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Sexueller Missbrauch: "Ich war fünf, als es das erste Mal passierte"


Sexueller Missbrauch
"Fünf Jahre war ich alt, als es das erste Mal passierte"

t-online, Simone Blaß

Aktualisiert am 16.12.2013Lesedauer: 6 Min.
Missbrauchsopfer leiden ihr Leben lang - so wie Lothar.Vergrößern des BildesMissbrauchsopfer leiden ihr Leben lang - so wie Lothar. (Quelle: privat)
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Im Jahr 2012 wurden polizeilich 14.865 Opfer sexuellen Missbrauchs registriert. 3780 davon waren Jungs. Es gibt kaum einen Bereich, in dem die Dunkelziffer höher ist. Aber es gibt Schätzungen. Wie die, dass jeder neunte bis zwölfte Junge in Deutschland mindestens einmal in seinem Leben sexuell missbraucht wurde. Bei Lothar war es nicht nur einmal, sondern viele Male, über Jahre hinweg. Und es war auch nicht nur ein Täter, es waren gleich drei. Die Qualen - seelisch wie körperlich - die der kleine Junge erleiden musste, machen auch dem erwachsenen Mann noch heute massiv zu schaffen.

"Die Schmerzen spüre ich immer noch"

"Fünf Jahre war ich alt, als es das erste Mal passierte." Der Schulhausmeister gab dem Jungen vermeintlich das, was er zu Hause nicht bekam: Zärtlichkeit, Aufmerksamkeit, Geborgenheit. Der Mann streichelte Lothar am ganzen Körper. "Den hätte ich nie verpetzt. Obwohl ich nicht weiß, was gewesen wäre, wenn er sein Streicheln unter der Kleidung fortgesetzt hätte." Doch eigentlich weiß er es schon, denn auch den zweiten Mann hat er nicht verraten. Obwohl der Missbrauch massiv war und nicht einmal mehr etwas mit einer falschen Zärtlichkeit zu tun hatte.

"Es war unser Zahnarzt, er war alt und stank nach Zigaretten. Ich weiß nicht mehr genau, ab wann er mich das erste Mal missbrauchte, was ich aber noch sehr genau weiß, ist, dass er mir immer Schmerzen im Mund verursachte und danach in meine Hose fasste." Jede noch so kleine Gegenwehr wurde über Jahre brutal erstickt. Der Junge war dem Mann völlig ausgeliefert. "Ich musste ihn oral befriedigen und auch von hinten drang er in mich ein. Ich spüre noch heute die dadurch verursachten Schmerzen." Aus Angst vor "Dresche" sagte Lothar zu Hause kein Wort. Die blutige Unterwäsche ließ das Kind verschwinden und die Seelenqual sperrte es tief in sich ein.

Der innere Schmerz bleibt ein Leben lang

Lothar wird immer leiser, während er erzählt. Noch heute spürt man das Leid des Kindes, das er einmal war, und das in ihm weiter nach Hilfe schreit. "Wenn ich auf eines der wenigen Fotos von damals blicke, dann sehe ich den kleinen Jungen, der so verdammt traurig schaut." Tränen steigen dem 49-Jährigen in die Augen. "Es tut mir weh, sehr weh!" Über ein Missbrauchserlebnis zu sprechen, ist für viele Männer noch schwieriger als für Frauen, weiß Jan Vespermann, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut der Hilfsorganisation Dunkelziffer e.V.

"Vor allem Jungs haben oft mit ganz anderen Vorurteilen zu kämpfen. Sie müssen, wenn sie sich Hilfe holen, andere Hürden nehmen. Mädchen und Frauen dürfen eher das Opfer sein, Schwäche zugeben. Bei einem Jungen heißt es schnell: Du hättest dir ja Hilfe holen können! Du hast dich nicht gewehrt! Du bist kein Mann! Außerdem fürchten sie, wenn der Täter, wie meistens, ein Mann war, als homosexuell oder gar selbst als möglicher späterer Täter angesehen zu werden. Ein fürchterliches Vorurteil."

Sexueller Missbrauch hat Verhaltensänderungen zur Folge

Obwohl jedes missbrauchte Kind aufgrund seiner ganz eigenen Geschichte anders auf seine Erlebnisse reagiert, gibt es doch eine Reihe von Signalen, die als Hilferuf verstanden werden können. Um diese aber wahrzunehmen, ist eine entsprechende Bereitschaft der Umgebung notwendig. "Es gibt keinen sexuellen Missbrauch, der nicht beim Kind Verhaltensänderungen hervorruft", schreibt Professor Max Friedrich, Vorstand der Wiener Universitätsklinik für Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters, in seinem Buch "Tatort Kinderseele". "Da der Täter das Kind sowohl psychisch als auch physisch in seinen Besitz nimmt und kontrolliert, kann es verschiedenste Mechanismen und Verhaltensauffälligkeiten entwickeln, um diese Situation überhaupt aushalten zu können."

"Eine Situation", so Vespermann, "die oft weniger mit Zwang als mit einer emotionalen Abhängigkeit zu tun hat, so wie zum Beispiel bei dem Hausmeister. Er nutzte die Bedürftigkeit des Kindes aus, seine Grenzüberschreitungen kamen schleichend."

Niemand beachtete die Anzeichen

Nicht zuletzt durch die Medien ist man heute sensibilisierter für das Thema, und doch wird gerade bei Jungs immer noch vieles übersehen. Damals, vor rund 40 Jahren, war sexueller Missbrauch erst recht nichts, was man in Betracht zog, wenn ein Junge sich seltsam verhielt. "Würde heutzutage ein Kind solche, nach außen sichtbare Auffälligkeiten zeigen, wie ich damals, käme sofort eine Maschinerie in Gang, die sich um das Wohlergehen des Kindes kümmert. Früher war es den Nachbarn, der Gesellschaft an sich egal."

