t-online - Nachrichten für Deutschland
t-online - Nachrichten für Deutschland
Such IconE-Mail IconMenü Icon



Menü Icon
t-online - Nachrichten für Deutschland
HomeRegionalKöln

Prozess in Köln um fast verhungertes Mädchen: Sie konnte nicht mehr laufen


Prozess in Köln
Familienhelferin über Mädchen: "Bei mir gingen alle Alarmglocken los"


Aktualisiert am 30.04.2021Lesedauer: 4 Min.
Nachrichten
Wir sind t-online

Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.

Zum journalistischen Leitbild von t-online.
Die Angeklagte sitzt zwischen Anwälten im Gerichtssaal: Der 24-jährigen Mutter eines fast verhungerten Mädchens wirft die Staatsanwaltschaft versuchten Mord vor.Vergrößern des Bildes
Die Angeklagte sitzt zwischen Anwälten im Gerichtssaal: Der 24-jährigen Mutter eines fast verhungerten Mädchens wirft die Staatsanwaltschaft versuchten Mord vor. (Quelle: Oliver Berg/dpa)

Im Verfahren um das fast verhungerte Mädchen in Bergheim treten immer mehr Fragezeichen zur Vorgeschichte der Tragödie auf. Zum Beispiel, warum eine Familienhelferin abgezogen wurde, nachdem sie offen das Risiko von Kindeswohlgefährdung ansprach.

Ein Kind verhungert fast, seine Mutter sitzt vor Gericht – doch bei der Aufarbeitung der Hintergründe dieser Tragödie entsteht mehr und mehr der Eindruck, dass ein Teil der traumatischen Erfahrungen des kleinen Mädchens hätte verhindert werden können, wenn die vielen Pädagogen und Sozialarbeiter im Umfeld der Familie kontinuierlicher und aufmerksamer gearbeitet hätten.

"Man hätte gute Beziehungsarbeit leisten können, aber es war viel Hickhack. Es gab immer wieder neuen Beziehungsaufbau", prangerte im Zeugenstand eine 34-jährige Heilerziehungspflegerin an: "Die Familie nahm die Termine mit mir zuverlässig wahr. Es ging eigentlich um normale Themen, die in der Familienhilfe üblich sind." Überwiegend hätten Finanzen und Erziehungsfragen eine Rolle gespielt.

Mit fester Stimme sprach sie Missstände an, die sie im Zusammenhang mit der Betreuung der Familie beobachtet hatte. So zum Beispiel die Tatsache, dass ihr Vorgesetzter sie bereits nach drei Monaten als Familienbetreuerin von dem Fall abzog: "Über einen Zeitraum von drei Monaten sagen wir in der Familienhilfe: So lange kann eine Familie auch gut Sachen vorspielen."

Zum Hintergrund dieser Entscheidung erklärte die Heilerziehungspflegerin, dass in der Familienhilfe unterschieden werde zwischen dem "grünen" Bereich, in welchem Familien Hilfen freiwillig annähmen, und verschiedenen Formen des "grauen" Bereichs. Dort ordne man Fälle von beginnender, möglicher und bestehender Kindeswohlgefährdung ein. Ihr Vorgesetzter selbst habe die Familie in einem Graubereich verordnet. Das hatte sie der Familie mitgeteilt, die sich daraufhin beschwerte.

Nach Elternbeschwerde wurde kritische Helferin ersetzt

"Von meinem Chef bekam ich dann vor der Familie einen Einlauf, in dem er mich bloßstellte und sagte, so etwas würde ich nicht noch einmal sagen", berichtete die Zeugin. Im Anschluss war eine andere Kollegin für den Fall zuständig. Infolge eines Jobwechsels gab diese allerdings auch nach wenigen Monaten die Begleitung der Familie ab. Später war noch eine dritte Kollegin im Spiel.

