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"Alle Macht den Kindern" - ein Familienexperiment


Familienexperiment
Rollentausch: "Alle Macht den Kindern"

t-online, cst

28.11.2011Lesedauer: 5 Min.
Rollentausch bei Familie Metzger.Vergrößern des BildesRollentausch bei Familie Metzger. (Quelle: Michael Müller)
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"Kinder an die Macht" sang Herbert Grönemeyer schon vor 25 Jahren. Was aber, wenn dieser Wunsch Wirklichkeit wird? Wenn die Kinder zu Hause bestimmen und die Eltern sich unterordnen müssen? Die Haushaltskasse beim Nachwuchs liegt und die Eltern um Taschengeld bitten müssen? Läuft alles wie immer oder herrschen Chaos und Anarchie? Jonny (10), Lara (13) und ihre Eltern Helga und Jochen sind diesen Fragen in einem ungewöhnlichen Selbstversuch nachgegangen.

Die Idee ist so einfach wie genial: für vier Wochen tauschen Eltern und Kinder die Rollen. Die Kinder geben Anweisungen, die Eltern gehorchen. Fernsehen, Finanzen, Schlafenszeiten, zur Schule gehen, Essen, Taschengeld - all diese Punkte, die sonst in Familien über Jahre immer wieder mühevoll ausgehandelt werden müssen, liegen nun für eine begrenzte Zeit in den Händen der Kinder.

Das machen wir auch, mag sich der eine oder andere Leser denken. Zu gut hört sich dieser Plan an. Zum einen, weil man das als Kind wohl auch gern einmal gemacht hätte, und zum anderen, weil heute die Vorstellung reizvoll ist, den lästigen Teil des Elterndaseins, die Verantwortung und Pflichten, an die Kinder zu delegieren.

Wie alles begann

Wie bei vielen großen Veränderungen begann auch bei Familie Metzger alles ganz harmlos. Bei einem Tischtennisspiel tauschen Vater Jochen und Sohn Jonny erstmalig die Rollen. Der Sohn darf Trainer sein, Anweisungen geben, bestimmen. Vater Jochen gehorcht und löst bei seinem Sohn einen Emotionsschub aus: "Papa, mit mir hat noch nie ein Erwachsener so höflich geredet wie du gerade. Das hat sich toll angefühlt." Ein sehr nachdenklicher Vater bleibt zurück. Werden Kinder tatsächlich so wenig respektiert? Nicht einmal von den eigenen Eltern? Diese Fragen werden Vater Jochen keine Ruhe mehr lassen.

Die Idee für den Rollentausch ist geboren. Womit Vater Jochen nicht gerechnet hat: Von allen Familienmitgliedern wehrt sich Ideengeber Jonny am vehementesten gegen das Experiment, dabei wird er am Ende derjenige sein, der es am meisten genossen hat. Aber Kinder sind nun einmal konservativ und deshalb befindet Jonny: "Ich will, dass alles so bleibt, wie es ist."

Wichtigste Regel: keine Rache

Doch bald schon dämmert es dem Zehnjährigen: "Wenn wir die Chefs sind, dürfen wir euch doch Befehle geben, oder?" Und um sicherzustellen, dass sich die Vergeltungsgelüste der Eltern in der Zeit nach dem Rollentausch im Rahmen halten, werden zehn Regeln aufgestellt. "Man darf sich hinterher für gar nichts rächen. Sonst bringt das ganze Projekt keinen Spaß."

Außerdem gilt: die Kinder sind die Bestimmer, die Eltern machen nichts ohne ausdrückliche Anweisung. Was aber auch heißt, dass Mutter Helga nichts sagen wird, wenn sich der Kühlschrank leert, sie wird von sich aus keine Wäsche waschen, nicht aufräumen, also in keiner Weise für ein angenehmes Wohlfühlklima sorgen, dessen Vorzüge man erst dann zu schätzen weiß, wenn es nicht mehr da ist.

Und die Finanzen? Liegen natürlich auch in den Händen der Kinder. 700 Euro Haushaltsgeld für vier Wochen - reicht doch locker, oder? Den Eltern werden je 40 Euro Taschengeld zugestanden, jetzt noch schnell die ec-Karten bei den Nachbarn abgegeben und los geht’s.

