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Amokfahrt in Berlin: "Geschrien haben nur die Zeugen"


"Geschrien haben nur die Zeugen"
Amokfahrt am Tauentzien – der Tag nach dem Schrecken

Von Jannik Läkamp

Aktualisiert am 10.06.2022Lesedauer: 4 Min.
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Trauer am Tauentzien: Blumen und Kerzen erinnern am Tag danach an die Todesfahrt.Vergrößern des Bildes
Trauer am Tauentzien: Blumen und Kerzen erinnern am Tag danach an die Todesfahrt. (Quelle: Zeitz/imago images)

Die Amokfahrt eines einzelnen Mannes erschüttert Berlin. Auch am Tag danach herrschen Trauer, Wut und Unglauben. Ein Ortsbesuch.

Es nieselt am Breitscheidplatz. Hier hat am Mittwochvormittag ein 29-Jähriger ein Fahrzeug in eine Gruppe Schüler gelenkt. Danach fuhr er weiter, bis seine Horrorfahrt frontal in einer Parfümerie endete. Langsam, aber stetig waschen die Regentropfen Kreidezeichnungen von der Straße. Viele Kreise sind zu sehen, wo die Spurensicherung Beweise fand. Aber auch elliptische Kreideformen, die in etwa die Größe eines Menschen haben. Sie erinnern an das, was sich hier zugetragen hat. An die Frau, die hier starb. An die zwei Dutzend Menschen, die verletzt wurden. An die vielen Augenzeugen, die jetzt mit den Bildern zu kämpfen haben.

So wie Markus Leppmeier. Eigentlich war der Feuerwehrmann als Urlauber in Berlin. Zusammen mit der Familie dem Alltag entfliehen, Abstand zu der oft auch heftigen Arbeit als Kamerad zu gewinnen. Stattdessen musste Familie Leppmeier zusehen, wie ein wohl psychisch erkrankter Mann einen Kleinwagen als Waffe gegen Unbeteiligte nutzte – mit verheerenden Folgen.

Zu dem Zeitpunkt, als der Todesfahrer Gor H. sein Auto in die Menschenmenge lenkte, stand die Familie Leppmeier gerade vor dem Fast-Food-Lokal KFC im Europacenter – nur wenige hundert Meter vom Tatort entfernt. Markus Leppmeier ist einer der Ersten, die vor Ort helfen. Auch am Tag nach der Amokfahrt zieht es ihn und seine Familie nochmals zum Ort des Geschehens. Um zu verarbeiten, um weitermachen zu können. Gerade hat er auf einer Verkehrsinsel vor der Gedächtniskirche eine Kerze angezündet – an der Stelle, an der die Lehrerin starb. "Ich habe nur die Schreie gehört, dann einen lauten Knall", rekapituliert Leppmeier. "Erst habe ich an einen Bombenanschlag gedacht."

"Und wir waren voll dabei"

Die Erfahrung als Feuerwehrmann kickte ein, er rannte sofort hin, um zu helfen. "Da habe ich direkt gesehen: Hier liegt einer, zwei, drei. In unnatürlichen Posen." Geschrien hätten nur die anderen Zeugen, von den Opfern niemand. "Die waren alle bewusstlos." Leppmeier versucht zu helfen, einen Notruf abzusetzen – und kommt nicht durch. "Da habe ich beschlossen, das Beste ist, die Verletzten zu zählen und dafür zu sorgen, dass die Kreuzung für die Rettungskräfte frei ist." Zudem half der Feuerwehrmann dem einzelnen Polizisten, der als erster Beamter am Tatort war, den Amokfahrer festzunehmen. "Der war ja ganz alleine hier, und das bei der Gaudi, die abging", so der Ingolstädter, der nur zu Besuch in Berlin ist, der nur rein zufällig am Ort des Geschehens war.