Erst recht, wenn es sich um einen "renitenten" Jungen handelte, der tagsüber aggressiv war und log und dabei in die Hose machte bis er zehn war. Der bis zu seinem zwölften Lebensjahr am Daumen lutschte, stotterte und schon mit acht das erste Mal von zu Hause weglief. Einem Zuhause, das keines war, denn auch dort herrschte körperliche und seelische Gewalt. "Die Folgen beziehungsweise Strafen für mein 'Fehlverhalten' waren brutal." Lothar wurde verprügelt, musste stundenlang auf Erbsen knien oder wurde im dunklen Kohlenkeller eingesperrt. "Es gab niemandem, dem ich vertrauen konnte. Wenn ich heute zurückblicke, denke ich, meine Klassenlehrerin wäre vielleicht jemand gewesen, aber meine Angst war viel zu groß."

Die Sprachlosigkeit musste ein Ende haben

Die Frage, was Lothar zum "leichten Opfer" machte, beantwortet er selbst heute mit seiner Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit. "Nach jemandem, der mich mal nicht beschimpfte oder schlug. Irgendwie stand es mir wohl auf der Stirn geschrieben, dass man mit mir ein leichtes Spiel haben würde. Heute wundert es mich, ehrlich gesagt, dass es 'nur' drei waren, die mich ausgesucht haben." Und mit dieser Einschätzung liegt der 49-Jährige richtig. "Denn", so Vespermann, "Kinder, die missbraucht worden sind, sind sehr anfällig dafür, wieder Opfer zu werden."

Wobei die dritte im Bunde auch noch Lothars eigene große Schwester war. Die sich bis jetzt mit "Doktorspielchen" herausrausredet. "Sie war 13, ich elf und ihr angebliches Doktorspielen war verbunden mit Gewalt und Zwang. Doch bis heute zeigt sie weder Einsicht, noch kam je eine Entschuldigung." Und das, obwohl Lothar vor drei Jahren sein Umfeld in das, was er als Kind erleben musste, eingeweiht hat. Die Sprachlosigkeit und das Schweigen, der typische Umgang mit dem Tabuthema, sollten endlich ein Ende haben.

Seine Beziehungen scheiterten alle

Nach einem Selbstmordversuch und acht Wochen Klinikaufenthalt hat Lothar sich entschlossen, die Wahrheit auf den Tisch zu bringen. Die Reaktionen waren und sind gemischt. Manchmal war es Betroffenheit, oft aber herrschten Verleugnen, Herunterspielen und Verharmlosen vor. Lothar ist dreifacher Vater. "Drei verschiedene Frauen, drei wundervolle Töchter", so seine Bilanz. Die erste Frau, da waren beide noch sehr jung, wusste nichts über Lothars Vergangenheit.

Die zweite kam nicht mit seiner Tochter zurecht, die dritte wusste um das Leid, konnte aber auch nicht helfen - war sie doch selbst Missbrauchsopfer ihres Vaters, verhaltens- und persönlichkeitsgestört. Die Ehe war durch die Vergangenheit der beiden zu stark belastet, hielt dem Druck ebenfalls nicht stand. "Ich wollte immer alles anders machen, als es in meiner Kindheit gelaufen ist und hasste jede Träne, die eines der Kinder vergießen musste. Meine absolute Priorität lag auf dem Wohlergehen der Mädchen, was nicht nur Erziehungsprobleme hervorrief, sondern auch für meine Frau nicht einfach war. Aber das habe ich erst jetzt verstanden."

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"Ich möchte nichts lieber als vergessen können"

Besonders schwierig war es für Lothar, im Umgang mit seinen Mädchen das Thema "sexuellen Missbrauch" angemessen zu behandeln. Bei der Großen entschied er sich für schonungslose Offenheit: "Ich habe sie über alles aufgeklärt, was es mit meiner Kindheit, dem Missbrauch und den Trennungen auf sich hatte. Das verzeihe ich mir nie! Denn das, was ich als Kind zu wenig erfahren habe, habe ich meiner Tochter zu viel zugemutet." Was zur Folge hatte, dass er bei der zweiten Tochter schwieg. Sie erfuhr, wie andere Verwandte, Freunde und Bekannte auch, erst bei der Aufarbeitung vom ganzen Ausmaß.

"Ihr Ehemann will mit 'sowas' nichts zu tun haben, dadurch haben wir den Kontakt verloren." Man will sich nicht damit auseinandersetzen, welche lebenslangen Folgen das damalige Wegsehen für Lothar hatte. Noch immer leidet er massiv und offensichtlich unter den Folgen der Taten. "Tagtäglich werde ich von Erinnerungen geplagt, die mir den Schlaf rauben, von Flashbacks und Panikattacken." Verhaltens- und Persönlichkeitsstörungen sind die Folge auf seelischer Ebene. Arbeitslosigkeit die auf wirtschaftlicher. "Ich möchte nichts lieber, als endlich vergessen können. Ruhe finden. Aber dazu muss ich das Erlebte erst verarbeiten." Inzwischen ist Lothar dauerhaft in therapeutischer Behandlung. Er hat verstanden, dass dieser kleine Junge keine Chance hatte, sich zu wehren. Und langsam, ganz langsam lernt er, ihn innerlich an die Hand zu nehmen und wieder Vertrauen ins Leben zu fassen.

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