Fachkräftemangel trotz Bevölkerungsboom Warum auch in einer wachsenden Stadt die Arbeitskräfte fehlen
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Keine deutsche Großstadt wächst so schnell wie Leipzig. Verantwortlich dafür sind junge, gut ausgebildete Menschen. Trotzdem gibt es auch hier einen Fachkräftemangel. Warum ist das so?
Leipzig gilt als lebenswerte Stadt, die jedes Jahr wächst. Doch der Zuzug kann den Fachkräftemangel nicht ausgleichen, die örtliche Agentur für Arbeit verzeichnet auch in Leipzig die höchste Zahl offener Stellen seit der Wiedervereinigung.
Dabei ist Leipzig seit einigen Jahren die am schnellsten wachsende Großstadt in Deutschland. Bei der letzten Zählung 2021 hatte die Stadt 609.869 Einwohner, im Jahr 2010 waren es noch 508.000. Eine ganze Großstadt ist hier in zehn Jahren einfach mal dazugekommen.
Gleichzeitig wurde die Stadtbevölkerung jünger, das Durchschnittsalter sank von 43 auf 42 Jahre. Die meisten der Neuleipziger kommen mit Abitur, Berufsausbildung oder Hochschulabschluss. Warum gibt es hier trotzdem zu wenig Arbeitskräfte?
Am frühen Nachmittag gibt die Hafenbar am Südplatz in der Nähe der belebten Leipziger Karl-Liebknecht-Straße ein ruhiges Bild ab. Die Stühle liegen mit den Beinen nach oben auf den Tischen der leicht verwinkelten Kneipe, aus der Küche klingt leises Geklapper. An einem der Tische sitzt Cesare Stercken, der die Bar seit neun Jahren betreibt, und zählt das am Vorabend eingenommene Bargeld.
Wirt Stercken: Sein Koch kommt extra aus Hamburg angereist
Als die Gastronomie nach dem Lockdown wieder öffnen durfte, seien die Gäste schnell zurückgekommen, sagt Stercken. Nicht aber das Personal. "Wenn ich früher einen Kellner oder Koch brauchte, musste ich nur ein Schild in eins der Fenster hängen, und meistens nicht mal das", erzählt Stercken. In der Regel habe jemand aus seinem 15-köpfigen Team einen Freund gekannt, der Arbeit gesucht habe.
Seit den Schließungen der Gastronomie während der Pandemie suchten viele aber lieber einen Job in anderen Tätigkeitsfeldern, meint der Wirt. Und die, die schon während der Lockdowns woanders unterkommen waren, seien eben dortgeblieben. "Wegen der Arbeitszeiten", schätzt Cesare Stercken. In der Gastronomie fängt man spät an – hat aber auch erst spät Feierabend.
Trotzdem könnte Sterckens Kneipe gerade für junge Leute und Studierende ein perfekter Ort sein, um flexibel Geld zu verdienen. Doch es meldet sich niemand mehr. Nun habe er zum ersten Mal Gesuche über die Agentur für Arbeit in Leipzig inserieren lassen. Außerdem zahle er jetzt schon den ab Herbst geltenden erhöhten Mindestlohn. "Gebracht hat das nix", sagt er.
Leipzig: Historische Höchstzahl an freien Stellen in der Stadt
Tatsächlich verzeichnet die Agentur für Arbeit in Leipzig eine seit der deutschen Wiedervereinigung fast schon historische Anzahl freier Stellen, gemessen an der Zahl arbeitssuchender Menschen. Im Juni 2022 standen 19.700 Personen ohne Arbeit 10.700 freien Arbeitsstellen gegenüber.
Noch im Juni 2017 dagegen kamen über 22.700 Arbeitssuchende auf etwa 6.600 gemeldete Arbeitsstellen. Ein Arbeitgeber, der so wie Cesare Stercken offene Stellen über die Agentur für Arbeit ausschreibt, muss im Durchschnitt 226 Tage warten, bis er sie besetzen kann. Im Jahr 2017 waren es nur 68 Tage.
Frederic Schulze von der Leipziger Agentur für Arbeit spricht von einem klassischen Problem von Angebot und Nachfrage. "Wir nennen das auch einen Mismatch. Das heißt, das, was Arbeitssuchende mitbringen, passt nicht zu dem, was Arbeitgeber suchen", erklärt er. Die Tätigkeiten in vielen Branchen seien immer komplexer geworden. Dabei verfügten etwa 40 Prozent der Arbeitssuchenden über keine abgeschlossene Berufsausbildung. "Den einfachen Helfer, den gibt es als Job praktisch gar nicht mehr", sagt Schulze.