Jetzt, einen Tag nach der Amokfahrt, ist es für ihn seltsam, wieder an der Gedächtniskirche zu stehen. "Es fühlt sich eigenartig an, suspekt. Die Stadt lebt weiter, viele, die hier lang laufen wissen gar nicht, welche Tragödie sich hier abgespielt hat. Und wir waren voll dabei." Dabei hätte es für die Familie durchaus schlimmer ausgehen können. "Wäre es ein paar Minuten früher passiert, hätte es uns getroffen. Wir standen genau an der Stelle, an der er reinfuhr, haben jeden Punkt der Tragödie vorher abgeschritten." Sichtlich hart für Leppmeier. "Du kannst jederzeit unbeteiligt dabei sein." Der gestandene Feuerwehrmann, vorher sehr gefasst, bricht plötzlich in Tränen aus. "Es kommt gerade alles wieder hoch", erklärt er. "Dabei haben wir eigentlich oft schwere Einsätze mit der Feuerwehr. Aber das ist einfach etwas Anderes."

Auch bei Herrn S. kommen böse Erinnerungen hoch, als er am Donnerstagmorgen vor der Gedächtniskirche steht. Doch sie stammen nicht von der Amokfahrt am Vortag. S. ist eines der zahlreichen Opfer von Anis Amri, der 2016 einen LKW in den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz gesteuert hatte – nur wenige hundert Meter von der Stelle entfernt, an der nun wohl erneut Menschen einem gezielt als Waffe eingesetzten Fahrzeug zum Opfer fielen. "Ich bin hier, um mich dem zu stellen, was mir damals passiert ist", erklärt er. Schon als er die Nachrichten gesehen habe, seien die alten Bilder wieder hochgekommen. "Frappierend ist das, als hätte man den Anschlag von 2016 umgeklappt, auf die andere Straßenseite. Es hätte überall passieren können, aber es war schon wieder genau hier."

Beklemmend ist es für ihn, nun an dem Ort zu stehen, der erneut zum Tatort wurde, sagt er. Er sei die Route des Todesfahrers abgegangen, dabei immer wieder mit Flashbacks seines eigenen Traumas kämpfend. Der ehemalige Krankenpfleger ist sichtlich aufgewühlt. "Ich habe damals Dinge gesehen, gerochen, die mich nicht loslassen." Auch mit Selbstvorwürfen habe er zu kämpfen, er werde das Gefühl nicht los, dass er mehr hätte helfen können. Wie wenige andere kann Herr S. wohl die Leiden der Opfer von Gor H. und ihrer Angehörigen verstehen. "Ich wünsche ihnen viel Kraft bei der Bewältigung. Verständnisvolle und emphatische Menschen in ihrer Umgebung. Und schnelle, unbürokratische Hilfe – besser als damals 2016."

"Das wünsche ich keinem"

Steve kommt am Donnerstagmorgen auf dem Weg zur Arbeit an der Gedächtniskirche vorbei. In blauer Arbeitskleidung macht er eine kurze Pause und ein Foto von roten Rosen, die den Opfern des Amokfahrers gewidmet sind. Zum Zeitpunkt der Tat war er in einem Restaurant, nur wenige hundert Meter entfernt. Wäre er fünf Minuten später losgelaufen, wäre er jetzt unter den Opfern, wie er sagt. Dieses Schicksal ist ihm erspart geblieben. Die Schreie und den Lärm hat er trotzdem gehört, die Verletzen und die Tote gesehen. "Das wünsche ich keinem." Schwer ist es für ihn, das wieder loszuwerden. Nur ungern geht er wieder am Ort des Geschehens vorbei. "Es ist gruselig. Ich habe das Grauen, wenn ich hier wieder laufe". Er zeigt auf die Gänsehaut auf seinem Arm. "Warum mussten unbedingt Unschuldige in Mitleidenschaft gezogen werden?" Nun wolle Steve noch eine Schweigeminute einlegen. Aus Respekt für die Opfer.

Verwendete Quellen
  • Reporter vor Ort
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