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Tod eines 16-Jährigen: Experte wirft Polizei Systemfehler bei Ermittlungen vor


Tödliche Polizeischüsse
"Damit wird die Außenwelt mundtot gemacht"


Aktualisiert am 10.08.2022Lesedauer: 4 Min.
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Polizei-Einsatz in Bremen (Symbolfoto): In einem Imbiss wird ein schwuler Mann attackiert, jetzt ermittelt der Staatsschutz.Vergrößern des Bildes
Sicherheitsbeamte im Einsatz in NRW (Archivfoto): Dort starb ein Teenager durch Schüsse einer Polizei-MP. (Quelle: Kirchner-Media/imago-images-bilder)

Nach den tödlichen Schüssen auf einen 16-Jährigen wirft ein Polizeiwissenschaftler den Beamten Systemfehler bei den Ermittlungen vor.

Bei einem Polizeieinsatz in Dortmund wurde am Montag ein 16-jähriger Jugendlicher mit einer Maschinenpistole von der Polizei erschossen. Er soll die Beamten mit einem Messer angegriffen haben. Der Jugendliche starb trotz Notoperation in einem Krankenhaus. Am Dienstagabend gingen Menschen in Dortmund auf die Straße und demonstrierten gegen Polizeigewalt.

Insgesamt vier Menschen sind in den vergangenen zwei Wochen durch Polizeikugeln ums Leben gekommen. In Frankfurt erschoss die Polizei am vergangenen Dienstag einen 23-Jährigen, in Köln einen 43-Jährigen und in Oer-Erkenschwick starb am Sonntag ein Mann infolge eines Polizeieinsatzes. Die Debatte über Polizeigewalt in Deutschland ist erneut entbrannt.

Der Polizeiwissenschaftler Rafael Behr wirft der Polizei im t-online-Interview einen gravierenden Systemfehler bei den Ermittlungen im eigenen Haus vor. Daten und Fakten würden in der Regel vor der Öffentlichkeit unter Verschluss gehalten. "Mit der Beauftragung mit Ermittlungen durch Nachbardienststellen folgen wir seit Jahren einer Routine, um letztendlich Widerspruchsfreiheit zu erzielen", sagt er.

t-online: Herr Professor Behr, erst Frankfurt, dann Köln und nun Dortmund – in jüngster Zeit scheinen sich tödliche Schüsse aus Waffen der deutschen Polizei zu mehren. Wie bewerten Sie die Lage?

Rafael Behr: Klar ist, dass in Deutschland Todesfälle nach Polizeischüssen immer noch zur Ausnahme gehören. Aktuell befinden wir uns mit Frankfurt, Köln und Dortmund vermutlich an einem Peak.

Das Problem ist aber bei solchen Fällen ein ganz anderes – und zwar der Umgang der Behörden mit internen Ermittlungsverfahren. In der Vergangenheit sind Staatsanwaltschaft und Polizei in der Regel äußerst restriktiv mit der Veröffentlichung von Ermittlungen im eigenen Haus umgegangen. Die Daten und Fakten werden für die Öffentlichkeit unter Verschluss gehalten. Das Verfahren, dass andere Behörden aus Neutralitätsgründen ermitteln, ist extrem veraltet. Man kennt sich in den unterschiedlichen Abteilungen.

Zur Person

Rafael Behr ist seit 2008 Professor für Polizeiwissenschaften an der Akademie der Polizei Hamburg. Dort lehrt er Kriminologie und Soziologie und leitet die Forschungsstelle Kultur und Sicherheit.

Das heißt, Sie werfen der Polizei einen Systemfehler vor?

Ja. Solche Fragen muss sich die Polizei gefallen lassen. Das ist wichtig für sie, um auch eventuellen Munkeleien zu entgehen. Sie werden sich sicherlich noch an Hanau erinnern können. Hier hat die Polizei gar keine Möglichkeit, sich von den Anschuldigungen zu befreien. Sie kann immer nur sagen: 'Wir waren es nicht'. Mit der Beauftragung mit Ermittlungen durch Nachbardienststellen folgen wir seit Jahren einer Routine, um letztendlich Widerspruchsfreiheit zu erzielen.