Und so wird in vielen unterschiedlichen Branchen nach gut ausgebildeten Arbeitnehmern gesucht. Es fehlt an Anlagenmechanikern für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik, Mechatronikerinnen, Mitarbeitern in der Logistik und Menschen, die in der Produktion arbeiten.
Besonders offensichtlich zeigt sich der Mangel im Handwerk: Laut des Fachkräftemonitorings der sächsischen Wirtschaft weisen etwa 60 Prozent der sächsischen Handwerksunternehmen vakante Stellen auf. Dabei bleibt jede zweite offene Stelle länger als sechs Monate unbesetzt. Aber auch im Dienstleistungssektor, im Handel, in der Pflege und eben in der Gastronomie gibt es einen Stellenüberschuss.
Cesare Stercken steht deshalb in seiner zweiten Bar, der Meerjungfrau im Leipziger Westen, selbst in der Küche und macht die Tapas. "So komme ich wenigstens meiner Leidenschaft nach: dem Kochen", meint er. Sein Koch in der Hafenbar kommt seit drei Jahren jeden Sommer extra aus Hamburg angereist.
Für den Servicebereich hat der Wirt der Hafenbar in diesem Sommer Leute eingestellt, die weniger Erfahrung mitbringen, als ihm eigentlich lieb wäre. "Auch in der Gastronomie und gerade unter den Köchen gibt es ein Nachwuchsproblem", so Stercken.
Leipzig: Der demografische Wandel reicht als Erklärung nicht aus
Der Fachkräftemangel und der fehlende Nachwuchs werden meist in einem Atemzug mit dem demografischen Wandel genannt. Jedes Jahr gehen mehr und mehr Menschen aus der sogenannten Babyboomer-Generation in Rente und es kommen nicht genug junge Arbeitnehmer nach. Dadurch entstehe die Personalknappheit, so die Erklärung.
Aber trifft das in einer Stadt wie Leipzig überhaupt zu? Immerhin gilt die Stadt als wachsend, es ziehen jedes Jahr mehr Menschen hin als weg. Darunter sind auch viele junge Leute.
So einfach sei die Rechnung leider nicht, erklärt Tim Leibert geduldig am Telefon. Er forscht am Leibniz-Institut für Länderkunde in Leipzig zum demografischen Wandel. "Erstens hat sich der Zuzug nach Leipzig seit einigen Jahren abgeschwächt und zweitens wollen die meisten jungen Leute, die in die Stadt kommen, studieren. Dadurch wird der Personalmangel in Handwerk und Industrie nicht behoben", erzählt der Geograf.
Aber er sagt auch: Leipzig stehe noch deutlich besser da als andere deutsche Regionen, vor allem als andere ostdeutsche Regionen. "Leipzig ist ein attraktiver Wohn- und Lebensort, das ist ein klarer Standortvorteil", sagt Leibert. Das Grundproblem aber bleibe bestehen: Insgesamt sei die Alterung der Bevölkerung in Ostdeutschland nämlich deutlich weiter vorangeschritten als in Westdeutschland.
Auch im jungen Leipzig geht ein Drittel der Beschäftigten bald in Rente
In Sachsen-Anhalt beispielsweise sind laut Untersuchungen von Leibert und seinen Kollegen 40 Prozent der Beschäftigten über 50 Jahre alt. Sie gehen also in den kommenden 15 Jahren in Rente und verschwinden damit vom Arbeitsmarkt. Auch im relativ jungen Leipzig und dem anliegenden Landkreis Nordsachsen betrifft das immerhin 33 Prozent der Beschäftigten. Leibert sieht darin ein ernsthaftes Hemmnis für das Wirtschaftswachstum der kommenden Jahre.
Er schlägt vor allem zwei Gegenmaßnahmen vor: "Ausbildungen attraktiver machen, indem die Karrierechancen besser aufgezeigt werden, und die Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte aktiv fördern."
Beides befürwortet auch Frederic Schulze von der Agentur für Arbeit und fügt hinzu: "Außerdem halten wir Umschulungen und die Integration von Beschäftigungslosen für äußerst wichtig". Denn Unternehmen seien auch immer öfter bereit, Quereinsteigern eine Chance zu geben, wenn sie entsprechend motiviert sind und sich weiterbilden lassen.
- Eigene Recherchen
- leipzig.de: "Einwohnerzahlen und Bevölkerungsentwicklung in Leipzig"