Die Heilerziehungspflegerin sagte aus, dass sie durch eine Teambesprechung im Jahr nach ihrem Einsatz erfahren habe, dass die Hilfen ihrer Kolleginnen eingestellt würden, obwohl bekannt war, dass das Jobcenter infolge von Konflikten seine Leistungen gestrichen hatte. Nur die Miete wurde noch gezahlt, zusätzlich gab es Lebensmittelgutscheine.

"Es fällt mir nicht leicht, das zu sagen, aber ich dachte damals: Mist, warum werden denn jetzt alle Hilfen eingestellt? Meiner Meinung nach hätte man das nicht tun dürfen. Nicht vor dem Hintergrund, dass da Leistungen nicht liefen und dass zwei Kinder in der Familie lebten", so die Einschätzung der Zeugin. Über den Ex-Mann der Angeklagten sagte sie: "Mich mochte er nicht, weil ich Marokkanerin bin. Das sagte er mir auch und erzählte Geschichten über Hitler und den Autobahnbau."

Kinderärztin soll "Pfand" für Terminvereinbarung verlangt haben

Von einer Kinderarztpraxis sagte sie: "Dort hatte die Familie mehrere Vorsorgeuntersuchungen nicht wahrgenommen. Daher wollte die Kinderärztin Termine nur noch gegen ein Pfand von zehn Euro abmachen. Das lehnte aber die Familie ab." Die Folge: Weitere Untersuchungen wurden verschleppt, obwohl die Kleine längst als auffällig entwicklungsverzögert galt.

Auch die fatalen Folgen der Entscheidung seitens der katholischen Kita, die Kinder aufgrund schuldig gebliebener Essensbeiträge vom Mittagessen auszuschließen, wurden durch die Darstellung der Zeugin sichtbar: "Aufstehen, die Kinder in die Kita bringen, sie wieder abholen, sie noch mal hinbringen, sie noch mal abholen – das war wohl einfach zu viel Mühe."

Das gelte nicht nur für die Angeklagte, sondern auch für ihren Ex-Mann. Beide habe sie als "sehr hilflos" erlebt, die Angeklagte außerdem "in ihrem Verhalten noch sehr kindlich. Sie hatte nicht viel Lebenserfahrung und wirkte wie ein Teenager." In Gegenwart des Ex-Mannes habe sie außerdem eingeschüchtert gewirkt.

"Es war ihr Glück, dass wir uns begegnet sind"

Die Angeklagte, die sonst meist ohne erkennbare Mimik am Prozessgeschehen teilnahm, nickte bei den Aussagen der Zeugin häufig. "Schön, Sie wiederzusehen", soll sie gesagt haben, als sie 2020 in einer neuen Konstellation wieder Kontakt mit der Heilerziehungspflegerin hatte: Die arbeitete zu diesem Zeitpunkt in einer integrativen Kita, in welche das entwicklungsverzögerte Mädchen aufgenommen werden sollte. "Das hat mich ein bisschen erstaunt. Die meisten freuen sich eher nicht, ihre Familienhelferin wiederzusehen. Am Ende war es aber ihr Glück, dass sie wieder auf mich getroffen ist."

Aufgrund ihrer Vorerfahrung mit der Familie reagierte die 34-Jährige nämlich sofort alarmiert, als ihr Anfang August 2020 die Aussagen der jungen Mutter verdächtig erschienen. "Sie sagte, ihre Tochter könne noch nicht zur Eingewöhnung kommen. Sie könne nicht mehr laufen, habe aber erst in einem Monat einen Termin beim Neurologen. Ich sagte: Wenn ein Kind nicht mehr laufen kann, muss es sofort zum Neurologen! Sie meinte, bei Fachärzten würde es eben so lange dauern – aber bei mir gingen sofort alle Alarmglocken los."

Die frühere Familienhelferin informierte ihre Chefin, dass das Jugendamt eingeschaltet werden müsse: "Ich will mir gar nicht ausmalen, was sonst passiert wäre."

Verwendete Quellen
  • Eigene Beobachtungen im Gerichtssaal
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...

ShoppingAnzeigen

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...



TelekomCo2 Neutrale Website