Im Fall des getöteten 16-Jährigen in Dortmund übernimmt jetzt das Kommissariat in Recklinghausen

Je kleiner der Kreis, desto gefährlicher ist es. Lassen Sie mich das klarstellen, wir haben in Deutschland seitens der Polizei sicherlich keine Tötungskommandos durch die Städte wandern, ich gehe auch nicht davon aus, dass zum Beispiel der tödliche Kopfschuss in Frankfurt beabsichtigt war. Ich kann Ihnen allerdings jetzt schon sagen, wohin der Diskurs gehen wird. Denn in der Vergangenheit wurde bei Ermittlungen in den eigenen Reihen stets eine Thematik ins Spiel gebracht, die klar getrennt werden müsste: die Opferrolle der Polizisten.

Die zuständigen Polizeigewerkschaften werden das Thema "Gewalt an der Polizei" auch im kommenden Diskurs wieder bewusst als Retourkutsche nehmen. Damit wird die Außenwelt mundtot gemacht. Kritiker werden damit kleingeredet. Dann werden die Diskussionen wieder in Richtung von mehr Straftaten und Todesopfern fallen. Die Folge: Der Ruf nach mehr Tasern wird laut. Warten Sie es ab.

Ein Taser ist in Dortmund sogar zum Einsatz gekommen – offenbar ohne Erfolg. Als die tödlichen Schüsse fielen, sollen elf Beamte vor Ort gewesen sein. Hätte der Todesfall denn überhaupt verhindert werden können?

Bei dieser Überzahl von Einsatzkräften hätte er sogar verhindert werden müssen. Ich vermute aber, dass es vor Ort keine klare Führungsstruktur gab und dass keiner wusste, was jetzt zu tun ist.

Am Tag, als der 16-Jährige in Dortmund erschossen wurde, starb auch im benachbarten Kreis Recklinghausen ein Mann bei einem Polizeieinsatz. Hier ermittelt nun wiederum die Polizei Dortmund. Offenbart sich der von Ihnen beschriebene Systemfehler in diesem Fall besonders deutlich?

Man nimmt hier immer an, weil man nicht unmittelbar zusammenarbeite, sei Neutralität gesichert. Aber man kennt sich doch durch gemeinsame Ausbildung und Fortbildung. Das soll nicht heißen, dass alle unter einer Decke stecken. Aber neutral ist etwas anderes.

In Frankfurt erschoss die Polizei einen drogensüchtigen Somalier, in Köln einen Mann nach einer Zwangsräumung und in Dortmund einen 16-Jährigen aus dem Senegal. Könnte man hier von einem Muster von Menschen am Rande der Gesellschaft sprechen?

Ja, aber das ist nicht neu. Psychisch Kranke, Demente, Wohnungslose, Drogenabhängige, sie alle stehen auch am Rande der Gesellschaft. Ich glaube, es geht im Wesentlichen nicht um die Randproblematik. Mir scheint vielmehr das Klima in der Polizei selbst dafür verantwortlich zu sein, dass sich immer mehr Polizisten und Polizistinnen mental aufrüsten. Durch die Anschlagsserie in Paris und die Amok- und Terrortrainings ist ein Klima der Bedrohung in der Polizei entstanden. Früher hatte man zum Beispiel nur im Ausnahmefall eine Maschinenpistole auf dem Funkwagen. Heute ist das die Regel. Und wenn man die Dinger hat, dann setzt man sie auch irgendwann ein.

Wie ließe sich das System verbessern?

Werfen wir mal einen Blick nach Dänemark oder England, dort gibt es schon längst neutrale Ermittlungsstellen mit Ermittlungskompetenz und allen nötigen Befugnissen. Das brauchen wir auch in Deutschland.

Wie geht man als Polizeibeamter mit dem Bewusstsein um, jemanden erschossen zu haben?

Schwer zu sagen, wie es dem Polizisten jetzt geht. Das müssen Sie die Psychologen fragen. Auch kann man das zum jetzigen Zeitpunkt schwer beurteilen, weil man Jahre später Erscheinungen haben kann. In der Regel versuchen Kolleginnen und Kollegen den Betroffenen zu stabilisieren. Aber das hier möchte ich an dieser Stelle ebenfalls betonen: Polizisten tragen als eine der ganz wenigen Berufsgruppen in der Öffentlichkeit Waffen. Das ist so lange unproblematisch, wie sie nicht eingesetzt werden. Das ist jetzt anders: Juristisch werden sie vielleicht freigesprochen, aber trotzdem müssen sie mit der Last leben, ein Menschenleben ausgelöscht zu haben.

Vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Telefonat mit Professor Rafael Behr, University of Applied Police Sciences Hamburg
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