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Deutschlands CO₂-Budget aufgebraucht: Wo bleibt der Aufschrei?


Klartext Klima
Wo bleibt der Aufschrei?

MeinungVon Sara Schurmann

Aktualisiert am 29.03.2024Lesedauer: 5 Min.
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CO₂-Budget aufgebraucht: Doch in Deutschland scheint es keinen zu stören.Vergrößern des Bildes
CO2-Budget aufgebraucht: Doch in Deutschland scheint es keinen zu stören. (Quelle: Pixabay)

Deutschland hat neuesten Berechnungen zufolge bereits mehr CO2 ausgestoßen, als es das für die Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze dürfte. Doch kaum jemanden scheint es zu interessieren.

Manchmal träume ich, dass ich vor einem Haus stehe, bei dem der Dachstuhl brennt. Ich rufe und rufe, um die Bewohnerinnen und Bewohner zu warnen. Das Feuer breitet sich schnell aus und droht bereits, auf das darunterliegende Stockwerk überzugreifen. Eine Frau mit Föhnfrisur öffnet kurz das Fenster, um zu schauen, wer da so rumkrakeelt. Als sie mich sieht, seufzt sie genervt und macht das Fenster wieder zu. Ein Mann mit Aktenkoffer kommt aus der Haustür nebenan, er zuckt mit den Schultern und geht vorbei. Es sei ja nicht sein Haus, zischt er, als ich ihn anspreche, er müsse jetzt zur Arbeit und habe genug andere Probleme.

Sara Schurmann
(Quelle: Reinaldo Coddou H.)

Zur Person

Die Lage ist extrem ernst, aber nicht hoffnungslos. Nach diesem Motto erklärt die freie Journalistin Sara Schurmann die großen Zusammenhänge und kleinen Details der Klimakrise so, dass jede und jeder sie verstehen kann. Etwa in ihrem Buch "Klartext Klima!" – und jetzt in ihrer Kolumne bei t-online. Für ihre Arbeit wurde sie 2022 vom "Medium Magazin" zur Wissenschaftsjournalistin des Jahres gewählt.

Ich stürme in das Gebäude, renne durch die Stockwerke, hämmere an die Türen. Im dritten Stock öffnet ein Mann im Bademantel, mit hinauskommen und das Feuer bekämpfen will er nicht. Er habe sich eine Badewanne eingelassen, das Wasser gerade die perfekte Temperatur, aber wenn er fertig sei, werde er kommen und schauen, ob er sich nützlich machen kann.

Wer hilft? Alle haben Entschuldigungen

Eine Frau um die 60 erklärt mir, sie sei zu alt, um sich mit solch einem Problem zu beschäftigen. Außerdem habe sie eine Feuerschutzversicherung abgeschlossen, sollte der Brand sie wirklich betreffen, sei sie abgesichert.

Eine Tür weiter versichert mir ein Vater mit drei kleinen Kindern, dass er mein Anliegen verstehe und es super fände, dass ich mich so leidenschaftlich darum kümmere. Er selbst müsse jetzt aber die Wäsche aufhängen, mit den Kindern die Hausaufgaben machen und Abendessen kochen. Viel zu tun, das sähe ich ja selbst. Jetzt auch noch das Haus zu verlassen oder gar selbst mit anzupacken, das gehe wirklich nicht. Er wünscht mir Glück und schließt die Tür.

"Das Erdgeschoss ist doch relativ sicher"

Der Mann im Erdgeschoss will wissen, warum ich mir so sicher sei, dass das Feuer gefährlich für die Bewohnenden werden könne. Er sei im Erdgeschoss relativ sicher und das Ganze habe ja auch positive Auswirkungen: Er finde es gar nicht so schlecht, wenn das Dach mal neu gedeckt werde. Außerdem bezweifle er, dass Löschen überhaupt etwas bringen würde. Das Wasser werde im Endeffekt nur die anderen Stockwerke darunter ruinieren. Das solle ich mal bedenken, und nicht so eine Panik machen, gibt er mir mit auf den Weg.

Endlich kommt mir eine junge Bewohnerin entgegen, sie habe meine Rufe gehört und wolle mich gern unterstützen. Sie habe Proviant für mich zusammengepackt, den könne ich sicher gebrauchen, und sie habe noch einen alten Gartenschlauch im Keller, den würde sie jetzt mal suchen gehen. Sollte der kaputt sein, könne sie gern auch einen im Baumarkt besorgen, da wolle sie eh hin, sie sei dann in spätestens zwei Stunden wieder da. Irritiert nehme ich die Plastiktüte mit Müsliriegeln und Snack-Salamis, im nächsten Moment ist sie auch schon im Kelleraufgang verschwunden.

"Machen sie sich keine Sorgen"

Ich ziehe mein Telefon aus der Hosentasche und wähle 112. "Hallo, Feuerwehr hier! Sie wollen einen Brand melden?" Das sei gut und wichtig, als Feuerwehr sei man da natürlich auch sehr besorgt und würde auch schon an einer Lösung für das Problem arbeiten, versichert man mir. Am anderen Ende der Stadt gebe es ein Pilotprojekt, bei dem automatisierte Drohnen mit kleinen Eimern von selbst ausschwärmen, sobald sie Rauch wahrnehmen. Funktioniert habe das bisher zwar nicht, aber ich solle mir keine Sorgen machen, in drei Jahren sei der Service sicher auch in meinem Viertel zuverlässig einsatzbereit. Der Mann dankt mir nochmals für meinen Anruf und legt auf.

