"Wir können vom Osten lernen" Chaos bei AfD-Treffen: Das geschah in dem Saal
Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Der "Bürgerdialog" der AfD in der Essener Philharmonie wird von Störaktionen und Protesten überschattet. Am Rednerpult schwören die Politiker Rache.
Die AfD möchte wissen, wer zu ihrer Veranstaltung kommt – ganz genau. Zweimal wird der Ausweis kontrolliert, zweimal überprüft, ob der Name auf der Gästeliste steht, ehe Einlass gewährt wird. Taschenkontrolle und Metalldetektor inklusive. "Wir sind hier in einem Sicherheitstrakt", sagt ein Besucher zu einem anderen und lacht.
Man müsse "dennoch damit rechnen, dass etwas passiert", raunt er ihm zu. Recht behalten soll er. Noch vor wenigen Wochen hatte in Essen der Bundesparteitag der AfD stattgefunden, bei dem es unter anderem zu einer Beißattacke und mehreren gewaltsamen Ausschreitungen kam. Auch beim sogenannten "Bürgerdialog" der Partei an diesem Donnerstag in der Essener Philharmonie haben Gegendemonstranten ihren Protest angekündigt.
Doch erst einmal empfängt die AfD mit Brezeln, Wraps und Softgetränken. In den Fluren der Essener Philharmonie, wo es sonst um Mozarts Zauberflöte oder Büchners Woyzeck geht, tauscht man sich über die "links-grüne Presse", den Anschlag von Solingen und die Wahlen im Osten aus. Dass vor den Toren der Philharmonie hunderte Demonstranten gegen die Veranstaltung Stimmung machen, dringt zu den Veranstaltungsteilnehmern nur dumpf durch.
"Werden sehen, wie weit die Brandmauer hält"
Ab und an schaut einer aus dem Fenster herab und sagt etwas wie: "Bald haben wir hier auch Wahlergebnisse wie in Thüringen, wartet ab." Ungeachtet der Trillerpfeifen und Techno-Beats, die die Demonstrierenden nahe der Philharmonie ertönen lassen, eröffnet AfD-Mann Hauke Finger pünktlich um 19 Uhr die Veranstaltung.
Die drei Bundestagsabgeordneten Kay Gottschalk, Stefan Keuter und Martin Renner sind gekommen, um über ihre Arbeit zu berichten. 290 Anmeldungen hat es gegeben, voll besetzt ist der Saal allerdings nicht – und er wird sich im Laufe der Veranstaltung massiv leeren: Unter die Gäste hat sich eine zweistellige Zahl von Aktivisten gemischt. Zunächst will die AfD sich selbst feiern – für die Wahlergebnisse im Osten selbstverständlich.
"Wir werden sehen, wie weit die Brandmauer hält", ruft AfD-Mann Keuter den Gästen zu. Es brenne auf der anderen Seite, "aber nicht bei uns", sagt er weiter. Jetzt müsse es darum gehen, das Momentum der Landtagswahlen auch zur Bundestagswahl zu tragen. Und auch Abgeordneter Gottschalk befindet: "Wir können vom Osten jetzt lernen." Keuter hoffe, dass der Osten in den Westen überschwappe.
Störaktionen durch linke Aktivisten
Erwähnenswert findet die AfD die Proteste, die sich vor ihrer Veranstaltung abspielen, dann aber doch. Es sei nur ein "versprengtes Häuflein", was da draußen demonstriere und weit entfernt von der "breiten Masse der Gesellschaft", behauptet Keuter. Für die Proteste gegen den "Bürgerdialog" hatten sich am Abend rund 4.000 Menschen vor der Philharmonie versammelt, die Mitarbeiter der Einrichtung hatten zudem mit einem Brief gegen die Veranstaltung demonstriert. Erst vor wenigen Wochen hatten Zehntausende Menschen gegen den AfD Parteitag in Essen demonstriert.
Kurz nach Beginn des "Bürgerdialogs" ertönen dann im Veranstaltungssaal laute Piepsgeräusche – Aktivisten haben Störsender aktiviert, die über den Boden schießen. Tumult bricht aus, Personen werden gewaltsam des Saales verwiesen. Die Veranstaltung wird unterbrochen, Sicherheitskräfte durchsuchen die Räumlichkeiten. Unter Stühlen angeklebt oder auf dem Boden waren circa 25 Mini-Elektrogeräte, die schrille Töne erzeugten. Sie werden auch "Taschenalarm" genannt. Die Sicherheitsleute steckten die Geräte in Wassergläser, um den Alarmton zu stoppen.
"Zukunft gehört uns"
Nachdem die Veranstaltung wieder angelaufen ist, dauert es nicht lange, da ertönen die Störsender erneut. "Es gibt kein Recht auf Nazi-Propaganda", schreit eine Aktivistin durch den Saal, ehe auch sie aus dem Saal gezerrt wird. Das Szenario wiederholt sich weitere viermal. AfD-Mitglieder reagieren empört, wollen wissen, wie das passieren konnte. Von "linken Spacken" und "Kindereien" ist die Rede.
Bei der AfD ist man sich trotzdem sicher: "Die Zukunft gehört uns". Das, was man verspricht, ist dabei altbekannt: Mit der AfD werde es keine Einwanderung in Sozialsysteme geben, geschützte Grenzen, Gas wieder aus Russland, ein Ende des "Genderwahns", wie die AfD ihn nennt.
AfD schwört Rache
Die Sprache der Abgeordneten scheint unter den Gästen niemanden mehr zu erschrecken: Man werde "aufräumen" und alles von "Kopf auf Fuß stellen". Man werde die Verantwortlichen der Corona-Politik "ausfindig machen und ihrer gerechten Strafe zuführen", man werde "die süße Rache kalt genießen". Weiter sagt Keuter: "Wir werden die Altparteien spüren lassen, wie es ist, wenn man keine Rolle im Bundestag mehr spielt."
Auch der Abgeordnete Martin Renner, der als Letzter seine Rede hält, spielt das Wahlprogramm herunter: Man müsse Kulturschaffenden die Gelder streichen, aus der WHO austreten, den "Deep State zerstören" – es eben "genauso wie Trump" machen. "Germany First" sei das Gebot der Stunde.
Philharmonie in Regenbogen-Farben
Nach den Reden der Abgeordneten, als die AfD sich endlich sicher wähnt, nur noch "unter sich zu sein", ergreift ein Mann im braunen T-Shirt in der Fragerunde das Wort. "Ich wollte einmal sagen, dass ich froh bin, heute Abend hier zu sein, weil dann kann ich mir alle eure scheiß Gesichter merken, ihr scheiß Nazis", ruft er ins Mikrofon und wird aus dem Saal gebracht.
"Zum Glück haben wir den jetzt auch entsorgt", kommentiert einer der AfD-Politiker auf der Bühne. Draußen wird der Aktivist von den Demonstranten, die auch nach Anbruch der Dunkelheit geblieben sind, gefeiert. Hinter ihm leuchtet die Philharmonie in Regenbogen-Farben.
- Eigene Eindrücke
- Mit Informationen der Nachrichtenagentur dpa