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Kiel: So hat das Straßenmagazin Hempels eine Kielerin aus der Krise geführt


"Wie die Luft zum Atmen"
Wie das Straßenmagazin Hempels eine Kielerin gerettet hat

Von Sven Raschke

15.01.2021Lesedauer: 4 Min.
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Katharina Baier verkauft das Straßenmagazin Hempels in Kiel: Diese Arbeit gibt ihr einen wichtigen Halt im Leben.Vergrößern des Bildes
Katharina Baier verkauft das Straßenmagazin Hempels in Kiel: Diese Arbeit gibt ihr einen wichtigen Halt im Leben. (Quelle: Sven Raschke/leer)

Der Blick auf die Straßenmagazin-Verkäufer vorm Supermarkt erregt bei vielen Mitleid. Doch die Hempels-Verkäuferin Katharina Baier aus Kiel liebt ihre Arbeit. Denn die hat sie aus der Krise geführt.

Wenn man Katharina Baier bei knapp über Null Grad in der feuchten Kälte vorm Rewe im Knooper Weg in Kiel stehen sieht, die Hempels-Magazine umklammert, das Gesicht hinter der Maske versteckt, mag man es nur schwer glauben – aber dies ist eine Erfolgsgeschichte. Seit gut zwei Jahren verkauft die 49-Jährige das Straßenmagazin. Aufs Geld ist sie angewiesen. Die knappe Frührente reicht zum Überleben nicht.

Und trotzdem ist der Job für sie viel mehr als nur ein Zuverdienst. "Ich brauche diese Arbeit mittlerweile wie die Luft zum atmen", sagt sie. Denn Katharina Baier leidet unter einer psychischen Krankheit. Die regelmäßige Arbeit hilft ihr dabei, "stabil zu bleiben", wie sie sagt.

Durch die Arbeit ist sie ein Teil der Gemeinschaft

Auf die Frage, ob die Arbeit hart sei, antwortet Katharina Baier vergnügt: "Nein! Das macht mir Spaß! Ich fühle mich wie eine Empfangsdame bei Rewe." Bei den Marktmitarbeitern seien sie und ihr Freund, mit dem zusammen sie die Hempels-Ausgaben verkauft, vollkommen akzeptiert. Kein Wunder, einen Großteil des Geldes gebe sie auch gleich wieder im Supermarkt aus. "Alle begrüßen einen, alle sind freundlich", sagt Katharina Baier.

Und das treffe auch auf die meisten Kunden zu. Neulich habe ein junger Mann sie beide gefragt, ob sie Hunger hätten. "Der fand es unpersönlich, uns einfach nur Geld zu geben. Da haben wir ihm eine Einkaufsliste gemacht, und er hat er uns alles gebracht."

Für manche sei sie auch Kummerkasten, so Baier. Viele kämen regelmäßig, einfach nur, um sich zu unterhalten. Und auch für sie selbst sei der Job vor allem eine psychologische Stütze. "Das ist natürlich ein gutes Zubrot. Ohne Hempels würde ich ganz schön in die Röhre gucken. Aber mir geht es nicht so sehr ums Geld." Katharina Bayer ist manisch depressiv. "Wenn ich mich durch meine Krankheit sehr einsam fühle, hilft es mir. Selbst wenn die Leute nichts geben und einfach nur mit mir schnacken. So bin ich in die Gemeinschaft eingebunden. Und nicht allein."

Die psychische Krankheit erschwerte reguläre Arbeit

Während ihres Lebens habe Katharina Bayer sehr einsame Phasen erlebt. Nach dem Abitur zog sie aus Bad Oldesloe mit Zwischenstopp in Hamburg nach Kiel, begann Anfang der 90er-Jahre ein Studium in Pädagogik und Sozialpsychologie. "Ich hab aber ziemlich gebummelt und viel gefeiert", erinnert sich Baier. Aus dem Abschluss wurde nichts. Stattdessen zog sie 1999 nach Flensburg, fing ein Lehramt-Studium an, doch zugleich kam sie wegen ihrer manisch-depressiven Erkrankung erstmals in Behandlung. "Immer, wenn das Semester losging, musste ich ins Krankenhaus", so Baier. Auch dieses Studium verlief so im Sande.

2002 bekam sie Zwillinge, später einen weiteren Sohn. Baier wechselte zwischen Arbeitslosigkeit und kleineren Jobs. 2006 ließ sie sich zur Pflegekraft ausbilden, arbeitete immer wieder mal in diesem und anderen Bereichen, doch immer wieder kamen längere Krankheitsphasen dazwischen.

Vor einigen Jahren wurde sie schließlich in die Geschlossene Psychiatrie eingewiesen. Zwar wurde sie nach einem Jahr (und mehreren Ausbrüchen) wieder freigelassen. Doch mit den regulären Jobs war es bald darauf erst einmal vorbei. "Das Jobcenter hat mich wegen meiner Krankheit gezwungen, in Rente zu gehen, obwohl ich weiter arbeiten wollte", so Katharina Baier. "Ich hatte aber nur sehr wenig in die Rente eingezahlt."