Jonny, der Fernsehkönig

Sohn Jonny fühlt sich vom ersten Tag an wie im Kleine-Jungen-Paradies. Mama kutschiert ihn mit dem Auto zur Schule, Papa wird zum Tischtennisspielen abkommandiert und das Beste überhaupt ist die Macht über den Fernseher. Immer länger und immer öfter hängt Jonny im Verlauf des Experiments vor der Glotze ab - sehr zum Leidwesen der restlichen Familie. Dass zu den neugewonnenen Freiheiten theoretisch auch neue Pflichten gehören, kommt trotz mancher Sticheleien von Mutter Helga noch nicht so richtig bei ihm an - was man einem Zehnjährigen allerdings auch nicht wirklich vorwerfen kann. Ohne die Hilfe der großen Schwester wäre Jonny allerdings aufgeschmissen gewesen.

Lara, die Familienheldin

An der dreizehnjährigen Lara kann man sehen, was drei Jahre Altersunterschied ausmachen. Ihr ist bereits bewusst, dass der Rollentausch mehr ist als ein Spiel. Lara leistet sich nur wenige Freiheiten - die Last der Verantwortung drückt. Akribisch stellt sie Essenspläne zusammen, legt fest, was eingekauft werden muss, wer was putzen soll und sorgt für gute Stimmung. Die ist wichtig, vor allem in der zweiten Monatshälfte, als immer deutlicher wird, dass das Geld nicht reichen wird. "Ich weiß inzwischen recht genau, was Lebensmittel wirklich kosten", stellt Vater Jochen am Ende des Experiments fest - zuvor ist die Familie jedoch durch eine harte Leidenszeit gegangen. Mit strenger Hand verwaltet Lara die Kasse, verweist auf die selbstgemachte Marmelade im Keller und gesteht der Familie Fleisch nur noch zweimal in der Woche zu. Lebensmittel sind in diesen vier Wochen bestimmt nicht weggeworfen worden. "Weißt du," fasst Lara ihre Erkenntnisse zusammen, "ich kann Geld am allerbesten nicht ausgeben."

Das liebe Geld

Die angespannte Finanzlage ist der mit Abstand kritischste Punkt des Familienexperiments. Schon 200 Euro mehr hätte den vier Wochen einen anderen Verlauf beschert, da ist sich Vater Jochen sicher. Aufgrund der Geldknappheit musste sich die Familie ungewollt auch noch mit dem Thema "sparsame Verwendung von Ressourcen" auseinandersetzen, was dem Alltag eine zusätzliche Schärfe verliehen hat. Vater Jochen erfährt schmerzlich, was Hunger ist und muss sich mittags bei Kollegen durchschnorren, Mutter Helga macht Schulden bei den Nachbarn.

Mutter Helga ist genervt

Für Mutter Helga ist der Rollenwechsel am schwierigsten. "Ich bin die Blöde bei diesem Experiment. Ich muss genau das machen, was ich immer mache. Nichts ändert sich für mich - und Jonny lässt sich von morgens bis abends bedienen." Das Chaos hinzunehmen, nicht aufzuräumen, die Wäsche eben nicht zusammenzulegen, fällt viel schwerer, als die Hausarbeit selbst. Auch für die Eltern ist es nicht leicht, gewohnte Muster zu durchbrechen. Aber Helga findet ihre Nische: sie schlüpft in die Rolle der nervigen kleinen Schwester und bringt Jonny mit Frotzeleien immer wieder derartig auf die Palme, dass er schließlich einen Tag Fernsehverbot verhängt - nach seinen Maßstäben sicher die Höchststrafe.

Das große Chaos ist ausgeblieben

Am Ende der vier Wochen sind alle Familienmitglieder froh, wieder in ihre gewohnten Rollen schlüpfen zu können. Das ganz große Chaos ist nicht eingetreten, die Alkoholvorräte bleiben unangetastet und Eltern und Kinder sind ein Stück näher zusammengerückt. "Ich habe erlebt, dass die Kinder unglaublich viele Dinge mit Vernunft und Klugheit geregelt kriegen, ohne dass ich daneben stehe und eine Auge darauf habe. Ich kann loslassen, ohne dass eine Katastrophe geschieht. Diese Erkenntnisse nehme ich mit," fasst Vater Jochen zusammen. Nur "König" Jonny trauert. Zu schön war das Leben im Jungen-Fernseh-Paradies.

Buch-Tipp: "Alle Macht den Kindern" von Jochen Metzger. Patmos Verlag, 16,90 Euro.

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