechs Monate nach der ursprünglichen und für ungültig erklärten Wahl angesetzt werden, gelten die gleichen Wählerverzeichnisse. Diese zeitliche Spanne ist aber bereits überschritten. Deshalb werden voraussichtlich komplett neue Wählerverzeichnisse erstellt. Wer den Bezirk gewechselt hat, wählt nun dort, wo er neuerdings wohnt. Wer nicht mehr in Berlin lebt, sondern weggezogen ist, darf auch nicht mehr an der kommenden Wahl teilnehmen. Dafür dürfen Neuberliner dann auch wählen.
Wie steht es um das Wahlrecht von Bürgern, die damals noch nicht 18 waren, jetzt aber schon?
Wer bei der ungültigen Wahl noch minderjährig war, nun aber volljährig ist, wird ebenfalls wählen dürfen.
Wird es neuen Wahlkampf geben?
Ja, davon kann man ausgehen. Jedenfalls gelten bei einer Wiederholungs- oder Neuwahl keine rechtlichen Einschränkungen für den Wahlkampf. Für die Parteien dürfte es aber eine finanzielle Kraftanstrengung bedeuten, weil sie seit der Wahl im vergangenen Jahr kaum Rücklagen für einen neuen Wahlkampf bilden konnten. Das spricht aus Sicht der Parteien auch dafür, statt einer Wiederholungswahl für dreieinhalb Jahre eine Neuwahl für fünf Jahre anzustreben.
Müssen die Parteien neue Kandidatenlisten aufstellen?
Das wird das Gericht noch entscheiden müssen. Falls die alten Kandidatenlisten verwendet werden, würde das den jetzigen Parlamentariern entgegenkommen, denn diese müssen sich dann nicht erneut parteiintern um einen Listenplatz oder eine Direktkandidatur bewerben. Sie hätten dann auch kein Interesse, eine Selbstauflösung des Parlaments herbeizuführen. Denn bei der dann fälligen Neuwahl würden auf jeden Fall neue Kandidaten aufgestellt.
Gab es schon mal einen ähnlichen Fall?
Ja, 1993 in Hamburg. Damals hatte die CDU bei der Aufstellung der Kandidaten demokratische Mindestanforderungen missachtet. Das hamburgische Verfassungsgericht erklärte die komplette Bürgerschaftswahl für ungültig. Um eine Wiederholungswahl zu vermeiden, die nur für die restliche Wahlperiode gegolten hätte, löste sich die Bürgerschaft selbst auf, sodass es zu einer Neuwahl von Bürgerschaft und Bezirksversammlungen kam.
- Interview mit Wilko Zicht