Ein geregeltes Leben dank Hempels-Verkauf

Hempels war für Katharina Baier die Rettung. "Mein Freund hat mich dazu gedrängt", sagt sie. Rolf Pohle ist seit 18 Jahren Hempels-Verkäufer. "Das schönste ist die Tagesstruktur", so Baier. Von Montag bis Samstag stehen die beiden täglich drei bis vier Stunden vorm Rewe im Knooper Weg. "Ich erlebe mich ganz anders", so Baier. Es fühle sich einfach toll an, wenn man "sein Tagewerk erledigt hat und alles hat, was man braucht." Seit sie die Zeitschriften verkaufe, sei sie psychisch stabil.

Katharina Baier ist sicher nicht die typische Hempels-Verkäuferin. Längst nicht jeder der insgesamt 140 Verkäufer in Kiel dürfte mit so viel Freude an die Arbeit gehen. "Aber den typischen Fall gibt es auch gar nicht", so Cathrina Neubert, zuständig für die Verkäuferbetreuung bei Hempels in Kiel. Die Zahl der Verkäufer sei besonders mit dem plötzlichen Anstieg der Geflüchtetenzahlen 2015 stark gestiegen. Seitdem seien viele Verkäufer aus dem osteuropäischen Raum dazugekommen. "Manche sind mit Leidenschaft und Herzblut dabei", so Neubert, andere seien schlicht aufs Geld angewiesen. Das allein reiche aber nicht zum Überleben. "Fast alle unsre Verkäufer beziehen Sozialleistungen oder sind in Rente."

Weniger Hempels-Verkäufe durch Corona

Corona hat auch für die Hempels-Verkäufer seine Auswirkungen. Im März und April vergangenen Jahres gab es einen sechswöchigen Verkaufsstopp. Seitdem seien durch die Abstandsregeln, die geschlossenen Geschäfte und die geringeren Passantenzahlen auch die Einnahmen der allermeisten Hempels-Verkäufer deutlich zurückgegangen, so Neubert. Einige würden normalerweise durch Kneipen und Geschäfte touren, um ihre Exemplare zu verkaufen. Das ist vorerst weggefallen.

Katharina und Rolf hatten ebenfalls solch eine Kneipen- und Café-Runde. Doch auch bei den Corona-Auswirkungen stellen die beiden offenbar eine Ausnahme dar. Zwar seien auch bei ihnen die Verkäufe etwas zurückgegangen, so Katharina Baier. "Aber wir haben ja eine treue Leserschaft." Während des Verkaufsverbots im vergangenen Jahr hätten sie mit ihrem stattdessen aufgestellten Spendenschild sogar mehr zusammenbekommen als sonst durch den Zeitschriftenverkauf. "Wir hatten so viel Solidarität erlebt, das war ganz enorm!", erinnert sie sich. Und um Weihnachten und Silvester seien die Leute hilfsbereit gewesen wie nie. "Das war Bombe! Die Leute haben uns durch die Krise getragen."

Natürlich ist auch bei Katharina Baier nicht alles Eitel Sonnenschein. Nicht schön sei es, "wenn Leute verächtlich auf einen herabblicken." Immer wieder mal kämen auch "Freaks, die einen anpöbeln" oder "aggressive Bettler", die sich vor einem hinhockten und die Kunden verschreckten. Aber sie bleibe dann immer ganz locker. Bei den schlimmeren Fällen kämen ihr die Supermarkt-Angestellten zu Hilfe. "Ich liebe diese Arbeit", sagt Katharina Baier. "Ich hoffe, ich kann das machen, bis ich in die Kiste springe."

Das Straßenmagazin feiert im Februar dieses Jahres sein 25-jähriges Bestehen. Hempels wurde 1996 als Selbsthilfeprojekt von Kieler Wohnungslosen gegründet, um Menschen, die von Armut betroffen oder bedroht sind, zu unterstützen. Ursprünglich hatten die Wohnungslosen selbst die Beiträge geschrieben. Seit 2003 sind dafür hauptsächlich professionelle Redakteure zuständig.
In und um Kiel gibt es 140 Verkäufer. Verkaufen darf, wer sich finanziell am Existenzminimum bewegt. Der Verkaufende muss einen Hempels-Ausweis sichtbar am Körper tragen und darf während des Verkaufs weder Drogen konsumieren, berauscht sein oder betteln.
Wohnungslose stellen laut Hempels-Redaktion mittlerweile nur noch einen kleineren Anteil der Verkäufer dar. Viele sind demnach suchtabhängig, haben eine Behinderung oder eine psychische Problematik. Seit 2015 sind viele Einwanderer aus dem osteuropäischen Raum dazugekommen.
Die Auflage für ganz Schleswig-Holstein beträgt 20.000 Exemplare im Monat. Wie viel ein Verkäufer im Schnitt verkauft oder verdient, lässt sich laut der Hempels-Redaktion nicht sagen, schwankt aber stark je nach Verkäufer.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Katharina Baier
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