"Muss das sein?" Wenn Jungs lange Haare haben
Kräftige glänzende Haare symbolisieren schon seit Jahrtausenden Gesundheit und Stärke. Trägt man sie offen, so wird das quer durch alle Völker in einen direkten Zusammenhang mit Sexualität gebracht. Einer der Gründe, warum auch viele Jungs ihre Haare wachsen lassen.
Die Barbaren trugen ihre Haare genauso lang wie die alten Griechen oder sämtliche Indianerstämme. Im 18. Jahrhundert trug man(n) sie als Zopf, die Dandys des 19. Jahrhunderts waren stolz auf ihre langen Locken und im 20. Jahrhundert dominierten die Pilzköpfe und die Hippies mit ihrem haarigen Ausdruck von Protest.
Heutzutage scheint es in unserer Kultur Männlein wie Weiblein freigestellt, wie man die Haare tragen will. Trotzdem gibt es immer wieder Zeitgenossen, die sich daran stören, wenn Jungs lange Haare haben.
Sollten langhaarige kleine Jungs eigentlich Töchter werden?
Sind die Kinder noch ganz klein, wird den Müttern häufig unterstellt, sie hätten wohl lieber ein Mädchen gehabt. Diese Erfahrung hat auch Marion gemacht. Dass Julian mit seinen überschulterlangen Haaren für ein kleines Mädchen gehalten wurde, war alltäglich.
Die dauernden Kommentare ihrer Mitmenschen ärgerten Marion so sehr, dass sie sich irgendwann doch entschloss, bei dem fast Dreijährigen die Schere ansetzen zu lassen. "Mir hat es richtig leidgetan um die Babylöckchen, die waren damit für immer verschwunden. Aber ich wollte nicht, dass es zu Hänseleien kommt und Julian darunter leiden muss, dass wir ihn mit den langen Haaren so goldig fanden."
Lange Haare bei Jungs setzen deutliche Signale
Der ursprüngliche Zweck der Körperbehaarung - zum Beispiel das Aufrichten der Nackenhaare beim Kampf - ist vor etwa zwei Millionen Jahren verloren gegangen. Heute gibt es differenziertere Möglichkeiten, sich von Angesicht zu Angesicht wichtig zu machen.
"Übrig geblieben ist unsere Kopfbehaarung. Die allerdings hat ihre ursprüngliche Funktion als Signalgeber beibehalten", erklärt der Biologe Professor Ralph Dawirs gegenüber t-online.de. Der Autor von Büchern wie "Riskante Jahre" oder "Endlich in der Pubertät" verweist darauf, dass Haare ein überaus wirkungsvolles Ausdrucksmittel des Menschen sind.
"Natürlich spielt Mode immer eine Rolle. Aber gerade bei Jungs steckt viel mehr dahinter. Langes, ungebändigtes Haar signalisiert Unangepasstheit, Verwegenheit und vor allem die Bereitschaft zum Ausleben der Sexualität."
Kleine Brüder imitieren die Großen
"Jungs in der Pubertät wollen natürlich den Mädchen imponieren", bestätigt auch Friseurmeisterin Anja Geißer. "Nicht zuletzt deswegen haben sich die Justin-Bieber-ähnlichen Frisuren in letzter Zeit durchgesetzt: vorne ein schräger, langer Pony, der Rest halblang und gut durchgestuft."
Dieser Trend setzt umso früher ein, je enger der Kontakt zu älteren Jungs ist. Kleine Brüder kommen oft schon in Kindergarten oder Grundschule auf die Idee, sich die Haare "cool" wachsen zu lassen. "Bereits Fünfjährige trotzen ihren Eltern inzwischen einen langen Pony ab. Ich habe das gerade erst bei meinem eigenen Sohn erlebt", schmunzelt die Friseurin.
Erzwungenes Schneiden kann zu seelischen Schäden führen
Wenn Jungs lange Haare tragen, dann nicht immer zur Freude aller Lehrer. Erst vor wenigen Jahren hat der Rektor einer texanischen Schule drei Jungs vom Unterricht ausgeschlossen, weil sie sich weigerten, zum Friseur zu gehen und sich damit nicht an die Kleidervorschriften der Schule hielten. Das Argument des US-Rektors: Männliche Schüler hätten die Haare kurz zu tragen, denn das diente der Hygiene und der Disziplin und würde auf ein erfolgreiches Leben in der Erwachsenenwelt vorbereiten.
Wie wichtig Haare dem Träger als bewusstes Ausdrucksmittel von Individualität und Freiheit sind, zeigt die Tatsache, dass erzwungenes Abschneiden oder Scheren schon immer als Schmach und Erniedrigung empfunden wurden. "Als tiefer Eingriff in das persönliche Freiheitsempfinden und Selbstwertgefühl, mit hohen Risiken für psychische Gesundheit und die Persönlichkeitsentwicklung", erklärt Dawirs.
Der Vorhang vor dem Gesicht hat so manchen Vorteil
Soweit wie in Amerika würde in Deutschland sicher kein Lehrer gehen, aber auch hier fragt sich mancher, ob es denn sein muss, dass seine Schüler plötzlich zu einem Großteil hinter ihrer Haarpracht verschwinden. Dabei ist es doch, gerade in unsicheren Zeiten, ein ganz wunderbares Versteck.
"Für Pubertierende in der Phase des Aufbruchs erscheint die Haarlänge als unverhandelbar. Diese innere Haltung mag sich dann zunehmend entspannen und den verschiedenen modischen und sonstigen zweckmäßigen gesellschaftlichen Normen unterworfen werden", sagt Dawirs.
Männer wirken mit langen Haare jünger, Jungs älter
Behält ein Mann gepflegte lange Haare weit über die Pubertät hinaus, dann gilt er entweder als Intellektueller, als Künstler, Rebell oder als Sunnyboy. "Auf jeden Fall wirken Männer mit langem Haar geheimnisvoll und strahlen Jugendlichkeit und Lebenskraft aus. Ganz nebenbei macht langes Haar bei Männern jünger", kann man auf der Seite einer bekannten Haarkosmetikproduktmarke lesen.
Das Rebellische beziehungsweise den Typ des coolen Sportlers oder Stars wollen auch Jungs verkörpern. Sie allerdings wirken durch die langen Haare älter und nicht jünger. Für eine Weile schließlich das erklärte Ziel.