Kein Aufschrei in Sicht

Wenn ich aufwache, sieht die Welt nicht viel anders aus. Genau so verhalten wir uns geradein der Klimakrise, das Phänomen ist sogar wissenschaftlich untersucht.

Am Montag hat der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU), der die Bundesregierung berät, seine Berechnungen für das Deutsche CO2-Budget aktualisiert. Das Ergebnis: Um die Erderhitzung auf 1,5 Grad zu begrenzen, ist der faire Anteil Deutschlands schon fast oder sogar vollständig aufgebraucht – je nachdem, mit welcher Wahrscheinlichkeit das Temperaturlimit eingehalten werden soll.

Diese Prognosen werden nämlich mit Wahrscheinlichkeiten ermittelt: Als 2015 das Pariser Klimaabkommen beschlossen wurde, hatte der SRU berechnet, wie viel CO2 Deutschland noch ausstoßen darf. Grundlage für die Berechnung ist unser Anteil an der Weltbevölkerung. Dieses Budget wurde aktuellen Berechnungen zufolge bereits Anfang 2023 aufgebraucht, wenn wir mit einer Wahrscheinlichkeit von zwei Dritteln sicher gehen wollen, die 1,5-Grad-Grenze nicht zu überschreiten. Rechnen wir mit einer Wahrscheinlichkeit von nur 50 Prozent, ist das Budget zwar größer, aber auch das Risiko. Und auch dieses Restbudget werden wir laut SRU im Verlauf dieses Jahres aufgebraucht haben.

Welches Risiko wollen wir tragen?

Wer würde in ein Flugzeug steigen, das mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent an seinem Ziel ankommt? Ich habe noch niemanden getroffen, der diese Frage ernsthaft mit Ja beantwortet hätte. Warum nehmen wir dieses Risiko dann in der Klimakrise hin, wo es um nichts weniger geht als den Erhalt unserer Lebensgrundlagen? Die selbstgesetzten Ziele der Bundesregierung liegen sogar noch deutlich darüber.

Die Zahlen zum CO2-Budget schaffen es – wie so viele alarmierende Klimameldungen – auf keine Titelseite, es gibt keine "Brennpunkt"-Sendungen in der ARD, keine Krisengipfel im Kanzleramt, keine Notfallmaßnahmen. Und selbst denjenigen, die sonst immer verlässlich "Feuer, Feuer!" rufen, geht angesichts all der alarmierenden Meldungen, die jede Woche auf uns hereinprasseln, langsam die Puste aus.

Unterschiedliche Institutionen warnten in den vergangenen Tagen davor, dass die Erderhitzung und ihre Folgen 2024 extrem werden könnten. Die Chefin der Weltorganisation für Meteorologie, Celeste Sualo, spricht von "Alarmstufe Rot". Das Deutsche Geoforschungszentrum (GFZ) in Potsdam stellte klar, dass trotz des vielen Regens 2023 im Gesamtwasserspeicher Deutschlands noch immer viele Tonnen Wasser fehlen. Und die FDP droht nun sogar, den überfälligen und im EU-Parlament mühsam errungenen Kompromiss für das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur zu blockieren.

Im Verdrängen sehr gut, im Bearbeiten nicht

"Klimanotstand, war da was?", fragt die Klimajournalistin Susanne Götze auf Spiegel.de und fasst die derzeitige Verdrängung der Klimakrise in den Medien und der Gesellschaft gut zusammen. So sehr ich viele Abwehrmechanismen, die Überforderung und Abstumpfung persönlich nachvollziehen kann, so wenig ist die allgemeine Apathie zu erklären, wenn man sich die Fakten klar anschaut. Die Jahre bis 2030 sind entscheidend, wenn wir unsere Lebensgrundlagen erhalten wollen, das betont der Weltklimarat immer wieder. Die Emissionen entschieden zu reduzieren, ist technisch möglich. Doch ernsthaft probiert wird es nicht.

Den Berechnungen des SRU zufolge, müsste Deutschland seine Emissionen ab sofort linear reduzieren und dürfte spätestens 2037 keine weiteren Emissionen ausstoßen. Nur so könnten wir – mit einer zwei Drittel Wahrscheinlichkeit – unseren fairen Anteil daran leisten, innerhalb des Pariser Klimaschutzabkommens bleiben und die Erderhitzung auf 1,75 Grad zu begrenzen. "Es stellt sich die Frage nach dem Umgang damit", konstatiert der SRU trocken in seinem Statement. Nur: Die Frage scheint sich kaum jemand ernsthaft zu stellen.

Dabei sind wir es, die wir heute leben, für die das einen wahnsinnigen Unterschied machen wird. Kinder, die 2020 geboren sind, werden 2100 um die 80 Jahre alt sein; jede Person, die heute 70 Jahre alt ist, hat gute Chancen, 90 zu werden. Und schon in den kommenden 20 Jahren wird sich die Welt, in der wir leben, massiv verändern. Wir alle werden spüren, ob wir heute radikal umsteuern und nach Kräften alles versuchen, was möglich ist, um die Emissionen zu stoppen und uns an die Folgen der Erderhitzung anzupassen. Oder ob wir den lodernden Dachstuhl ignorieren und das Haus abbrennen lassen, und mit ihm unsere Lebensgrundlagen.

Verwendete Quellen
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